Was ist Familie? Eine Bestandsaufnahme

In einer veränderten Gesellschaft suchen Menschen nach neuen Formen des Zusammenlebens. Dabei sind die Unterschiede von aussen oft nicht gleich zu entdecken.

Das Thema «Familie» lässt niemanden unberührt1. Mal dient sie als nostalgische Verklärung der guten alten Zeit, von der man sich wünscht, dass «alles bleibt, wie es nie war»2, mal geht es um handfeste ökonomische Interessen, mal ist sie Projektionsfläche für Gesellschaftskritik oder für soziale Utopien. Gibt es sie heute überhaupt noch: die Familie?

Erwartungen an Familie

Familien und familiale Beziehungen sind immer beides zugleich: private intime Lebensgemeinschaft und gesellschaftliche Institution. Zahlenmässig vorherrschend ist immer noch das Familienmodell der 1950er-Jahre: Mutter und Vater sind heterosexuell, miteinander verheiratet, die biologischen Eltern ihrer Kinder und meistens verdient der Vater als Alleinerwerbstätiger das Familiengeld, während sich die Mutter hauptsächlich um Kinder und Haushalt kümmert und oft auch noch um ihre eigenen Eltern oder gar auch um die Schwiegereltern. Mittlerweile aber hat sich die traditionelle bürgerliche Kleinfamilie – selbst in der Art und Weise, wie sie heute gelebt wird – stark verändert. «Gesellschaftliche Normen», so der Soziologe und Familienforscher Eric Widmer von der Universität Genf, «werden nicht mehr so stark geteilt, Normen dafür, was es heisst, ein gutes Familienmitglied zu sein, was es heisst, Mutter, Vater oder Kind zu sein. Es gibt eine grössere Vielfalt von Familienmodellen und von Ansprüchen, die man an die Familie stellt.»3 Zum Beispiel fänden heute viel weniger Menschen, dass ein Vorschulkind darunter leidet, wenn seine Mutter arbeiten geht. Oder, dass ein Kind nicht glücklich sein könne mit gleichgeschlechtlichen Eltern. Und die Familie wird viel stärker als früher als persönliches Projekt empfunden, das nur so lange verfolgt wird, wie es das Individuum weiterbringt.

Fünf aktuelle Modelle

Unabhängig von den neuen Familienkonstella- tionen, z. B. Patchworkfamilien oder sogenannten Regenbogenfamilien mit gleichgeschlechtlichen Eltern, zeigt sich, dass auch die scheinbar klassischen Familien recht unterschiedliche Ausprägungen in der Familiengestalt, etwa hinsichtlich der Rollenverteilung in der Familie, aufweisen, wie die Langzeitstudie «Ehe und Partnerschaft zwischen Norm und Realität» von Eric Widmer belegt.4 In einem Zeitraum von bisher mehr als 20 Jahren befragten und befragen er und sein Team in regelmässigen Abständen per Telefon über 1500 Paare – verheiratete und unverheiratete Paare mit und ohne Kinder – aus der ganzen Schweiz zu ihrem Zusammenleben. Mithilfe eines umfangreichen Fragekatalogs wird versucht, unter anderem darüber Aufschluss zu bekommen, wie stark sich die Partner miteinander verbunden fühlen, wie ähnlich sie einander sind, wie sie sich die Arbeit teilen und wie Gerechtigkeit für alle herzustellen ist. Hierzu gehört auch die Frage, wie möglichst viel Freiheit für den Einzelnen gesichert werden kann. Die befragten Paare lassen sich, so Eric Widmer, grob in fünf Familienmodelle einordnen:

Modell Bollwerk
Kennzeichnend ist hier eine geradezu militärische Organisation (in) der Familie, die in sich geschlossen ist und welche Verwandtschaft, Freunde, Bekannte und Institutionen jeder Art bewusst auf Distanz hält, da die Familienmitglieder ihr Zusammenleben als etwas sehr Privates erachten und ihren privaten Lebensraum, das Intimsystem Familie nach aussen unbedingt schützen wollen. Die Kernfamilie hat Priorität zum einen vor der Aussenwelt, zum anderen aber auch vor den individuellen Wünschen der einzelnen Familienmitglieder. Dieses Modell zeichnet sich darüber hinaus durch eine klare Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau aus. Die Frau ist die Hausherrin, die mit der Geburt des ersten Kindes ihre Berufstätigkeit radikal reduziert und sich auf den Haushalt und die Kinderbetreuung konzentriert. Der Mann hingegen verdient ab dem ersten Kind den Lebensunterhalt allein und mischt sich nur sehr wenig in Kindererziehung und Haushalt ein. Laut Eric Widmers Studie leben und funktionieren rund ein Sechstel der Familien nach diesem Modell.

Modell Zusammenschluss oder Assoziation
Dieses Modell weist eine grössere Gleichstellung zwischen Mann und Frau auf. Die Autonomie der Partner ist zentral und Kontakte mit Verwandten, Freunden, Vereinen und Institutionen erachten beide als unverzichtbar. Die Idee der Privatisierung zum Schutz der Kernfamilie gibt es hier nicht. Ganz im Gegenteil: Impulse von aussen, sei es durch den Beruf, durch Bekannte, durch Freundschaften oder individuelle Aktivitäten sind fester Bestandteil dieses Familienmodells. Innerhalb der Kernfamilie ist vieles Verhandlungssache, wobei die Regeln von den Partnern gemeinsam immer wieder neu definiert werden. Dieses Modell ist weit verbreitet – mehr als ein Viertel der Stichprobe von Eric Widmers Studie fiel darunter –, vor allem bei kinderlosen Paaren und bei solchen mit guter Ausbildung und höherem Einkommen.

Modell Cocon
Dieses ähnelt dem Modell Bollwerk, insofern das in der Familie Gemeinsame zentral ist und gleiche Geschmäcker und Ansichten dominieren. Allerdings weniger als Abschottung gegen aussen, sondern als Rückzugsort der Erholung, als Ort wechselseitiger Unterstützung und emotionaler Zuwendung. Die Rollen zwischen den Partnern sind zudem weniger starr. Der Vater bringt sich mehr in die Kinderbetreuung und im Haushalt ein, und die Idee, der Platz der Frau sei zu Hause, am Herd, bei den Kindern, ist hier viel weniger stark ausgeprägt. Dieses Modell findet sich etwa bei einem Sechstel der meist jüngeren Familien.

Modell Parallele
Die Partner in solchen Familien – ein weiteres Sechstel der Familien favorisiert dieses Modell – leben gleichsam in verschiedenen, je eigenen Welten. Gemeinsame Aktivitäten sind ihnen nicht so wichtig und die Rollen zwischen Mann und Frau sind klar verteilt: Die Frau ist für Haushalt und Kindererziehung sowie für die emotionale Beziehungsarbeit zuständig, der Mann dagegen für das Arbeitsleben. Er entscheidet und ist der Macher.

Modell Gefährten
In diesem Modell – es macht ein weiteres Viertel der Familien aus – gibt es nur wenige Unterschiede in den Rollen von Mann und Frau. Die Familienmitglieder sind im Umgang untereinander und nach aussen sehr offen und die Kernfamilie unternimmt viel gemeinsam, und dies im bewussten Austausch mit der Aussenwelt, indem zum Beispiel Freunde eingeladen werden und indem das Familienleben mit den Freunden geteilt wird.

Bollwerk – Zusammenschluss – Cocon – Parallele und Gefährten, das sind fünf sehr unterschiedliche Beziehungsmodelle von Familie. Die Familien in Eric Widmers Langzeitstudie verharren allerdings nicht zwingend in einem dieser fünf Familienmodelle, sondern manche Familie wechselt das Modell, wenn sich ihre Lebensumstände verändern. So steigen zum Beispiel bei der Ankunft des ersten Kindes viele Paare vom Modell Zusammenschluss auf das Modell Bollwerk oder auf das Modell Cocon um.

Fazit: Die Familie gibt es nicht, sondern es gibt ganz verschiedene Gestaltformen von Familie, die sich nach unterschiedlichen Modellen, denen unterschiedliche Werte zugrunde liegen, organisieren. Aus familiensoziologischer Sicht, so Eric Widmer, «sollte man nicht von der Familie im Singular reden, wie wir es oft tun, sondern von Familien im Plural. So unterschiedlich sind die Erwartungen an die Familie.»5 Und dies hat gesellschaftliche Relevanz, da die Modelle sich zum Beispiel in den Scheidungsraten unterscheiden. Denn während die stark auf persönliche Autonomie pochenden Modelle Zusammenschluss und Parallele die höchsten Risiken für Trennungen aufweisen, sind die Modelle Bollwerk und Cocon weniger anfällig, am stabilsten erweist sich das Modell Gefährten.

Manfred Belok

 

1 Ausführlicher in: Belok, Manfred, Familie. Zur Realität pluraler Lebensformen heute, in: Durst Michael/Jeggle-Merz Birgit (Hg.), Familie im Brennpunkt, Theologische Berichte 37, Fribourg 2017, 116–153.

2 Vgl. Schweizerisches Landesmuseum, Familien – Alles bleibt, wie es nie war, hrsg. von Senn Matthias, Zürich 2008.

3 Eric Widmer in SRF 2 Kultur vom 12. Juli 2016. www.srf.ch/sendungen/kontext/staatsproblem-familienmodell.

4 Vgl. Kurzfassung der Studie: Widmer, Eric, Ehe und Partnerschaft zwischen Norm und Realität, in: Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (Hg.), Swiss Academies Reports, Bern 2016, 10–20.

5 Widmer, SRF 2 Kultur, a. a. O.

 


Manfred Belok

Dr. theol. Dipl.-päd. Manfred Belok (Jg. 1952) ist ordentlicher Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Theologischen Hochschule Chur. Er ist verheiratet und mit seiner Frau Eltern für vier Töchter.