Was ist ein guter Pädagoge?

21. Sonntag im Jahreskreis: Hebr 12,5–7.11–13 (Jes 66,18–21; Lk 13,22–30)

Wie gute Pädagogik aussieht, wohin eine gute Pädagogik führen soll, ist durch die Geschichte und Kulturen sehr unterschiedlich: Freiheit und Gehorsam, Selbstverantwortung oder blindes Folgen sind die Pole, zwischen denen sich die Ziele und Methoden der Pädagogik abspielen.

Was in den Schriften steht

Die Verfasserin des Hebräerbriefes schlägt in den Kapiteln 11 und 12 (das sind die Lesungen vom 19. und 20. Sonntag) einen Bogen und geht mit den Leserinnen ihrer Gemeinde gedanklich den Weg, von den Alten Glaubenszeugen, durch Anfechtungen und Hoffnung, die sich in der Gegenwart durch Trägheit und «Sünde» bemerkbar machen, hin zu dem grossen Ziel, zum Thron des Vaters und zur heiligen Stadt. In der vorliegenden Perikope ist Gott auf diesem Weg der Vater und die Mutter, die ihre Kinder führen – wörtlich: Päda-goge = Kinder-Führer. Spannend ist zu sehen, wie schon die Übersetzungen in der Wahl ihrer Worte verschiedene Konzeptionen von Pädagogik haben. Das im griechischen Text des Hebräerbriefes zentrale Wort ist paideuõ – e rziehen. Es wird wiedergegeben mit: züchtigen (Einheitsübersetzung, Elberfelder Bibel, Luther, Zürcher Bibel), erziehen (Zürcher Bibel), hart anfassen (Gute Nachricht Bibel), streng erziehen (Basis Bibel). Das zeigt weitgehend das Bild des strengen Erziehers mit Regeln und Strafen. Müssen wir nun bei diesem Befund stehen bleiben, oder gibt es Hinweise, welches Konzept von Erziehung der Verfasserin des Hebräerbriefes vorschwebt? Von den verwendeten Worten und Formulierungen her kommt man nicht auf die Spur. Es werden aber sehr viele Zitate aus dem Ersten Testament verwendet. Deren Kontext zeigt die Vorstellungswelt und das Konzept der Pädagogik Gottes.

Hebr 12,5–6 zitiert wörtlich Sprüche 3,11–12, was sich in der Fassung der Zürcher Bibel so liest. «Verachte nicht, mein Sohn, die Unterweisung durch den HERRN und sei nicht unwillig, wenn er dich ermahnt. Denn wen der HER liebt, den weist er zurecht, und er ist ihm zugetan wie ein Vater dem Sohn» (Spr 3,11–12). In der Mitte steht der Schlüssel für das Verständnis: «YHWH liebt», die Erziehung erfolgt unter diesem Vorzeichen. Der Kontext im Buch der Sprüche lautet: «Vertraue auf den HERN mit deinem ganzem Herzen, und verlass dich nicht auf deinen eigenen Verstand. Erkenne ihn auf allen deinen Wegen, dann wird er deine Pfade gerade machen» (Spr 3,5–6). Die Liebe Gottes hat als Gegenbewegung das Vertrauen. Es geht um den Lebensweg, auf dem Gott führt wie auf einem Pfad: Pädagoge!

Hebr 12,7: «Ertragt es also geduldig, es dient zu eurer Erziehung. Gott behandelt euch als seine Söhne und Töchter. Und welches Kind wird nicht von seinem Vater mit Strenge erzogen?» Schicksal und Leiden in der Gegenwart zu ertragen, weil dahinter ja nur die Erziehung Gottes steckt, ist ein gefährlicher Teil dieser Pädagogik. Sie ist dann falsch, wenn damit die Gegenwart als richtig und bleibend erklärt wird und jeglichen Schwung für Veränderung nimmt. Das wollen die langen Redegänge der Freunde im Hiob-Buch. Am Ende wird von Gott selbst diese Position als falsch abgelehnt. Sinn macht diese Pädagogik aber, wenn damit wie im Bild des Wettlaufs (siehe die Auslegung vom vergangenen Sonntag) die Kraft zum Durchhalten gestärkt wird, damit man das Ziel erreicht. So macht es auch Psalm 73, auf den die Verfasserin hier anspielt: «Denn ich habe mich über die Prahler ereifert, als ich sah, dass es diesen Frevlern so gut ging» (Ps 73,3) benennt das Problem des Psalmbeters, dem es selbst schlecht geht: «Und doch war ich alle Tage geplagt und wurde jeden Morgen gezüchtigt» (Ps 73,14). Die Lösung des Problems ist aber kein Verharren in diesem Zustand, sondern (die Hoffnung auf) das Überwinden dieser Situation: «Du leitest mich nach deinem Ratschluss und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit» (Ps 73,24). Hier wird das hoffnungsvolle Ziel genannt, auf das der Beter hinlebt. Noch deutlicher ist das im Deuteronomium, worauf Hebr 12,7 ebenfalls anspielt: «Daran sollt ihr erkennen, dass der HER , euer Gott, euch auf den rechten Weg bringen will wie ein Vater, der sein Kind erzieht» (Dtn 8,5). Kontext ist der Wüstenzug: «Vergesst nicht, wie der HERR , euer Gott, euch vierzig Jahre lang in der Wüste umherziehen liess! Das tat er, um euch vor Augen zu führen, dass ihr ganz auf ihn angewiesen seid. (…). Er liess euch hungern, damit ihr lernt, dass ihr ohne ihn nicht leben könnt. (…) Die ganzen vierzig Jahre lang sind eure Kleider nicht zerschlissen, und ihr habt keine wunden Füsse bekommen» (Dtn 8,2–4). Der ganze Wüstenzug aber steht unter dem grossen Ziel: «Darum folgt seinem Befehl und bleibt auf dem Weg, den er euch weist. (…) Der HERR , euer Gott, wird euch in ein schönes und fruchtbares Land bringen» (Dtn 8,6–7).

Diesen Gedanken des Ziels, wozu also diese schwere Zeit in der Gegenwart gut ist, nimmt die Verfasserin in Hebr 12,11 auf. Sie zitiert Jesaja: «Und das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit für ewig» (Jes 32,17).

Mit dem Jesaja-Zitat in Hebr 12,12: «Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie!» (Jes 35,3) kommt die grossartige Freudenvision für die Endzeit in den Brieftext. «Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. (…) Sagt den verzagten Herzen: ‹Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.› Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. (…) Die Erlösten des HERN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen» (Jes 35,1–2.4–6.10).

Diese Friedensbotschaft des Jesaja muss man beim Lesen des Hebräerbriefs mithören und mitdenken. Dann ist klar, mit welcher Pädagogik Gott arbeitet, nicht mit Züchtigung und Strafe, nicht mit Drohung und Unterdrückung, sondern mit dem Blick auf das paradiesische Ziel. Es ist diese Pädagogik, die wir von Gott schon seit dem Propheten Hosea kennen: «Als Israel jung war, gewann ich ihn lieb. Aus Ägypten rief ich meinen Sohn. Mit Banden der Liebe zog ich ihn. Ich war zu ihm wie die Mutter, die den Säugling stillt» (Hos 11,1–4).

Mit der Verfasserin des Hebräerbriefs im Gespräch

Es geht um das Durchhalten in schweren Zeiten. Dazu führt die Verfasserin das Ziel vor Augen, das Sitzen auf Gottes Thron, die himmlische Stadt, das Paradies, in dem Lahme springen. Es geht um den Weg dorthin, auf dem die Verfasserin die Gemeinde durch Gott geführt weiss. Strafe, Strenge, Züchtigung sind da die vordergründigen Termini. Dahinter steht das Modell der Liebe, die liebevolle Führung, das «Ziehen mit den Banden der Liebe» (Hos 11,4), das als Gottes Pädagogik auch zur Leitlinie des Umgangs der Menschen miteinander werden könnte.

Winfried Bader

Winfried Bader

Dr. Winfried Bader ist Alttestamentler, war Lektor bei der Deutschen Bibelgesellschaft und Programmleiter beim Verlag Katholisches Bibelwerk in Stuttgart und arbeitet als Pastoralassistent in Sursee