«Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?»

Die grösste Frage aller Fragen «Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts» führt den Hauptprotagonisten noch zum mehr Fragen. Das Theaterstück «Enuma eliš»1 führt ins alte Babylon und an den Anfang des menschlichen Fragens nach dem Dasein.

Die Mitwirkenden v.l.: Emily Isik, Tobias Briker, Lukas Gemeinde, René Schaberger und Petra Hug. (Bild: zvg)

 

SKZ: In diesen Tagen wird an der Theologischen Hochschule Chur eifrig für die Theateraufführung «Enuma eliš» geprobt. Ein ungewöhnlicher Titel. Was heisst «Enuma eliš»?
René Schaberger*: «Enuma eliš» sind die ersten Worte eines altbabylonischen Schöpfungsmythos, der mit den Versen beginnt: «Als droben die Himmel nicht genannt waren / Als unten die Erde keinen Namen hatte […].» Der Mythos – der vermutlich um einiges älter als die biblischen Schöpfungstexte ist – fragt, was war, bevor alles uns Erscheinende von uns Menschen in Sprache gefasst wurde. Was geschah vor der Welt, die uns erscheint und die wir in Sprache fassen? Der Mythos erzählt von den Göttern, die ruhelos umherirren und die erst aufgrund eines listigen Tricks des mächtigen Marduks – den ich nun nicht verrate – am Ende des Mythos endlich Ruhe finden.

Was motivierte Sie, zusammen mit Claude Bachmann dieses Theaterstück zu schreiben?
Neben den Schöpfungstexten, die sich in der Bibel befinden, befasst man sich in den alttestamentlichen Vorlesungen von Prof. Dr. Michael Fieger u. a. auch mit den altbabylonischen Schöpfungsmythen. Fieger kam beim Vergleich zwischen Genesis und Enuma eliš ins Schwärmen. Er dozierte in gewohnt lebendiger Manier: «Die Schöpfungsmythen wurden lange Zeit mündlich tradiert, sie wurden weitererzählt und auf Bühnen aufgeführt. Diese Schöpfungsgeschichten gehören nicht nur vorgelesen, die müssten vorgespielt werden.» Claude Bachmann und ich nahmen uns dies zu Herzen und entwickelten über mehrere Jahre die Idee des Theaterstücks.

Was ist der Kern des Theaterstücks?
Der Hauptprotagonist sollte ein Theaterstück über die Erschaffung der Welt schreiben, um darin endlich eine schlüssige Antwort auf die grösste aller Fragen zu geben: Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts? Nur, er bringt kein Wort zu Papier und stellt frustriert fest: «Es vermehren sich nur die Fragen in meinem Kopf – wie rammelige Kaninchen!» Auf der Suche nach Inspiration macht sich unser Held auf eine ungeheuerliche Reise: in die Vergangenheit, zurück ins alte Babylon. Er trifft rechtzeitig ein, um in den Hängenden Gärten am Tempel des Marduk der Aufführung von «Enuma eliš» beizuwohnen. Was er da sieht, verstört ihn und er ist überzeugt: «In meiner Zeit haben die naturwissenschaftlichen Fakten die alten Mythen als Erklärungsmodelle abgelöst.» Für ihn gibt es nur ein legitimes Erklärungsmodell der Schöpfung: Das Universum sei vor Jahrmilliarden im Zustand grösster Dichte gewesen. Erst mit der Expansion des Universums hätten sich Raum und Zeit, Galaxien und Sonnensysteme gebildet. «Wir sind Sternstaub, nichts als eine Laune des Zufalls», schlussfolgert er. Erst die Begegnung mit einem mysteriösen, blinden Juden in der Gosse Babylons weckt in ihm die Frage nach der tieferen Wahrheit von Geschichten und Mythen. Er beginnt sich zu fragen, was letztlich im Leben zählt und wo der Platz des Menschen, sein Zuhause, in dem unendlich grossen, lebensfeindlichen Universum ist. Gemeinsam mit dem blinden Juden ringt er um eine neue Interpretation der Schöpfung.

Warum lohnt es sich heute noch, sich mit alten Schöpfungsmythen zu befassen?
Seit Mitte dieses Jahres ermöglicht das James-Webb-Teleskop neue Einblicke in die tiefe Weite des Universums. Auch für die Theologie haben diese Bilder – über die physikalischen und exploratorischen Erkenntnisse hinaus, die damit erhofft und gewonnen werden – etwas Faszinierendes. Angesichts des Bildes von GLASS-z13, der ältesten je gesichteten Galaxie am Ursprung von Raum und Zeit, stellen sich in neuer Aktualität alte Fragen: Warum gibt es das Universum? Woher kommt es und wohin expandiert es? Wer oder was hob alles, das ist, ins Dasein? Es sind Fragen, die nicht altern: Vor 3000 Jahren stellten sich Menschen in Babylon mit Blick in den Sternenhimmel mehr oder weniger dieselben Fragen, die wir heute mit dem Theaterstück «Enuma eliš» aufwerfen.

Interview: SKZ

 

1 Informationen zum Theaterprojekt der Theologischen Hochschule Chur und den Aufführungen: www.thchur.ch/theater

* René Schaberger (Jg. 1988) ist in Büblikon AG aufgewachsen. Nach einer Lehre als Coiffeur studierte er in Luzern und Chur Religionspädagogik und Theologie. Er arbeitet als Rektoratsassistent an der Theologischen Hochschule Chur und schreibt an seinem Lizenziat. Er belegte am diesjährigen Schreibwettbewerb der SKZ den zweiten Rang.