«Was von anderswoher kommt …»

Im Zusammenhang mit Migration wird oft von den Fremden oder der fremden Kultur gesprochen. Doch was macht einen Menschen zu einem «Fremden»?

Möglicherweise wird die Zeit, in der wir jetzt leben, von der späteren politikwissenschaftlichen und historischen Forschung als «Epoche der Angst vor dem Fremden» beurteilt werden. Eine bereits restriktive Asylgesetzgebung und Migrationspolitik wird in verschiedenen Ländern Europas noch weiter verschärft; politische Parteien, die Angst vor «den Fremden» schüren, gewinnen Wahlen, ohne Argumente zu liefern; gleichzeitig werden kulturelle und religiöse Identitäten auf eine Weise inszeniert, die überrascht und verblüfft.

Xenophobe (fremdenfeindliche Anm. d. Red.) Positionen, die bis vor einigen Jahren höchstens am Stammtisch oder nur hinter vorgehaltener Hand geäussert wurden, werden offenbar von breiten Kreisen der (politischen) Öffentlichkeit geteilt, während Menschen, die sich (nach wie vor) für Flüchtlinge, für ethnische Minderheiten oder für Gruppen, die vom «Othering»1 rechtspopulistischer Diskurse in besonderer Weise betroffen sind (wie z. B. Frauen mit Kopftuch, Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache usw.), einsetzen, in zunehmendem Mass die «öffentliche Meinung» gegen sich haben. In dieser Situation, in der jegliche Stellungnahme zu «Fremden» sofort in eine bestimmte Schublade eingeordnet wird und unversöhnliche Positionen für oder gegen «Fremde» etabliert werden, kann die Rückbesinnung auf eine philosophische Tradition, die sich die Auseinandersetzung mit dem, «was sich zeigt» (dem «Phänomen»), den Vergleich von Perspektiven der Wahrnehmung sowie die Kritik von Vorurteilen auf ihre Fahne geschrieben hat, zur Wiedergewinnung einer differenzierten Debatte über «das Fremde» beitragen.

Die Suche nach dem Verborgenen

Die Phänomenologie – also die Reflexion dessen, «was sich zeigt» und «wie sich etwas zeigt» – wurde von Edmund Husserl (1859–1938) als philosophische Methodik ausgearbeitet, die auf die Psychologie, Soziologie, Religionswissenschaft, Philosophie und Theologie des 20. Jahrhunderts massgeblichen Einfluss ausübte. Die an sich einfache Einsicht, dass ein und dasselbe dem Betrachter aus unterschiedlichen Perspektiven auf je andere Weise «erscheint», führte Husserl zur Frage nach dem Zusammenhang zwischen erkennendem Denken und erkanntem Objekt. Phänomenologie nimmt das, was sich zeigt, nicht einfach hin, sondern leitet dazu an, das «Selbstverständliche», Gewohnte, vielleicht auch Suggestive und Dominante «einzuklammern», wie Husserl sagt, und unermüdlich nach dem zu suchen, das durch unsere Vorurteile, Denkgewohnheiten oder einfach auch durch Unaufmerksamkeit aus dem Blick geriet.

Das Fremde im Eigenen

An diese phänomenologische Schulung der Aufmerksamkeit, die immer wieder gegen die Macht eingespielter Plausibilitäten, Traditionen und Autoritäten ankämpft, knüpft der Philosoph Bernhard Waldenfels (*1934) an und er führt das (selbst-)kritische Instrumentarium der Differenzierung und Erkenntniskritik, wie sie Husserl in seiner Phänomenologie entwickelte, mit Blick auf «das Fremde» weiter. Mit seinem Buch «Der Stachel des Fremden» (1990) eröffnet Waldenfels, der von 1976 bis 1999 an der Universität Bochum Philosophie lehrte, eine intensive Auseinandersetzung mit jenem Phänomen, das zwar als gesellschaftliches «Problem» bezeichnet wurde, aber in philosophischen Lexika bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum Berücksichtigung fand: mit dem Fremden.

Als differenzierter Denker, der unterschiedliche phänomenologische Traditionen in Deutschland und Frankreich studierte, machte Waldenfels von Anfang an deutlich, dass «das Fremde» je nach diskursiver Ordnung und Erkenntnisperspektive anders erscheint: «So viele Ordnungen, so viele Fremdheiten» (Topographie des Fremden, 33). Schon die substantivierende Rede über «das Fremde» verleitet zum Trugschluss, es gäbe eine Realität des «Fremden», der man begegnen könnte wie einem exotischen Tier im Zoo. Es zeigt sich aber: Was sich für den einen als erschreckend fremd erweist, ist für den anderen möglicherweise vertraut. «Das Fremde» gibt es schlicht und einfach nicht, sondern Erfahrungen der Irritation, der Abweichung, des Entzugs. In Anknüpfung an Husserls bekannte Umschreibung der Fremderfahrung als «bewährbarer Zugänglichkeit des original Unzugänglichen» (Hua I, 144) sieht Waldenfels Fremdes dadurch gegeben, dass es sich entzieht; es ist kein «Anderes», das «neben» dem «Eigenen» vorkommt, sondern etwas, das im Eigenen wie ein Stachel präsent ist – anwesend, insofern es abwesend ist.

Pathos und Response

Immer wieder weist Waldenfels kritisch auf die politische und intellektuelle Geschichte der europäischen Tradition hin, die «das Fremde» angleichen, «normalisieren» oder verdrängen wollte: durch Kolonialisierung, Unterdrückung, «Erklärung» oder «Integration». Genau dadurch geht nach Waldenfels aber das verloren, was «das Fremde» auszeichnet: sein Anspruch. Waldenfels spricht hier vom «Pathos» und meint damit jene eigentümliche Erfahrung, dass uns etwas widerfährt, bevor wir darauf aufmerksam werden. Das Pathos des Fremden versetzt uns in den Dativ, es stösst uns zu – egal, ob sich diese Befremdung als spektakuläre Erfahrung ereignet (wie etwa der Schock eines Terroranschlags) oder als unscheinbare Entwicklung (wie zum Beispiel die Erfahrung, dass uns Menschen aus unserer Umgebung allmählich fremd werden). Dieses «pathische Voraus» einer Befremdung fordert uns zu einer Antwort heraus; Pathos und Response stellen die Brennpunkte jenes Erfahrungsfeldes dar, das die Phänomenologie des Fremden beschreiben will – allerdings nicht als reziproke Pole eines Zusammenhangs, sondern als Elemente einer «responsiven Differenz», in der das, was geantwortet wird, niemals das einholt, worauf geantwortet wird. Unsere Antwort auf die Erfahrung des Fremden ist keine «Erklärung» oder «Beruhigung» dieses Fremden, sondern der Versuch, sich vom Fremden in Anspruch nehmen zu lassen.

Das Fremde als Chance

Die Asymmetrie von Pathos und Response ist ein Grundcharakteristikum der Fremderfahrung sowie einer «responsiven Vernunft», die sich vom Anspruch des Fremden bewegen und verändern lässt. Waldenfels betont: «Es handelt sich um ein Reden und auch um ein Tun, das nicht bei sich selbst, sondern anderswo beginnt und deswegen stets Züge einer fremden Eingebung an sich trägt» (Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 45). Das Fremde betrifft uns «von anderswoher», es entspringt nicht unserer eigenen Vorstellung, unserer Initiative, unseren Wünschen, sondern beansprucht uns, stellt uns infrage, mutet uns Krisen und Irritationen zu. Die Zumutung des «Fremden» will nicht «verstanden» oder zurechtgebügelt werden, sondern uns zu neuen Antworten und einer Veränderung unserer Aufmerksamkeit führen. «Was von anderswoher kommt, was mich als Widerfahrnis trifft» (Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen, 240), kann uns durch diese Befremdung Perspektiven eröffnen und Erfahrungen ermöglichen, die wir unter «normalen Umständen» nie gemacht hätten.

Im Licht dieser Zumutungen, auf die der Diskurs der Phänomenologie des Fremden hinweisen möchte, erschliesst sich nicht zuletzt auch der Anspruch der biblisch bezeugten Botschaft neu: Glauben heisst nicht einfach, dem Vertrauten zu folgen, sondern sich von Irritationen, Krisen und Beunruhigungen herausfordern zu lassen, sich selbst und auch Gott zuweilen als «fremd» zu erfahren – und gerade so zu neuen Antworten zu finden. Kennzeichen des christlichen Glaubens ist nicht die identitäre «Erklärung» der Welt, sondern die responsive Offenheit gegenüber dem, was uns begegnet – denn: «Glaube kommt vom Hören» (Röm 10,17).

Franz Gmainer-Pranzl

 

1 Als Othering bezeichnet man die Differenzierung und Distanzierung der Gruppe, der man angehört, von anderen Gruppen (Anmerkung der Redaktion).

Buchempfehlung: «Der Anspruch des Fremden als Ressource des Humanen» von Gmainer-Pranzl, Franz und Schmidhuber, Martina (Hg.). Frankfurt am Main 2011. ISBN 978-3-631-61411-2, CHF 62.−, www.peterlang.com
Aus verschiedenen Perspektiven und Fachdisziplinen wird aufgezeigt, inwiefern eine Auseinandersetzung mit dem Anspruch des Fremden grosse Chancen für die persönliche Entwicklung und das politische Handeln eröffnet.


Franz Gmainer-Pranzl

Univ.-Prof. DDr. Franz Gmainer-Pranzl (Jg. 1966) stammt aus Steyr (Oberösterreich). Er studierte Theologie und Philosophie in Linz, Innsbruck und Wien (Dr. theol. 1994, Dr. phil. 2004) und habilitierte 2011 im Fach Fundamentaltheologie in Innsbruck. Seit 2009 ist er Professor und Leiter des Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen an der Universität Salzburg. Er ist Priester der Diözese Linz.