Welche Zukunft wollen wir?

Zukunft

Welche Zukunft wollen wir? So fragte 1998 der Titel einer Broschüre der Schweizer Bischofskonferenz und des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes. Der Text diente als Grundlage für eine breit angelegte «Ökumenische Konsultation zur sozialen und wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz». An dieser beteiligten sich viele: kirchliche Gruppen und Gemeinden, Initiativen und Verbände, Einzelne und Kollektive.1

Ein fast pfingstliches Geschehen, das mich als Neuling in der Eidgenossenschaft beeindruckt hat. «Welche Zukunft wollen wir?» Diese Frage wird hier vor dem Hintergrund von drei aktuellen Debatten beleuchtet. Dabei greife ich zurück auf brandneue Werke eines deutschen Soziologen, eines israelischen Historikers und einer amerikanischen Philosophin.

Klimakapriolen

Einen eigenwilligen Blick in die gesellschaftliche Zukunft hat der Soziologe Ulrich Beck geworfen. Als er 2015 starb, stand sein Werk «Die Metamorphose der Welt»2 kurz vor der Vollendung. Beck behauptet darin, dass wir es heute nicht mit einem «Wandel» genannten Phänomen zu tun haben, sondern mit einer radikalen Verwandlung der Welt.

An der Klimaveränderung lässt sich laut Beck die Wende vom Nationalismus zum Kosmopolitismus veranschaulichen. Denn das globale Klimarisiko sagt uns, dass der Nationalstaat nicht mehr der Mittelpunkt unserer Welt ist, weil Klimakatastrophen sich nicht an nationale Grenzen halten, sondern die Welt und die Menschheit als Ganze bedrohen. Aber das Wissen um die Gefährdung der gesamten Natur und der Menschheit könnte eine kosmopolitische Wende unserer Lebensweise herbeiführen und damit die Welt zum Besseren ändern. Die bedrohliche Klimaveränderung könnte also positive Folgen haben. Nach Beck entspringt der Klimapessimismus aus der Unfähigkeit, Grundfragen gesellschaftlicher und politischer Ordnung im Zeitalter globaler Risiken neu zu überdenken.

Dass der Klimawandel die Welt auf radikale Weisen verändert, macht der Soziologe an drei Tatsachen fest: Durch die steigenden Meeresspiegel werden veränderte Landschaften der Ungleichheit geschaffen. Der Klimawandel erschafft zweitens «eine grundlegend andere Wahrnehmung ethischer und existentieller Gefährdungen». Drittens findet die kosmopolitische Wende vor allem «in der Realität alltäglicher Praktiken und Aktivitäten statt». Aus dem Wissen, dass kein Staat das globale Klimarisiko allein bewältigen kann, erwächst die Erkenntnis: «Wer die Kooperation verweigert, wird untergehen!» Beck sah insbesondere in den Weltstädten wichtige kosmopolitische Akteure. Gegen Bestrebungen der Renationalisierung sind seines Erachtens sowohl die «Vereinten Nationen» als auch die «Vereinten Städte» gefragt. Diese sind für ihn Orte alltäglich erfahrener globaler Diversität, Erfahrungsräume kosmopolitischer Interdependenz, Experimentierfelder für gesellschaftliche und politische Reformen und Bündnisse. Weltstadtallianzen nennt er «Schauplätze der Klimahoffnung». In einer kosmopolitisierten Welt globaler Gefahren könnten sie «zur grössten Hoffnung der Demokratie werden».

Beck war von einer zukunftsoptimistischen Haltung geprägt, gebären die globalen Bedrohungen doch neue, gemeinwohlorientierte Handlungsformen und Lebensweisen. Die kosmopolitische Orientierung will die Renationalisierung verhindern. Doch gegen Becks Verabschiedung des Nationalstaates bleibt m. E. festzuhalten, dass dieser eine unverzichtbare Komponente auch weltpolitischen Handelns bleiben wird. Zugleich ist die Stärkung inter- und transnationaler Organisationen und Institutionen überlebensnotwendig.

Beck setzt bei seiner Metamorphose auf kosmopolitische Bündnisse und Gemeinschaften. Um den Klimakollaps aufzuhalten, braucht es neben lokalen Initiativen und globalen Bewegungen aber auch starke Institutionen. Dass er bei den zivilgesell schaftlichen Akteuren die Religionsgemeinschaften ausser Acht lässt, halte ich für einen gravierenden blinden Fleck auf seiner grünen Netzhaut. Religion kommt bei ihm nur als überholte vorneuzeitliche Machtinstanz in den Blick, nicht aber als lokale und globale Akteurin menschheitlich orientierter Gemeinschaften, in der das vage Kosmopolitische zum Beispiel mit dem gehaltvollen Katholischen ausbuchstabiert wird.

Von Theo-Religionen zu Techno-Religionen

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari hält in seinem Buch «Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen»3 den Homo sapiens für überholt. Dieser hatte die Welt erobert, seine Konkurrenten ausgerottet, seine tierischen Artgenossen domestiziert oder ausradiert. Der Homo sapiens hat vieles erfunden, auch Geschichten, welche sein Leben in einen göttlichen Horizont stellten. Die wissenschaftliche Revolution der Moderne brachte indes neue, humanistische Religionen hervor. Diese beteten den Menschen an. Sie waren von der Grundüberzeugung getragen, dass Homo sapiens über einen einzigartigen, heiligen Wesenskern verfüge. Der Humanismus heiligt laut Harari das menschliche Leben, das Glück und die Macht des Menschen; er unternimmt den Versuch, Unsterblichkeit, Glück und Göttlichkeit zu erlangen. Die neuen Technologien des 21. Jahrhunderts werden bislang unbekannte religiöse Bewegungen gebären. Harari nennt sie Techno-Religionen. Er unterscheidet den Techno-Humanismus und die Datenreligion. Während jener die Optimierung des Homo sapiens hin zum Homo deus anstrebe, behaupte der Dataismus, «die Menschen hätten ihre kosmische Aufgabe vollendet und sollten die Fackel nun an völlig neuartige Wesenheiten weitergeben». Den Techno-Religionen zufolge könnten Menschen durch Biotechnologie und Computeralgorithmen göttliche Fähigkeiten erlangen. Laut den Techno- Religionen reichen Veränderungen der DNA und Neuverdrahtungen im Gehirn, um Menschen mit optimierten körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu schaffen. Der Homo deus könnte dadurch «Zugang zu unvorstellbaren neuen Sphären» gewinnen und «uns zu Herren der Galaxie erheben». Harari hält fest, dass ein Upgrade des menschlichen Geistes ein ungeheuer kompliziertes und gefährliches Unternehmen ist, welches nur für Eliten in Frage komme.

Einen entscheidenden Schritt weiter gehe der Dataismus, der sich auf das Universum der Datenströme bezieht und davon ausgehe, dass irgendwann elektronische Algorithmen biologische Algorithmen entschlüsseln und hinter sich lassen. Begann der Dataismus als neutrale wissenschaftliche Theorie, so ist er inzwischen zur Religion mutiert. Deren oberster Wert sei der Informationsfluss und ihr höchstes Gut die Freiheit der Information. Die Datenverarbeitungssysteme würden durch das Heranwachsen der Ausgangsalgorithmen zu einem Masteralgorithmus derart komplex, dass kein menschliches Gehirn sie mehr begreifen könne. «Am Ende könnte das ‹Internet der Dinge› aus eigenem Recht sakrosankt werden.» Damit verschiebt sich die Macht weg von Menschen hin zu einer «gottgleichen Technologie», die laut Harari in Verbindung mit «grössenwahnsinniger Politik (…) der Katastrophe Tür und Tor öffnen würde». Angesichts dieses apokalyptischen Szenarios fordert der Historiker zu Recht eine kritische Überprüfung der dataistischen Dogmen; er verweist auf die Kritik, dass es zweifelhaft sei, ob sich Leben auf Datenströme reduzieren lässt. Meines Erachtens bedarf es allerdings auch einer Kritik an Hararis reduktionistischem Naturalismus. Es bedarf einer Kritik seines diffusen Begriffs von Religion, seines selektiven Umgangs mit der biblischen Geschichte und seines Lavierens zwischen Vergötzung und Verachtung der religio-technologischen Revolution. Geist lässt sich weder auf neuronale Aktivitäten reduzieren noch Gott zu Daten algorithmisieren.

Welches Wir? Welche Zukunft?

«Wir» signalisiert Zugehörigkeit. Wir gehören familiären, lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Gemeinschaften an. Wir sind Mitglieder von Berufs-, von Herkunfts- und Zukunftsgemeinschaften. Ulrich Becks kosmopolitisches «Wir» mag eine professorale Fiktion sein, Yuval Hararis techno-religiöses «Wir» der Traum von Milliardären aus dem Silicon Valley, welche an ihrer Unsterblichkeit arbeiten. Als abhängige endliche Wesen gehören wir zu diversen «Wir», die es noch nicht zu göttlichen Menschen respektive Übermenschen gebracht haben.

Was immer unsere Zugehörigkeit dokumentiert: Pass, Taufschein, Banking Card oder Burka – wir gehören verschiedenen «Wir» gleichzeitig an. Wir müssen also entscheiden, welches «Wir» wir kultivieren und praktizieren wollen. Pochen wir auf das Eigene (Switzerland first!) und suchen dieses gegen Bedrohungen durch Eindringlinge zu sichern? Setzen wir auf ein ausgrenzendes oder auf ein einbeziehendes Wir? Streben wir nach lupenreiner Identität in Homogenität, oder ist uns an einer auf die Anderen zugehenden Identität in Solidarität gelegen? Wollen wir unter uns bleiben und uns dazu einzäunen, oder wollen wir Brücken zu Fremden bauen?

Die amerikanische Philosophin Judith Butler entwirft in ihrem jüngsten Werk eine «performative Theorie der Versammlung»4. Bei Versammlungen handelt es sich ihr zufolge um «performative Inszenierungen», in denen im Zusammenkommen einer Menge etwas nicht nur Sprachliches geschieht. Es geht um ein körperliches und konstitutives Geschehen. Eine radikaldemokratische Verkörperung von Gleichheit findet statt. Butler denkt an strassenpolitische Inszenierungen der Occupy-Bewegung oder im Arabischen Frühling. Was diese Versammlungen fundamental von «Lynchmobs, antisemitischen, rassistischen oder faschistischen Versammlungen» unterscheidet, sind deren Gewaltlosigkeit sowie das Ziel, die «Schaffung tragfähiger Bedingungen für ein lebbares Leben anzustreben». «Wir, das Volk» erkennt Butler als «Bestandteil der Inszenierung, die wir Selbstkonstitution nennen». Was die Philosophin über performative Inszenierungen schreibt, gilt meines Erachtens nicht nur für politische Versammlungen, sondern auch für religiöse Zusammenkünfte. Gottesdienstliche Versammlungen, Kirchentage, Wallfahrten (l’église en marche) führen körperlich vor Augen, was religiöse Gruppen und Glaubensgemeinschaften bewegt und was diese wollen.

Religiöse Traditionen und Religionsgemeinschaften bringen in ihren rituellen Versammlungen häufig Bilder und Figuren der Vergangenheit ins Spiel. Sie greifen zurück auf sprachliche Bestände und performative Vollzüge ihrer jeweiligen Tradition. Solche Rückgriffe auf eine innovative Erinnerung aktivieren eine widerständige, zukunftsweisende Ressource. Das gilt sowohl gegen den wolkigen Zukunftstraum des Kosmopolitismus wie gegen den Alptraum eines technoreligiösen Übermenschen oder des gottgleichen Dataismus.

Für die biblischen Religionen bedeutet Schöpfung gerade nicht das, was die instrumentelle Auslegung, der auch Harari folgt, daraus ableitet. In der Genesis geht es nicht um den Auftrag Gottes an die Menschen, Herrschaft über die ihnen «unterworfene» Erde auszuüben. Vielmehr beinhaltet Schöpfung als Gottes Geschenk die Verbundenheit aller Lebewesen und den Auftrag, den Garten der Erde, das gemeinsame Erbe der Menschheit zu «bebauen», zu «hüten» und zu kultivieren, damit deren vielfältige Früchte allen zugutekommen. Entgegen dem von Papst Franziskus kritisierten «vorherrschenden technokratischen Paradigma» ist die Umwelt «ein kollektives Gut, ein Erbe der gesamten Menschheit und eine Verantwortung für alle»5. Aus der Schöpfungsgeschichte ergibt sich eine ganzheitliche Ökologie, die im Interesse des Gemeinwohls aller dem Raubbau an der Natur, der Umweltzerstörung und der dadurch bedingten Verelendung und Armut entgegentritt.

Das in der Schöpfungsgeschichte gebrauchte Bild der Gottebenbildlichkeit des Menschen besagt, dass allen Menschen als Bild Gottes eine fundamentale Gleichheit zukommt. Bild Gottes ist jeder Mensch, ob Säugling oder Greisin, Mann oder Frau, Einheimischer oder Migrantin, Intelligenzbestie oder zerebral Gelähmter. Die Gottebenbildlichkeit aller widerspricht dem Wahn vom Übermenschen wie dem Drang nach Selektion. Gottebenbildlichkeit spricht allen aufgrund ihres Menschseins eine unantastbare Würde zu. Die Genesis erkennt in uns Menschen zugleich inkarnierte, körperliche Wesen, die in ihrer Körperlichkeit verletzlich, fehlbar und vergänglich sind. Dass wir «Staub» sind und «zum Staub» zurückkehren müssen, bleibt ein Stein des Anstosses für Techno-Religionen, die daher den kurzlebigen, kohlenstoffbasierten Körper durch ein extrem haltbares, lithiumbasiertes Substrat ersetzen wollen. Die Gnosis lässt grüssen!

In der biblischen Tradition spielt die prophetische Kritik, die Harari völlig ausblendet, eine wichtige Rolle. Prophetische Kritik richtet sich gegen politisches, ökonomisches, gesellschaftliches und religiöses Unrecht. Im Namen des schöpferischen, befreienden und rettenden Gottes denunziert sie das Menschen angetane Leid. Sie klagt das Unrecht an, und sie macht sich für ein Zusammenleben stark, in dem Recht herrscht und die Güter der Erde solidarisch geteilt werden. Sie wendet sich nicht nur nach aussen, sondern immer auch nach innen. Sie klagt in der eigenen Gemeinschaft die schamlose Bereicherung und erbärmliche Ausbeutung an; und sie klagt Gerechtigkeit ein.

Gemeinschaftliches Zusammenleben gibt es nicht ohne Solidarität der Beteiligten. Wechselseitige Unterstützung und Hilfe halten Gemeinschaften zusammen. Auch Gesellschaften kommen nicht ohne Solidarität aus. Während Solidarität mit den «eigenen» Leuten sich aus dem Eigeninteresse plausibel machen lässt, verlangt die Solidarität mit den «Anderen» eine Perspektive, die das Nutzen-Kalkül überschreitet. In der in Arm und Reich gespaltenen Welt ist weltweite Solidarität gefragt. «Universale Solidarität» bezieht die zukünftigen Generationen ein, wie Papst Franziskus richtig, aber zu kurz gegriffen sagt. Die Politische Theologie insistiert darauf, dass universale Solidarität auch die erinnernde Solidarität mit den Opfern der Geschichte umfasst.6 Es handelt sich um eine Solidarität, welche die Vernichteten nicht vergisst, deren Leiden in Erinnerung ruft und für die Verlierer der Geschichte eine Zukunft erhofft.

In der jüdischen und christlichen Tradition steht «Reich Gottes» für die Vision und Verheissung eines friedvollen, solidarischen Zusammenlebens der Menschen. Für Christinnen und Christen ist «Reich Gottes» zugleich Inbegriff der in Jesu Person und Praxis geschehenden Gottesherrschaft. Die Vater-Unser-Bitte «Dein Reich komme» ist Ausdruck des Verlangens nach heilsamer und befreiender Beendigung der Kriegs-, Konflikt- und Leidensgeschichte. Darin drückt sich die Hoffnung aus, dass es bei Gott eine Zukunft für alle gibt, für die Lebenden und die Toten.

 

 

1 Kurzfassung der Abschiedsvorlesung von Edmund Arens an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern am 24. Mai 2017. Der engagierte Professor für Fundamentaltheologie sprach vor zahlreich erschienenen Gästen.

2 lrich Beck: Die Metamorphose der Welt, Berlin 2017.

3 Yuval Noah Harari: Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, München 2017.

4 Judith Butler: Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung, Berlin 2016.

5 Papst Franziskus: Die Enzyklika «Laudato si’». Über die Sorge für das gemeinsame Haus, Freiburg/Basel/Wien 2015.

6 Vgl. Helmut Peukert: Wis senschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung. Mit einem neuen Nachwort, Frankfurt/M. 32009, und Johann Baptist Metz: Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg/ Basel/Wien 32011.

Edmund Arens

Edmund Arens

Prof. Dr. Edmund Arens ist ordentlicher Professor für Fundamentaltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.