Wahrheit der Lüge?

Von einer Wahrheit der Lüge zu sprechen, klingt paradox. In der Tat: Lügen, um jemand anderem mit Absicht zu schaden, kann weder wahr noch gut sein. Aber gilt das für jede Falschaussage?

Dass Lügen erlaubt sei bzw. dass es gleichgültig sei, ob man die Wahrheit sagt oder nicht – dagegen wehrt sich die moralische Intuition zu Recht. Eine solche Indifferenz würde die humane Qualität sozialen Miteinanders massiv gefährden. Namentlich der Sinn und die Kraft kommunikativer Akte sowie das Vertrauen in sie wären untergraben. Menschen sind für ihre Orientierung auf die Wahrheit von Information und die Wahrhaftigkeit ihrer Mitteilung angewiesen. Gerade in Zeiten unverhohlener Fake News und Täuschungen tritt der Wert belastbarer, weil wahrheitsgetreuer Kommunikations- und Umgangsformen deutlich hervor.

Umgekehrt weiss man aber, dass der Anspruch auf Wahrheit unter Umständen ungerecht und ihre Mitteilung prekär sein, ja inhuman enden kann: Personen – zum Beispiel Arbeitgeber oder Nachbarn – wollen etwas wissen, worauf sie kein Recht haben. Oder wahrheitsgetreue Aussagen werden erzwungen bzw. gezielt gestreut, jedoch nicht um wohlwollend zu handeln, sondern um jemandem zu schaden. Oder die Fürsorge für verletzliche Personen und diskrete Vorgänge verlangt es, nicht mit der ganzen Wahrheit zu kommen, sondern auf bessere Bedingungen ihrer Bewältigung zu setzen.

Legitime Falschaussagen

Diese und andere Fälle zeigen, dass es Situationen gibt, in denen man mit Wahrheit zumindest zurückhaltend sein muss. Selbst direktes Lügen kann in gewissen Konstellationen notwendig und verantwortungsvoller sein als blindlings die Wahrheit zu sagen. Man verhält sich bewusst unwahrhaftig und täuscht, um Leib, Leben oder die Integrität von Menschen zu schützen; dies meist in konfliktreichen, macht- oder gewaltförmigen Lagen. Solches Lügen hat keinen moralischen Makel: Denn die leitende Absicht ist nicht der eigene Vorteil zum Nachteil eines anderen, sondern die Bewahrung von Menschlichkeit, die aber im konkreten Fall mit wahrhaftigem Reden gefährdet wäre. Damit kompensiert die gute Absicht sittlich jene Irritation, die auf der kommunikativen Ebene durch die notwendige Lüge in Kauf genommen wird.

Um diese Unterscheidung begrifflich wiederzugeben, empfiehlt es sich, das Wort «Lüge» nicht für solche sittlich begründeten Ausnahmen von der Wahrhaftigkeit zu verwenden. Treffender ist, sie als «legitime Falschaussagen» zu bezeichnen. Praktisch darf man es sich hier aber nicht zu einfach machen. Denn rasch hat man sich daran gewöhnt, es mit der Wahrheit nicht genau zu nehmen. Oder man bedient sich einer Falschaussage, ohne zu prüfen, ob dieses Mittel probat und alternativlos ist, um Humanität bestmöglich sicherzustellen. Dafür aber steht zu viel auf dem Spiel! Der Preis einer Falschaussage ist hoch und zehrt am Wert sozialer Kommunikation. Daher gilt es, zugleich für Lebensumstände und Institutionen zu sorgen, in denen Wahrhaftigkeit nicht zum Fallstrick menschenverachtender Interessen gemacht werden kann.

Blockaden der Tradition

Die einschlägigen Traditionen in Philosophie, Theologie und Kirchen ergeben ein schillerndes Bild: Ein system- oder institutionenkritisches Bewusstsein, das aktuell dringlich wäre, ist kaum zu erkennen. Eine weitere Hypothek folgt aus der mangelnden Akzeptanz konkreter Lebenslagen und Entwicklungen. Besonders in Bezug auf vermeintlich durch Natur und Bibel geregelte Güter (Wahrheit, Sexualität, Leben, Besitz) tat man sich schwer, sie moralisch zu würdigen. Man propagierte das reine Ideal, anstatt das aktuell bestmögliche Handeln zu fördern. So vertrat man auch das Ideal der Wahrhaftigkeit als absolute Norm, sprich ohne Chance auf situative Rücksichten und partielle Vermittlung.

Die Defizite dieses Rigorismus fielen auch der Tradition auf. Daher unterschied man gezielt verletzendes Lügen («Schadenslüge») von Lügen angesichts von Repression («Notlüge») oder zur Erheiterung («Scherzlüge»), scheiterte aber am für absolut gehaltenen Verbot jedweder Täuschung. Auch Strategien des insgeheimen Verschleierns von Wahrheit («restrictio mentalis») wurden wegen ihrer Täuschungsmotive lehramtlich verurteilt.

Differenziertes Fazit

Was lehrt uns all das über die Wahrheit der Lüge? Lügen darf nie der Normalfall sein! Aber es gibt Situationen, in denen es sittlich nicht anders geht. Dies kategorisch abzustreiten, auch das ist eine Täuschung: Man pocht auf die «reine» Moral und bewirkt so Not und Bedrängnis.

Hanspeter Schmitt


Hanspeter Schmitt

Prof. Dr. Hanspeter Schmitt (Jg. 1959) ist habilitierter Moraltheologe. Er lehrt und forscht als Professor für Theologische Ethik an der Theologischen Hochschule Chur.