Von «Unterentwicklung» zu einer globalen Vision

1949 lancierte US-Präsident Truman die internationale Entwicklungspolitik. Diese Rede hatte fatale Folgen, denn sie teilte die Welt in die zwei Kategorien von entwickelten und unterentwickelten Ländern, Kulturen und Menschen. Anne-Marie Holenstein ordnet ein und blickt auf die bahnbrechende «Agenda 2030».

Dieses Verständnis von «Entwicklung», steckt bis heute in den Genen von Entwicklungsdiskurs und -praxis. Dazu gehören erstens geopolitische Dominanzstrategien, die mit der internationalen Entwicklungspolitik verbunden waren und sind, und zweitens ideologisch das technokratische Weltbild der westlichen Moderne mit ihrer Wachstumsideologie als Heilmittel gegen «Unterentwicklung».

Streit um den Entwicklungsbegriff

Seit Trumans Rede wird gestritten, auch in der Schweiz. Die Erfahrungen mit der widerständigen Praxis aus vergangenen Jahrzehnten belegen vor al-lem auch das ideologie- und gesellschaftskritische Potenzial von Religion und Theologie. Sie verdienen es deshalb, gegen eine gewisse Geschichtsvergessenheit in der aktuellen Debatte ins öffentlich Gedächtnis zurückgeholt zu werden. Erinnert sei an die Enyklika «Populorum Progressio», die 1967 die Wachstumsideologie kritisierte: «Entwicklung ist nicht einfach gleichbedeutend mit wirtschaftlichem Wachstum (…). Jedes Wachstum hat seine zwei Seiten, unentbehrlich, damit der Mensch mehr Mensch sei, sperrt es ihn wie in ein Gefängnis ein, wenn es zum höchsten Wert wird, der dem Menschen den Blick nach oben versperrt.»1 Vertreter der lateinamerikanischen «Theologie der Befreiung» wie Gustavo Gutierrez oder Dom Helder Camara haben das Entwicklungsverständnis von Fastenopfer und Brot für alle massgeblich geprägt.

In der Schweiz leisteten progressive Christen richtungsweisende Beiträge zum entwicklungspolitischen Diskurs. Zum Beispiel 1968 mit der «Erklärung von Bern» (heute Public Eye). Die Sozialethiker, die sie verfassten, forderten die Veränderung der ökonomischen Strukturen unseres Landes im Hinblick auf unsere Mitverantwortung gegenüber der Dritten Welt. Den gleichen Kreisen gelang es 1970, zur «Interkonfessionellen Konferenz Schweiz – Dritte Welt» repräsentative Vertretungen aus Wirtschaft, Verwaltung und Politik ins Bundeshaus einzuladen. Offizielle Träger waren nota bene die drei Landeskirchen. Die Jugendfraktion provozierte die versammelte politische und kirchliche Elite mit der Dekonstruktion des Entwicklungsbegriffs: Es gilt nach den Ursachen der sogenannten Unterentwicklung zu forschen. Diese liegen nicht primär in den «Entwicklungsländern», sondern bei uns. Wir sind das Problem. Die «Entwicklungsländer» müssen nicht einfach einen Rückstand aufholen, sondern sich aus dem ausbeuterischen Diktat der Industrieländer befreien. Entwicklungshilfe im üblichen Sinn führt nicht zum Ziel; nötig sind Strukturveränderungen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen; dies setzt Strukturveränderungen in unserem Land voraus.2 Im Hinblick auf die «Agenda 2030» der UNO mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung sind diese Forderungen so aktuell wie 1970, mit der gewichtigen Einschränkung, dass «wir», das heisst die Industrieländer, nicht allein die Ursache der Probleme sind.

Seit mindestens 60 Jahren wurde und wird kontinuierlich um den Entwicklungsbegriff gestritten. Entwicklungshilfe wurde in Entwicklungszusammenarbeit umbenannt, und statt von «Entwicklungsländern» reden wir heute vom «Süden». Eine Bezeichnung, die ebenso vieldeutig und ungenau wie der Entwicklungsbegriff ist. Die Kosmetik an Begriffen darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass nach wie vor um die Überwindung kulturell völlig unsensibler, mit politischen Machtinteressen gekoppelter Wachstumsideologien gerungen werden muss. «Das grosse Unbehagen an der Entwicklung» hat Comundo, die Organisation der Personellen Entwicklungszusammenarbeit mit Sitz im Romero-Haus in Luzern, in einem mehrjährigen Prozess diskutiert. Die Ergebnisse liegen in einem Sammelband vor, den Josef Estermann herausgegeben hat.3

Multiversum – Welt mit vielen Kammern

Erfahrungen aus der Praxis von Entwicklungsorganisationen, die Pluralität und Vielfalt anstelle von kultureller Monokultur zulassen, wirken befreiend und bereichernd. Voraussetzung ist freilich die Akzeptanz von Unübersichtlichkeit, von Konflikten und nicht zuletzt auch der Ambivalenzen, die in allen Lebens-, Gesellschafts- und Wirtschaftsentwürfen stecken. Das muss ausgehalten werden!

Es geht um eine Welt, in der viele Welten Platz haben. Faszinierend ist der Begriff des Multiversums, den der Philosoph Ernst Bloch lange vor der Erfindung von «Entwicklung» und «Unterentwicklung» geprägt hat.4 Das Multiversum ist eine Gegenvision zu Globalisierungsmustern, die monokausal von der Wachstumsideologie geprägt sind,  denn das Multiversum ist vielrhythmisch und vielräumig, eine Welt mit vielen Kammern, in denen auch Ungenaues und Widersprüchliches zugelassen ist, freilich mit dem verbindlichen Massstab und Zielpunkt des Humanen, der Menschenrechte.

«Agenda 2030» – Hausaufgaben für das Entwicklungsland Schweiz

2015 hat die UNO die «Agenda 2030» angenommen. Es ist eine Vision, wie die Welt 2030 aussehen soll. Endlich wird damit die Zweiteilung der Welt in «Entwicklungsländer» und reiche Industrieländer überwunden, denn im Hinblick auf diese ambitionierten Ziele sind alle Länder «Entwicklungsländer».

Die Agenda wird in 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, die «Sustainable Development Goals», konkret. Bahnbrechend ist die «Agenda 2030» auch deshalb, weil sie die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Faktoren der Nachhaltigkeit zusammenbringt und so das bisherige Silo-Denken überwinden will. Dem entspricht die Zusammensetzung der Begleitgruppe für die Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, die der Bundesrat ernannt hat, um in breiten Kreisen den Handlungsbedarf der Schweiz zu ermitteln. In diesem Prozess sind auch die Entwicklungs- und Umweltorganisationen vertreten. Erste Ergebnisse wurden kürzlich an einer Dialogtagung mit allen interessierten Kreisen diskutiert. Die Themenfelder reichten von Armut und Chancengleichheit über nachhaltigen Konsum, Gesundheit, den Werkplatz Schweiz bis zu Bildung für nachhaltige Entwicklung. Es geht nun darum, die Hausaufgaben zu ermitteln, welche die Schweiz in diesen Bereichen machen muss, und Methoden bereitzustellen, um die Fortschritte zu messen.

Die Schweiz ist herausgefordert, jedes Politikfeld auf seine Auswirkungen auf die globale «Agenda 2030» hin zu prüfen. Mit ihren weltweiten Partnerschaften und ihrer Praxiserfahrung müssen darum die Entwicklungs- und Umweltorganisationen zu wichtigen Playern in der weltweiten Partnerschaft namens «Agenda 2030» werden. 40 Schweizer NGOs haben sich deshalb als zivilgesellschaftliche Plattform organisiert. Der Start scheint gelungen. Aber die breite Öffentlichkeit hat die Existenz der «Agenda 2030» noch kaum wahrgenommen. Die NGO-Plattform wird viel Energie in eine eigene Kommunikationsstrategie investieren müssen, damit die Bevölkerung das Potenzial der «Agenda 2030» entdeckt und die konsequente politische Umsetzung mitträgt, damit die Welt zu einem nachhaltigen Multiversum werden kann.

 

1 Fortschritt der Völker, Populorum Progressio, Hg. vom Fastenopfer, o.J., 19.

2 Schweiz – Dritte Welt. Berichte und Dokumente der Interkonfessionellen Konferenz Bern. Hg. von Hans K. Schmocker und Michael Traber. Freiburg 1972, 29 f.

3 Josef Estermann (Hg.): «Das Unbehagen an der Entwicklung». Aachen 2017.

4 Die Entdeckung dieses Konzepts verdanke ich Beat Dietschy. Siehe: Anne-Marie Holenstein: Multiversum – auf den Denkspuren des Philosophen und Theologen Beat Dietschy. In: Entwicklung neu denken. Dialogue4change, September 2015.

Anne-Marie Holenstein

Dr. phil., Dr. theol. h. c. Anne-Marie Holenstein studierte Germanistik und Romanistik und ist heute Publizistin und Fachfrau für Entwicklungszusammenarbeit. Sie leitete das Projekt der DEZA «Entwicklung und Religion».