Die grosse Forderung – ein Leben in Schalom

Gesundheit umfasst biblisch all das, was ein erfülltes Leben ausmacht. In die Vorstellungskomplexe von Leben und Schalom eingebunden, kommt dem Gesundsein und dem Kranksein theologische Bedeutung zu.

Im Neuhebräischen wünscht sich, wer zusammen trinkt, nicht «Prosit», «zum Wohl» oder «Santé», sondern «le-chajim» – «Aufs Leben!». Dieser Sprachgebrauch spiegelt sehr gut, was auch alt- und neutestamentliche Bibeltexte in zahlreichen Variationen durchbuchstabieren: Die Sphäre des Lebens besitzt zentrale Bedeutung. Gott, so die grosse Zuversicht, ist ein Gott des Lebens, nicht des Todes. Zur Seite des Lebens gehört es, sich darüber freuen zu können, dass man wohlauf, wohlgenährt, gut umsorgt, von anderen anerkannt, mit anderen versöhnt, mit gelingenden Unternehmungen beschäftigt und sicher vor Übergriffen ist. Höchstes Gut und grösster Traum bleibt ein Dasein und ein gemeinsames Unterwegssein in Schalom. Der Begriff Schalom umfasst dabei alles Genannte, meint also nicht nur Frieden (im Gegensatz zu Krieg), wie der Begriff oft übersetzt wird. Im Neuen Testament und in jedem Vaterunser, das gebetet wird, ist vom anbrechenden Gottes- oder Himmelreich die Rede. Auch damit wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass sich die aktuelle Welt in einen Lebensraum verwandelt, der von Schalom erfüllt ist und damit körperliches Wohlbefinden im weitesten Sinn gewährt.

Tod als Gegenpol zum Leben

Kehrseite des Lebens ist der Tod. Auch er hat biblisch seine Sphäre. Dazu gehören Unglück, Sorgen und Leid, die durch Krieg, Integritätsverlust, Naturkatastrophen oder Krankheiten ausgelöst sind. In hellenistisch-römischer Zeit (ca. ab dem 3. Jh. v. Chr.) hat auch die Vorstellung von dämonischen Kräften Eingang in biblische Texte gefunden. Als Dämonen deuten diese Texte von aussen kommende Kräfte, die unschuldige Menschen in Besitz nehmen, um sie zu plagen. Auch Dämonen, so die Vorstellung, ziehen Menschen in die Todessphäre hinein. Erzählungen wie das Tobitbuch im Alten Testament oder diejenigen Evangelientexte, die davon erzählen, wie Jesus Menschen von Dämonen erlöst, veranschaulichen nicht nur, dass Gott klar über solchen bösen Mächten steht. Sie erzählen damit zugleich von Gott als (Gegen-)Macht, die sich aktiv auf die Seite der menschlichen Opfer stellt, um sie aus Integritätsverlust und sozialer Isolation zu befreien. So wird die junge Frau Sara im Tobitbuch (vgl. Tob 3,7–17; 7–8) mit göttlicher Hilfe aus den Fängen des Dämons Aschmodai gerettet. Dieser verkörpert eine von Gier und Eifersucht getriebene Liebe, die Sara keinen Raum zur Entfaltung lässt. Einen Verlobten nach dem anderen tötet er, was dazu führt, dass sich Sara am liebsten umbringen möchte. Von Aschmodai befreit, gewinnt sie mit Tobias einen Partner, der sie wirklich liebt. Damit bekommt ihr Leben eine Zukunftsperspektive. Der göttliche Bote, der das junge Paar glücklich zusammenbringt, heisst nicht zufällig Raphael, «Gott heilt».

Krankheit, die Sinn ergibt?

Die Frage nach dem Warum von Leid und Krankheit reicht menschheitsgeschichtlich weit hinter die biblischen Texte zurück. Das belegen ägyptische und mesopotamische Quellen aus dem 3. und 2. Jh. v. Chr. Nicht nur in diesen Texten, sondern auch innerbiblisch ist eine Vielstimmigkeit zu beobachten, was die Antworten betrifft. Grundsätzlich kommt Gesundheit als Segen, Krankheit als Fluch in den Blick. Dennoch werden Krankheit und Tod in der Bibel nicht durchwegs als negative Gegebenheiten bewertet. Gerade im Alten Testament wird die Sterblichkeit der Menschen als anthropologische Grundkonstante vorausgesetzt und angenommen. Ein Sterben in hohem Alter, nach einem geglückten Leben, gilt als Ideal. Auch die Erfahrung, dass beim Älterwerden Beschwerden hinzukommen, die es z. B. nötig machen, an einem Stock zu gehen, wird weder negiert noch ausdrücklich bedauert. Nach damaligen Wertvorstellungen durfte man im Alter alt werden, konnte dafür aber die im Leben gesammelte Weisheit in den Sozialverband einbringen. Die Vorstellung, dass Alter und körperliche Schwäche im guten Sinn zusammengehören, bringt das Buch Sacharja in einem beeindruckend schlichten Bild auf den Punkt. Der Stadt Jerusalem, die 587 v. Chr. zerstört worden war und danach jahrzehntelang ruinenhaft dalag, wird prophezeit: «Greise und Greisinnen werden wieder auf den Plätzen Jerusalems sitzen; jeder hält wegen des hohen Alters seinen Stock in der Hand. Und die Plätze der Stadt werden voller Knaben und Mädchen sein, die auf ihren Plätzen spielen.» Die göttliche Stimme fügt an: «Wenn das zu wunderbar ist in den Augen des Restes dieses Volkes in jenen Tagen, muss es dann auch in meinen Augen zu wunderbar sein?» (Sach 8,4–6). Hier ist – als Utopie präsentiert – eine Gesellschaft im Blick, in der Frauen und Männer alt und gebrechlich werden dürfen, mit gesunden, spielenden Kindern um sie herum, die das Leben als neue Generation weitertragen.

Hat recht, wer gesund ist?

Der Frage nach dem Sinn von Gesundheit und Krankheit widmen sich im Besonderen die alttestamentlichen Bücher der Weisheit und verschiedene Klagepsalmen. Das Buch der Sprichwörter repräsentiert eine Position, die klassische Weisheit genannt werden kann. Zuversichtlich vertritt es die Grundüberzeugung, dass es Menschen, die gerecht und gut leben, im Leben gut ergehen wird, während umgekehrt ein boshafter und ungerechter Lebenswandel negativ auf einen zurückfällt. Das bekannte Sprichwort «Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein», verdichtet diese Vorstellung griffig (vgl. Spr 26,27; Sir 27,26; Ps 7,16). Das verdiente Übel kann dabei auch die Form einer Krankheit annehmen.

«Was habe ich falsch gemacht?», ist eine Frage, die beschäftigen kann, wenn man erkrankt ist. Aus seelsorgerlicher Perspektive wäre es heute anmassend, Kranken zu antworten, dass sie dem tatsächlich genau nachgehen sollten, da der Krankheit gewiss ein Fehlverhalten zugrunde liegt, das einzugestehen wäre. Genau diesen Rat erhält der im besten Alter stehende, aber aufgrund seiner Krankheit für andere eklig und stinkig gewordene Ijob (vgl. Ijob 8,1–7). Wer das Ijob-Buch liest, weiss vom Erzählzusammenhang her, dass Ijob als untadeliger Mensch in diese schlimme Lage gekommen ist. Somit führt das Ijob-Buch unter anderem vor, wie problematisch es ist, leichtfertig und selbstgerecht über Kranke zu urteilen. Als Buch, das gegenüber der klassischen Weisheit eine kritisch-skeptische Weisheit vertritt, hält es ferner dazu an, sich grundsätzlich in Demut zu üben, was die menschliche Erkenntnisfähigkeit angeht. Ähnlich wie das Buch Kohelet pocht es darauf, dass für Menschen nicht immer alles erschliessbar und verständlich ist, da Gottes Horizont deutlich grösser ist als der menschliche Horizont. Im weiteren Sinn entzieht dies denn auch allen Voten den Boden, wonach Naturkatastrophen oder Epidemien eindeutig als göttliche Strafe für moralische Missstände in der Gesellschaft zu deuten sind.

Gott, Wunden verbindend und heilend

In biblischen Bildern und Erzählungen ist sich Gott nicht zu schade, selbst pflegerisch und ärztlich Hand anzulegen. Die neutestamentlichen Erzählungen über die Heiltätigkeit von Jesus, der in Gottes Vollmacht handelt, sind Teil davon. Im Ezechielbuch verbindet sich das Bild des Pflegers mit dem Bild des Hirten, der vorbildlich zu seinem Vieh schaut: «Das Verlorene werde ich suchen, das Vertriebene zurückbringen, das Verletzte verbinden, das Kranke kräftigen» (Ez 34,16). Dass es Gott auch ums Heilen seelischer Verletzungen geht, bringt z. B. Psalm 147 zum Ausdruck, wo es heisst: «[JHWH] heilt, die gebrochenen Herzens sind, er verbindet ihre Wunden» (Ps 147,3). Gerade am gesamtbiblischen Reflexionskomplex um Gesundheit und Krankheit ist zu erkennen, dass die neutestamentlichen Texte Gott nicht neu erfunden haben. Göttliches Wirken kann düster bis hin zum Verzagen sein. Nicht alles vermögen wir einzuordnen (vgl. Mt 26,39.42; 27,46; Mk 14,35–36; 15,34; Ps 22). Umgekehrt setzt die Bibel beharrlich Signale, die darauf vertrauen lassen, dass Gott auf der Seite derjenigen Menschen steht, die unverschuldet Leid und Unglück zu ertragen haben. Lebens- fülle, wie man Schalom übersetzen könnte, bleibt eine biblische Grundforderung. Wird sie ernstgenommen, stellt sie weit über den Bereich der Gesundheitspolitik hinaus Weichen.

Veronika Bachmann


Veronika Bachmann

Dr. Veronika Bachmann (Jg. 1974) ist promovierte Alttestamentlerin und als Dozentin für Altes Testament und Bibeldidaktik an der Theologischen Fakultät Luzern tätig. Zu einem ihrer Forschungsschwerpunkte gehören die frühesten Engelfall-Erzählungen.