Familienbilder der Bibel

Die Heilige Schrift erzählt die Geschichten von vielen Familien. Jede ist anders, jede hat ihre eigenen Herausforderungen. Alle Erzählungen zeigen Realitäten
und Optionen.

«Begegnung zwischen Esau und Jakob» von Francesco Hayez, 1844. (Bild: zeno.org)

 

«Wir sind jetzt eine Familie» – das hört man von Paaren bei der Geburt ihres ersten Kindes, und es spiegelt ein gängiges Bild. Während der «Familienphase» werden die Kinder erwachsen, die «Familienzeit» verbringen die Kleinen mit ihren Eltern. Jedoch: Familie ist mehr als die Paar-(Klein-)Kind-Konstellation, und es lohnt es sich, den Blick zu weiten. Die biblischen Texte motivieren dazu, indem sie eine Bandbreite von prägenden familiären Beziehungen abbilden, beispielsweise Beziehungen zwischen Geschwistern, erwachsenen Kindern und alten Eltern oder Familien in Not.

Gefährdungen und tragfähige Optionen

Bevor die biblischen Familientexte zu Wort kommen: Was können wir von ihnen erwarten und welche Bedeutung tragen sie für heute? Mit Sicherheit sind sie keine Patentrezepte zur persönlichen Problemlösung. Dazu sind sie zu vielfältig, und gerade die Erzählungen beabsichtigen das auch nicht. Vielmehr haben wir es mit historisch gewachsenen Dokumenten zu tun, Kindern einer fernen Zeit, die in ihrer Situation und Ausrichtung verstanden werden wollen. Als solche regen sie zur Auseinandersetzung an und sind inspirierende Themengeber.

Doch brächten nicht aktuelle Literatur oder Filme die Familiensituationen differenzierter und anschaulicher zur Sprache? Selbstverständlich, auch sie öffnen Perspektiven. Die biblischen Texte zeichnet jedoch aus, dass sie im Horizont einer Heilsgeschichte stehen, der Geschichte des Gottes Israels mit seinem Volk. Sie geben Anstoss, im Angesicht des Gottes Israels zu leben. So formulieren sie Optionen, die frühere Glaubende als tragfähig und bedenkenswert empfanden, und spiegeln familiäre Situationen, auch wenn diese gefährdet sind oder misslingen.

Geschwisterliebe und -rivalität

Gerade die Erzählungen der Genesis zeigen Brüder in Rivalität, auf der Suche nach ihrem Platz – und von ihrer dunklen Seite. Schockierend kurzsilbig steht am Anfang der Brudermord Kains an Abel (Gen 4,1–16), der die Leser mit dem Gipfel der auch unter Geschwistern möglichen Aggression konfrontiert. Die Zwillingsbrüder Esau und Jakob (Gen 25–33) spalten Machtgerangel und List, Josef und Jakobs Söhne besondere Elternliebe und Hass (Gen 37–50). Das Motiv der Geschwisterrivalität hält sich durch bis zum sogenannten «verlorenen Sohn», dem sein eigener Bruder die Wiederaufnahme ins Haus missgönnt (Lk 15,11–32). Doch sowohl bei Jakob als auch bei Josef steht am Ende ein Aussöhnungsprozess, der beispielsweise Jakob eine reuevolle Unterwerfungsgeste abverlangt: «Er (Jakob) selbst ging vor ihnen her und warf sich siebenmal zur Erde nieder, bis er nahe an seinen Bruder herangekommen war» (Gen 33,3). Dem gegenüber steht das Ideal der unbedingten Solidarität zwischen Geschwistern z. B. Spr 17,17: «[…] der Bruder ist für die Not geboren». Dies trägt auch, wenn das Geschwisterverhältnis über die Stammfamilie hinaus geweitet wird: «Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht!» (Mt 18,15).

Lösung von der Ursprungsfamilie

«Geh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus» – so wird Abraham der Neubeginn aufgetragen (Gen 12,1). In einer liebevollen Familienbeziehung kann das Trennungsschmerz bedeuten – doch damit verbunden sind auch Abnabelung sowie eine eigenständige Lebensgestaltung, die für hohe Werte viel aufs Spiel setzt.
In der Jesusnachfolge wird eine solche Lösung von der Ursprungsfamilie radikal gefordert. Es gilt, «die Toten ihre Toten begraben» zu lassen (vgl. Lk 9,60), und sicher verläuft eine solche Trennung nicht immer harmonisch. Doch zur Ablösung gehört auch das Versprechen einer neuen solidarischen Gemeinschaft von Geschwistern, wie in Lk 8,21: «Er (Jesus) erwiderte ihnen: Meine Mutter und meine Brüder sind die, die das Wort Gottes hören und tun.» Mit der Lösung von der Ursprungsfamilie klingt ein Grundthema jedes Erwachsenwerdens an, wenn sie sich auch nicht immer in solcher Radikalität äussern muss – die Bibel bietet ein differenziertes Spektrum von Lebensentwürfen.

Kinderlosigkeit

Im familiären Lebensentwurf sind gerade die biblischen Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch konfrontiert. Auch wenn die Bitten von Rahel (Gen 30,1–24), Hanna (1 Sam 1), Zacharias und Elisabeth (Lk 1) schlussendlich erhört werden, zeigen die Texte doch die Problematik der kinderlosen Zeit, die den Frauen enttäuschtes Warten sowie Kränkung aus Familie und Umgebung auflastet. Damit wird im Ansatz reflektiert, woher der Kinderwunsch rührt, auch wenn die Gründe vielfältiger sein mögen. Die Texte stellen die Unverfügbarkeit der Situation fest und treffen damit einen Grundtenor, der jedem Wunsch für eine Lebensgestaltung zugrunde liegt.

Altern und Eltern

Das Älterwerden, gegebenenfalls einhergehend mit Einschränkungen, stellt auch in den biblischen Texten bereits eine Herausforderung dar. Schon das vierte der Zehn Gebote weist die erwachsenen Kinder an, Vater und Mutter zu ehren, und das wird gerade im Alter wichtig. Ebenso Sir 3,12 f.: «Kind, nimm dich deines Vaters im Alter an und kränke ihn nicht, solange er lebt! Wenn er an Verstand nachlässt, übe Nachsicht und verachte ihn nicht in deiner ganzen Kraft!» Das spätere Lebensalter wird in biblischen Texten allerdings mit verschiedenen Zuschreibungen belegt. Pessimistisch liest sich Koh 12,1: «Denk an deinen Schöpfer in deinen frühen Jahren, ehe die Tage der Krankheit kommen und die Jahre dich erreichen, von denen du sagen wirst: Ich mag sie nicht!» Anders dagegen Sir 25,6: «Ein Kranz der Alten ist ihre reiche Erfahrung, ihr Ruhm ist die Furcht des Herrn.»

Verarmung und Solidarität

Nicht nur die familiären Binnenbeziehungen, sondern auch den Ort von Familien in der Gesellschaft behandeln biblische Texte mit Augenmerk auf die prekären Situationen. Szenen wie Tob 2,11–14 oder Mt 18,23–35 zeigen auf, wie voneinander abhängige Familienmitglieder von Armut getroffen werden: Hanna, die Frau des erblindeten Tobit, sichert mit «Frauenarbeiten» das Überleben; im Gleichnis des Matthäus droht dem Schuldner mitsamt Frau und Kindern der Verkauf in die Sklaverei und damit die Zerstörung der Familie. Das Motiv der erbarmungslosen Schuldeneintreibung zeichnet Ijob 24,9 noch drastischer: «Von der Mutterbrust reissen sie die Waisen, den Säugling des Armen nehmen sie zum Pfand.» Auch emigrierende Familien nehmen in der Bibel einen prominenten Platz ein: Der Josef des Matthäusevangeliums flieht mit Frau und Kind vor dem Landesherren nach Ägypten und wählt aus politischen Gründen Nazaret als Wohnsitz (Lk 2,13–23). Das Buch Rut erzählt die anrührende Geschichte der fremdstämmigen Schwiegertochter, die mit ihrer Schwiegermutter aus wirtschaftlichen Gründen zurück in deren Heimat zieht, dort durch ihr Engagement auffällt und schliesslich Stammmutter des Königs David wird.

Kein rosiges Bild

Alles in allem, die Familienbilder der Bibel bleiben nicht bei der Idylle stehen. Die Geschichte Gottes mit den Menschen ist voll von kritischen und krummen Situationen, und diese werden nicht verschwiegen, sondern bearbeitet. Zwar kennen die biblischen Texte Ideale, sie legen jedoch den Finger auch dorthin, wo es schmerzt und knirscht. Das mag ermutigen, sich dem auch in den eigenen Lebenskonstellationen zu stellen – mit wachem Blick für das Gesamt eines familiären und sozialen Umfeldes. Doch auch den pastoralen Blick mögen die vielseitigen biblischen Texte vielleicht schärfen: Wo sind familiäre Systeme belastet und womit kann Kirche dienen? Wo können sich Menschen mit ähnlichen Familienerfahrungen inspirieren lassen und voneinander lernen?

Hildegard Scherer


Hildegard Scherer

Prof. Dr. Hildegard Scherer (Jg. 1975) lehrt Neutestamentliche Wissenschaften an der Theologischen Hochschule Chur.