Von Mekka über Abessinien nach Solothurn

Ob mein Engagement bei der Gemeinschaft Christen und Muslime in der Schweiz einfach nur Schicksal oder herausfordernde Folge meines bisherigen Werdegangs ist, habe ich mich schon oft gefragt.

Die Völkerwanderung ist ein Thema, das die Menschheit in ihrer Geschichte schon immer beschäftigt hat. Die Motive, die einen Menschen oder eine Gruppe dazu bewegen, in der Ferne eine Existenz aufzubauen, sind sehr unterschiedlich. Ebenso vielfältig sind die Bedürfnisse der eingewanderten und der einheimischen Menschen. Bereits in den ersten Jahren der islamischen Geschichte kam das Bedürfnis auf, die Existenz in der Fremde auf dem afrikanischen Kontinent aufzubauen.1

Die zunehmende Unterdrückung der gläubigen Muslime als Minderheit unter Polytheisten in Mekka machte ihr Leben unerträglich. Mit dem Einverständnis des Propheten Mohammed (Fsmi) haben zwei kleine Gruppen von Muslimen die ersten Auswanderungen wahrgenommen. Dies geschah in den Jahren 614 und 615. Unter ihnen die Tochter des Propheten, Rukiye, und Osman bin Affan, der später der dritte grosse Khalif werden sollte.

Die Reise sollte nach Abessinien (heute Äthiopien) gehen. Man wusste, dass der abessinische König Negus ein Christ war. Ein überzeugter Monotheist und bekannt für seine Gerechtigkeit. Der Prophet hatte den Auswanderern gesagt, dass er ein König ist, in dessen Land niemand unterdrückt wird. Sie wurden vom abessinischen König mit offenen Armen empfangen. Doch daran störten sich die Mekkaner sehr und sandten eine Gruppe zum abessinischen König, um ihn zur Auslieferung der Muslime zu bewegen. Der christliche König bestand darauf, die Immigranten anzuhören, und rief einige von ihnen zu sich. Cafer bin Ebu Talip nannte den Grund ihrer Auswanderung aus Mekka: «Wir waren eine ungebildete Volksgruppe. Wir haben unser Leben mit Trinken, Glücksspielen und Unsittlichkeiten verbracht. Wir hatten getötet. Gemeinnützliche Aktivitäten hatte in unserem Leben kein Platz. Gott hat uns einen Propheten gesandt. Der Gesandte Gottes Mohammed (Fsmi) hat uns auf den richtigen Weg gebracht. Hat uns das Nützliche und das Gute gelehrt.» Darauf fragte der König die Muslime nach Jesus und Maria, und Cafer bin Ebu Talip rezitierte die Koransure Meryem: «Wir sagen über ihn, was unser Prophet uns geoffenbart hat, nämlich, dass er der Diener Gottes und sein Prophet sei, was Er der Jungfrau Maria eingegeben hatte.» Der König war gerührt von der Bezeugung der Muslime und gewährte ihnen Schutz in Abessinien. Die Ausgewanderten waren die erste islamische Volksgruppe auf dem afrikanischen Kontinent. Sie liessen sich in der Gegend Tigray im Norden Abessiniens nieder. Durch ihr beispielhaftes Verhalten haben viele Abessinier den islamischen Glauben angenommen. Auch der erste Muezzin des Islam, Bilali Habeschi, war ein Abessinier. König Negus gab den Muslimen Schutz und Gerechtigkeit und fand Platz im Herzen aller Muslime.2

An der Zukunft der Schweiz mitwirken

Wie die ersten Muslime Abessiniens möchten wir Schweizer Muslime, mit oder ohne Migrationshintergrund, unsere Existenz in dieser Gesellschaft wahren können. Wir leisten unseren Anteil für die Gesellschaft in der Schweiz und möchten es weiterhin tun, möchten an der Zukunft der Schweiz gemeinsam mitwirken, für die gesellschaftlichen Problemen gemeinsame Lösungswege suchen, miteinander leben und sterben können. Die GCM hat eine langjährige Tradition im Dialog zwischen den Angehörigen der beiden Religionen Christentum und Islam in der Schweiz. Sie ist paritätisch organisiert: Christen und Muslime, Frauen und Männer. Das Klima im Vorstand ist dadurch äusserst angenehm.

Das zurzeit leider eher unschöne weltweite Geschehen und dessen Hintergründe interessieren uns sehr. Dank der sehr hohen Kompetenz der christlichen und muslimischen Vorstandsmitglieder können bei der GCM auch heikle Themen mit einer gesunden Distanz und losgelöst von nicht immer neutralen Medien diskutiert werden. So reizvoll Gespräche über weltweite Geschehnisse sind, sie zählen nicht zu unseren Kernthemen. Uns interessiert vor allem das Zusammenleben der Christen und Muslime in der Schweiz. Die GCM ist eine ideale Plattform, wo wir über die verschiedensten Bedürfnisse der muslimischen Minderheit sowie der christlichen Mehrheit in der Schweiz konstruktiv sprechen können. Wir suchen eher die schönen Gemeinsamkeiten als Spannungen. Dies gibt uns die Chance, sowohl die beiden Religionen in ihrer Vielfalt kennenzulernen als auch die Geschichte beider Religionen besser nachzuvollziehen, und einander als angenehmen Nebeneffekt viel Kulturelles zu vermitteln. Bei meinem Engagement bei der GCM halte ich mich immer wieder gerne an den Leitsatz von Mevlana Celâleddin Rumi: Wir lieben die Schöpfung mit den Referenzen des Schöpfers.

 

1 Ibn Ishaq: Das Leben des Propheten. Aus dem Arabischen übertragen und bearbeitet von Prof. Dr. Gernot Rotter o. J.

2 Ob der König Negus in seinem Leben den islamischen Glauben angenommen hat oder nicht, dafür habe ich keine klare Quelle gefunden. Es gibt Quellen darüber, dass der Prophet Mohammed (Fsmi) für ihn das Gebet verrichtet hat, als er erfuhr, dass er gestorben ist.

Nadir Polat

Nadir Polat ist Architekt und Geschäftsführer. Er lebt mit seiner Familie in Grenchen und engagiert sich als Co-Präsident der Gemeinschaft Christen und Muslime in der Schweiz (GCM) www.g-cm.ch