Was heisst denn da Lüge?

Lügen gehört heute für viele Menschen zum Alltag. Sie erfahren diese in Form von sogenannten Notlügen, Fake-News oder Falschaussagen. Doch wie genau wird «Lügen» definiert?

«Du sollst nicht lügen», so wird das achte Gebot des Dekalogs oft in verallgemeinerter Form wiedergegeben. Dieses Gebot fordert uns heraus; denn es ist vielfach gar nicht leicht, bei der Wahrheit zu bleiben und nicht zu lügen. Hinzu kommt, dass im Einzelfall oft genug nicht sicher ist, ob etwas als Lüge zählt oder nicht. Und ganz grundsätzlich kann man fragen, ob es Situationen gibt, in denen es erlaubt oder sogar geboten ist, zu lügen.

Kann Lügen definiert werden?

Zu den Aufgaben der Philosophie gehört es, wichtige Begriffe unserer Alltagssprache zu analysieren und zu definieren. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Philosophie so etwas wie eine allgemein akzeptierte Definition der Lüge anzubieten hätte. Es gibt lediglich verschiedene Vorschläge, die alle ihre Vor- und Nachteile aufweisen. Eine standardmässige Definition lautet: «Eine Lüge ist eine Behauptung, die eine Person nicht für wahr hält und mit der Absicht äussert, dass ihr Adressat sie für wahr hält.»

Die Standard-Definition besagt, dass eine Lüge dann und nur dann vorliegt, wenn eine Person eine Behauptung äussert (Behauptungsbedingung), die sie für falsch oder mindestens nicht für wahr hält (Unwahrhaftigkeitsbedingung) und dabei die Absicht verfolgt, dass der Adressat ihr glaubt (Täuschungsbedingung). Sind diese Bedingungen tatsächlich für sich genommen notwendig und zusammengenommen hinreichend für das Vorliegen einer Lüge? Das gilt es im Folgenden kurz zu prüfen.

Sind Lügen stets Behauptungen? (Behauptungsbedingung)

So fragt sich, ob man nicht auch mithilfe von Gesten lügen kann, etwa, wenn man nickt, obwohl man innerlich nicht zustimmt? Dazu ist zu sagen, dass der Ausdruck Behauptung in unserer Definition nicht nur mündlich oder schriftlich geäusserte Aussagen umfasst, sondern darüber hinaus auch andere Zeichenverwendungen, deren Bedeutung konventionell geregelt ist (wie etwa gebräuchliche Gesten, Gebärdensprache, Morse-Codes usw.). Alles in allem spricht viel dafür, die Behauptungsbedingung als unverzichtbareren Bestandteil der Definition der Lüge anzusehen.

Sind Lügen stets Behauptungen, die der Sprecher nicht für wahr hält? (Unwahrhaftigkeitsbedingung)

Ein mögliches Gegenbeispiel sind sogenannte ironische Lügen. Susi hat bei einer Party ein Auge auf den feschen Paul geworfen. Als sie gefragt wird, ob ihr Paul gefällt, rollt sie mit den Augen und gibt die ironische Antwort: «Er ist heiss.» Lügt Susi? Dafür spricht, dass sie ihr Gegenüber auf ironische Weise glauben machen möchte, Paul gefalle ihr nicht, obwohl er ihr eigentlich gefällt. Dagegen spricht allem Anschein, dass Susi verbal genau das behauptet, was sie denkt – nämlich, dass er heiss ist. So gesehen wäre die Unwahrhaftigkeitsbedingung der Standard-Definition nicht erfüllt. Und wenn eine der Bedingungen nicht erfüllt wäre, dann läge auch keine Lüge vor. Dagegen lässt sich argumentieren, dass es im Fall ironischer Bemerkungen nicht nur auf den Wortlaut ankommt, sondern auch auf die Ausdrucksweise. In unserem Fall weist das Augenrollen daraufhin, dass Susi mit der Aussage «er ist heiss» das Gegenteil dessen behauptet, was die Aussage für sich genommen bedeutet. So gesehen lügt Susi sehr wohl. Alles in allem spricht aus meiner Sicht viel dafür, dass die Unwahrhaftigkeitsbedingung in die Definition der Lüge gehört.

Sind Lügen stets für unwahr gehaltene Behauptungen, die mit der Absicht geäussert werden, dass der Adressat sie für wahr hält? (Täuschungsbedingung)

Bedenken wir ein mögliches Gegenbeispiel: Ein des Überfalls Angeklagter weiss zwar, dass er unschuldig ist, bekennt sich vor Gericht dennoch für schuldig. Dabei beabsichtigt er aber nicht, dass der Richter ihm glaubt. Es geht ihm vielmehr darum, dass der Richter ihn verurteilen muss, was für den Angeklagten eine warme Unterkunft in der rauen Winterzeit bedeutet. Es liegt nahe zu denken, dass der Angeklagte in diesem Beispiel gelogen hat. Das Problem ist, dass er gemäss der Standard-Definition nicht gelogen hätte, weil er nicht beabsichtigte, dass der Richter ihm glaubt.
Beispiele wie dieses haben etliche Philosophen bewogen anzunehmen, dass eine Falschaussage auch dann eine Lüge sein kann, wenn keine Täuschungsabsicht vorliegt. Es genügt allerdings nicht, den Begriff der Lüge einfach «als eine Behauptung, die ihr Sprecher nicht für wahr hält» zu definieren. In diesem Fall würden auch viele ironische oder scherzhafte Bemerkungen als Lüge gelten, was darauf hinweist, dass die Definition zu weit gefasst ist. Philosophen, die annehmen, dass die Täuschungsabsicht kein definitorischer Bestandteil der Lüge ist, gehen deshalb in der Regel davon aus, dass es zusätzliche Bedingungen gibt, die eine für unwahr gehaltene Behauptung zu einer Lüge machen.

Ist die obige Definition vollständig oder fehlen ihr wesentliche Elemente? (Vollständigkeitsbedingung)

Nehmen wir an, ein Passant sagt wider besseres Wissen zu einem Bettler: «Ich habe kein Geld dabei.» Wenn der Passant dabei nur beabsichtigt, dass der Bettler glaubt, dass er kein Geld dabei hat, nicht aber auch, dass der Bettler glaubt, der Passant halte seine Behauptung für wahr, dann scheint es sich nicht um eine Lüge zu handeln. In der Regel setzen wir voraus, dass eine Person, die eine Behauptung macht, nicht nur möchte, dass ihre Behauptung für wahr gehalten wird, sondern auch, dass der Adressat glaubt, dass die Person die von ihr gemachte Behauptung für wahr hält. Ausnahmen von dieser Regel scheinen, wie unser Beispiel zeigt, aber denkbar zu sein. Das legt es nahe, die obige Definition der Lüge zu präzisieren: «Eine Lüge ist eine Behauptung, die eine Person nicht für wahr hält und mit der Absicht äussert, dass der Adressat sie für wahr hält und/oder für wahr hält, dass der Sprecher sie für wahr hält.»

Fassen wir zusammen: Es gibt bislang keine allgemein akzeptierte Definition der Lüge. Die von uns diskutierte Definition wirft die Frage auf, ob ihre Elemente (Behauptung, Unwahrhaftigkeit, Täuschungsabsicht) für sich genommen notwendig und ob sie zusammengenommen hinreichend sind, um den Begriff der Lüge exakt zu definieren.

Gibt es erlaubte Lügen?

Lebenspraktisch beschäftigt uns freilich weniger, wie die Lüge genau zu definieren ist, als vielmehr, unter welchen Bedingungen es gegebenenfalls moralisch erlaubt oder sogar geboten ist, etwas zu behaupten, was wir nicht für wahr halten.

Problematisch sind Lügen im Prinzip deshalb, weil sie das Vertrauen des Hörers zugleich beanspruchen und enttäuschen. Wer eine Behauptung äussert, die er nicht für wahr hält, beansprucht, wahrhaftig zu sein, ohne es tatsächlich zu sein. Wer etwas behauptet, was er nicht für wahr hält, setzt das Vertrauen des Hörers in seine Wahrhaftigkeit aufs Spiel. Eine solche Sprechhandlung lässt sich nur moralisch verantworten, wenn es einen guten Grund gibt, der sie rechtfertigt.

Einige namhafte Philosophen (wie z.B. Augustinus, Thomas von Aquin, Kant) lehrten, dass Lügen niemals moralisch gerechtfertigt werden könnten. Lügen seien vielmehr in sich schlechte Handlungen, weil sie das in der Natur unseres Kommunikationsvermögens liegende Ziel (d.h. anderen mitzuteilen, was wir denken) pervertieren würden. Allerdings erwogen schon Augustinus und Thomas von Aquin, dass das Leben unschuldiger Menschen manchmal nur geschützt werden könne, wenn man deren Verfolger belüge. In solchen Fällen hielten diese Philosophen eine Lüge zwar für weniger verwerflich, aber dennoch nicht für erlaubt oder geboten.

Die Auffassung, dass es niemals gerechtfertigt ist, etwas zu behaupten, was man nicht für wahr hält, leuchtet aber auch deshalb nicht ein, weil in diesem Fall ironische Bemerkungen oder Scherzlügen ebenfalls unter keinen Umständen gerechtfertigt wären. Nun gibt es zwar boshafte Scherze, die zu weit gehen. In der Regel verursachen im Scherz geäusserte Falschaussagen aber keinen Schaden und beeinträchtigen das Vertrauen des Hörers in die Wahrhaftigkeit des Sprechers nicht.

Der beabsichtigte Zweck und die erwartbaren Folgen sind bei der moralischen Bewertung einer Handlungsweise zu berücksichtigen. Das gilt offenbar auch dann, wenn man etwas behauptet, was man nicht für wahr hält. Von daher sei vermutet, dass es nur dann moralisch verwerflich ist zu lügen, wenn sich damit keine gute Absicht verbindet und die erwartbaren Folgen (in unparteilicher Perspektive betrachtet) einen Schaden verursachen, der den Nutzen der Handlung überwiegt. Sehr oft wird dieser Schaden darin bestehen, das Vertrauensverhältnis gegenüber einer anderen Person zu gefährden, zu verletzten oder sogar zu zerstören.

Dominik Kraschl


Dominikus Kraschl

Prof. Dr. phil. Dr. theol. habil. Dominikus Kraschl OFM (Jg. 1977) studierte Philosophie, Theologie und Religionspädagogik in Salzburg (A). Seit September 2018 ist er Professor für Philosophie und Philosophiegeschichte an der Theologischen Hochschule Chur.