Bleiern hängt die Wolkendecke an den Hängen des Grossvenedigers (3666 m). Die monochrome Welt aus dunklen Felsblöcken und bleichen Neuschneeresten verliert sich im Grau des Nebels. Heute stehe ich vor der ersten Passüberschreitung des Weges, die an die 3000-Meter-Marke reicht. Noch verweile ich in der lauwarmen Stube der Lenkjöchelhütte und blicke aus dem Fenster.
Die Hütte öffnete vor zwei Tagen. Seit gestern nimmt sie Gäste auf. Ich war ihr erster Gast in dieser Saison, gefolgt von einer italienischen Jugendgruppe, die nach einem lärmenden Abend noch schläft. In der Ruhe des Morgens verbreitet der elektrische Ölradiator gleichmässig sein hochfrequentes Surren. Ich versuche, meine Sachen zu trocknen – oder wenigstens aufzuwärmen – nach dem bislang nassesten und kältesten Tag der Tour: im Schneesturm über den Krimmler Tauern, im Nieselregen runter zur Heilig-Geist-Kirche im Südtiroler Ahrntal und hoch Richtung Umbalt-Törl an der Grenze zu Osttirol. Dort soll es heute hingehen für den letzten Wegabschnitt durch Österreich. Der zweite Monat auf dem Weg brachte Höhen und Tiefen, Glücksgefühle und Grenzerfahrungen. Nach einem herrlichen Tag über das Steinerne Meer, auf jenem Weg, der im August bei der Almer Gebirgswallfahrt zum Königssee beschritten wird, folgten zusehends schwülere und monotonere Tage bis nach Innsbruck. Hier gab es den ersten echten Ruhetag: Waschen, Reparaturen, Füsse hochlagern. Gerade als der Weg wieder alpiner wurde, erfolgte der Wettersturz. Das zehrt an den Kräften; und doch reicht eine einzige schöne Landschaftsstimmung, um den Geist zu heben. Auch ein Wegkreuz im Schneesturm, in seinen Konturen eisig nachgezeichnet und hervorgehoben, bewegt das Herz. Der zweite Monat scheint mir härter als der erste – nicht körperlich, aber mental. Dieser Weg fordert mich mental früher, als ich erwartet hätte. Und doch, wenn übermorgen die Sonne scheinen sollte, sind die Strapazen vergessen und die Freude wird überwiegen – für den Moment wenigstens. Wir Menschen sind so. Ein Kurzzeitgedächtnis.
Solange wir in allem nur IHN nicht vergessen, dem wir bei Sonne, Regen, Schnee stets gleichermassen Lob, Dank und Ehre schulden. «Alles Geschenk. Alles Gnade...» Mit Frösteln trete ich hinaus und stapfe auf das erste grosse Schneefeld zu. Was ich noch nicht weiss: Vor mir liegt der bislang gefährlichste Auf- und Abstieg dieses Weges. «Alles Geschenk. Alles Gnade ...»
Johannes Maria Schwarz