Alte und neue Perspektiven finden

Seit 1991 arbeiten MuslimInnen und ChristInnen im Verein «Gemeinschaft Christen und Muslime in der Schweiz» (GCM) zusammen für ein besseres Zusammenleben der Religionsgemeinschaften, für gegenseitiges Kennenlernen und für Lösungen konkreter Herausforderungen im Alltag.

Aus der Friedensbewegung, die unter dem Eindruck des Ersten Golfkriegs entstand, wurde die Gemeinschaft im Kanton Bern gegründet. Das erste Präsidium des Vereins hatten Samia Osman, Sportwissenschaftlerin aus Ägypten, und Albert Rieger, theologischer Leiter der Fachstelle für Fragen von Migration und Ökumene der evangelisch-reformierten Kirchen Bern Jura Solothurn, inne. Es gelang in den 90er-Jahren, mit einem engagierten Vorstand die GCM zunächst im Kanton Bern und schliesslich über ihn hinaus zu etablieren. In vielfältigen Veranstaltungen, teils grosszügig unterstützt, wurden der Islam und seine alltäglichen Lebensformen der Bevölkerung an verschiedenen Orten der Schweiz nähergebracht. Die Schönheit der Religion, das offene Interesse an ihr und an einander war und ist im Grund verheissungsvoll.

Geduldig und gut vernetzt

Seit 9/11 kam es in der Gesellschaft zu einem Paradigmenwechsel. Gegenseitiges Misstrauen, Angst und Verdacht wuchsen. Einige stritten sich, gaben auf, distanzierten sich, versuchten zu dominieren oder gerieten anders in die weit über uns reichenden Wirbel der weltweiten Unübersichtlichkeit. Es braucht Geduld, im eigenen und im anderen spirituellen Zuhause, in politischen Gräben, in und zwischen Nationen und auch innerhalb der in ihnen wirksamen Kräfte dranzubleiben und sich nicht unnötig zu isolieren.

Dennoch konnte die GCM einiges erreichen, zum Beispiel in der Friedhofsfrage, mit Faltblättern zum Kindergarteneintritt (in fünf Sprachen), zu bi-religiösen Familien oder zu Spitalaufenthalten. Besonders in der steten Freundschaftspflege zum Haus der Religionen, schon in seinen Provisorien, zeigt sich eine segensreiche Kooperation. Freunde und Freundinnen beider Religionen, die einander nicht bekehren wollen, haben sich gut vernetzt und zeigen, dass es trotz nicht wenigen pessimistischen Unkenrufen gelingt, miteinander fair und gelegentlich auch fröhlich hier zu leben.1

Gott liebt Vielfalt

Menschen mit unterschiedlichen ethnischen und biografischen Hintergründen verstehen ihr Glaubensleben unterschiedlich. Das finden wir in der GCM gut. Meine Glaubensherkunft lädt mich ausdrücklich ein, offen und freundlich für andere da zu sein, so gut ich es vermag. Und als Bürgerin weiss ich, dass die Gesellschaft davon lebt, dass viele sich unabhängig von ihrem Glauben für friedliche Formen des Zusammenlebens einsetzen. Es ist sinnvoll, für den Milizeinsatz ein Gebiet zu wählen, das eine/n etwas angeht, im persönlichen Leben betrifft und auch anderen Menschen aus anderen Familien etwas bedeutet.

Im November 2012 übernahmen Nadir Polat, Architekt aus Grenchen, und ich gemeinsam das Präsidium in der Nachfolge von Rifa’at Lenzin und Luzius Jordi. Nach Albert Rieger hatte Thomas Markus Meier für neun Jahre das christliche Co-Präsidium ausgeübt; nach drei Co-Präsidenten übe ich nun das Co-Präsidium als erste Frau aus – bei den Muslimen ist es gerade umgekehrt, wo als dritter Co-Präsident erstmals ein Mann wirkt. Esma Isis Arnautovic referierte damals an der Jahresversammlung im Refektorium der Offenen Elisabethenkirche über Erfahrungen mit dem Kopftuch, und ich erschrak. Lilo Roost Vischer erklärte, wie es den Aleviten gelungen war, in Basel eine kleine Anerkennung ihrer Glaubensform zu erwirken, was für die Sunniten nicht gerade einfach war, weil sie viel mehr Leute sind, das verstand ich. Von Anfang an war klar: Ab jetzt kann ich entlang von Fragen der Lebensgestaltung und Anerkennung meine Perspektiven erweitern. Denn nicht übereinander, sondern miteinander möchten wir bestimmen, wozu wir gemeinsam Ja und Nein sagen, was wir unternehmen, worüber wir streiten oder wann es am ehesten das gemeinsame Schweigen ist, das uns daran erinnert, dass alle Menschen Geschwister sind.2

Als Vorstandsmitglieder3 und als Verein stehen wir einander beratungs- und hilfsbereit zur Seite. Dort, wo wir sind, im täglichen Leben, in Veranstaltungen, die wir organisieren oder zu denen wir eingeladen werden, möchten unser Wissen und unsere Erfahrungen zum Wohl der Gemeinschaft zwischen Menschen, die «dem Islam» und «dem Christentum» angehören, beitragen. Dies setzt unter anderem einen differenzierten Blick auf intrareligiöse Konstellationen voraus und die Bereitschaft, Geduld zu lernen.

Wie es einem Land geht, das sieht man gut daran, wie es den Minderheiten in ihm geht – oder: das Wohl der Starken misst sich am Wohl der Schwachen.4 Dieser Satz und unser Engagement, glaube ich, sind bedeutungsvoll für ein zukunftsfähiges Verständnis von Religionsfreiheit.

 

1 Im Archiv der GCM ist eine namhafte Reihe von Personen dokumentiert, welche von dieser Vernetzung zeugen.

2 Die Ausstellung «Denn alle Menschen sind Geschwister» der reformierten Kirchen Bern Jura Solothurn, bes. Mathias Tanner der Abt. OeME, hat in vielen Kirchgemeinden der drei Kantone zu Gesprächen angeregt.

3 Aktuell sind sechs Leute im Vorstand: Nadir und Sevim Polat; Lamya Hennache, lic. jur.; Dr. theol. Angela Büchel Sladkovic; Dr. theol. Thomas Markus Meier und Kathrin Rehmat, ev.-ref. Pfarrerin. Anna Tekako führt das Sekretariat. Mitglieder und Interessierte umfassen die letzten fünf Jahre zwischen 120 und 300 Personen. Weitere Info auf facebook oder unter: www.g-cm.ch

4 Dieses Wort von A. Muschg begründet mit, was in der Präambel und in BV § 15 verbindlich verfasst ist und z. B. bei Gotthold Ephraim Lessing in «Nathan der Weise» exemplarisch anschaulich zum allgemeinen Grundwissen gehört. Darauf bauen wir auf, so üben wir.

Kathrin Rehmat-Suter

Kathrin Rehmat-Suter ist evang.-reform. Pfarrerin in Biel mit Schwerpunkt Theologie und Spiritualität. Sie engagiert sich als Co-Präsidentin der Gemeinschaft Gemeinschaft Christen und Muslime in der Schweiz (GCM), www.g-cm.ch