Das Sozialkapital der Schweizer Jihadisten

Karl Gerstner zu Tastir-Mosaiken, in: du 7/8 1994.

Radikalisierung religionswissenschaftlich zu erklären. Der Beitrag reflektiert die religiöse Aufladung radikalen Verhaltens aufgrund eines verstörten Sozialkapitals.

Im Frühjahr 2015 machte sich der 24-jährige Khaled auf den Weg zum Zürcher Flughafen. Die geplante Reise nach Istanbul trat der Schweizer mit libanesischen Wurzeln jedoch nie an. Da er sich dem sogenannten «Islamischen Staat» anschliessen und als Märtyrer sterben wollte, warteten bereits Polizeibeamte mit einem Haftbefehl auf ihn. Während Khaled bei seiner Ausreise scheiterte, konnten sich laut Nachrichtendienst des Bundes seit 2001 88 Personen von der Schweiz aus jihadistischen Gruppen im Ausland anschliessen, insbesondere nach der Proklamation des Kalifats in Syrien und im Irak durch IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi. Was bewegt die zumeist jungen Männer dazu, ihr Zuhause in der Schweiz zu verlassen um sich radikalislamischen Gruppen in Kriegsgebieten anzuschliessen?

Ungenügende Erklärungsansätze

Häufig wird vermutet, dass Jihad-Reisende per se ungebildete, sozial schwache und gar psychisch kranke Menschen aus zerrütteten Familien sind, die sich allein im Internet radikalisieren und daraufhin auf eigene Faust ausreisen. Tatsächlich mögen Aspekte von Khaleds Leben einige dieser Ansichten bekräftigen. Wie einige Schweizer Jihad-Reisende wuchs Khaled in Winterthur auf. Seine Eltern lebten getrennt. In der Oberstufe war Khaled verhaltensauffällig und in psychologischer Behandlung. Danach machte er eine Anlehre, arbeitete jedoch daraufhin immer wieder in Gelegenheitsjobs. «Sein Erfolg ist nicht nur im Berufsleben, sondern im allgemeinen Leben ausgeblieben», beschrieb es Khaleds Verteidiger während des Prozesses im vergangenen Jahr.

Dennoch galt seine Familie nicht als extremistisch, sondern ging tolerant mit verschiedenen Islam-Interpretationen um. Und durchaus teilten nicht alle Schweizer Jihadisten die gleichen Probleme wie der Winterthurer. Fast ein Fünftel der hiesigen Jihad-Reisenden sind Konvertiten, unter denen sich vorbildliche Lehrlinge, erfolgreiche Sportler und Akademikerkinder befinden. Ebenso erleiden auch Tausende junge Erwachsene in Zürich, Basel und Bern das gleiche Schicksal wie Khaled, aber die wenigsten von ihnen kommen auf die Idee, Märtyrer zu werden. Warum kommen dann ausgerechnet mehr Ausreisende aus Winterthur (17 Prozent) als aus jeder anderen Schweizer Stadt?

Das Sozialkapital radikaler religiöser Gemeinschaften

Um die geschilderten Umstände zu verstehen, muss der Jihadismus als eine religiöse Bewegung und daher kollektives Phänomen verstanden werden. Sozialwissenschaftliche Studien belegen, dass die effektive Ausübung (religiösmotivierter) politischer Gewalt Kooperation und Ressourcen bedarf.1 Im Fall von Jihad-Reisenden benötigen diese zudem Schmugglernetzwerke und Empfehlungsschreiben, um sich dem IS in Syrien oder Irak anzuschliessen, wie das Leak von IS-Einreisedokumenten vor einem Jahr belegte. Schliesslich sind Radikalisierung und Rekrutierung selbst stark durch vorherige soziale Beziehungen kanalisiert.2

Wo immer soziale Bewegungen Ressourcen wie Mitglieder oder verschiedene Mittel der Politik (einschliesslich Gewalt) mobilisieren müssen, um ihre Ziele zu erreichen, ist deren Sozialkapital essenziell. In Anlehnung an James Coleman3 kann jenes als Aspekte sozialer Strukturen definiert werden, die kollektive Handlungen zum Vorteil von Gruppen und deren Mitgliedern fördern. Es ist somit wie andere Formen von Kapital produktiv. Viele Sozialwissenschaftler subsummieren unter Sozialkapital Vertrauen, welches durch zwei weitere Variablen, Normen und Netzwerke, beeinflusst wird.

Die politik- und religionswissenschaftliche Forschung betonte bisher die positiven Effekte des Sozialkapitals (religiöser) zivilgesellschaftlicher Ak teure auf die demokratische politische Kultur einer Gesellschaft. Der Mangel an Studien zu negativen Konsequenzen von Sozialkapital ist hingegen überraschend. Bereits Robert Putnam warnte davor, dass der inklusive oder exklusive Charakter von Sozialkapital davon abhängt, wie sich Gruppen sozialstrukturell konstituieren und welche Normen für sie inhärent sind.4 Das bedeutet im Fall religiöser Gemeinschaften, dass diese einerseits als pluralistische Gruppen mit prosozialen Normen tolerante Anhänger hervorbringen können. Andererseits besteht aber eben die Möglichkeit, dass abgeschottete und strikte Sekten mit absoluten Wahrheitsansprüchen Aussenstehende dämonisieren oder sogar die Tötung dieser legitimieren.

Der «Islamische Staat» als Sekte

Durchaus bestehen aus religionswissenschaftlicher Sicht sozialstrukturelle Parallelen zwischen Sekten5 und jihadistischen Terrororganisationen. Einige Religionssoziologen betonen die Bedeutung vorheriger sozialer Beziehungen bei der Konversion von Sektenanhängern.6 Während des Prozesses wiederholender sozialer Interaktionen mit Anhängern ist die Ideologie der Konvertiten weniger gefestigt. Konversion findet tatsächlich erst dann statt, wenn die persönlichen sozialen Bindungen zu Mitgliedern der neuen Gemeinde überwiegen. Daher überrascht es nicht, dass viele Konvertiten oder «wiedergeborene» Muslime wie Khaled theologisch nicht sonderlich versiert sind.

Auch Khaled zählte irgendwann nur noch seine «Brüder von der Moschee» zu seinen Kollegen. Der Winterthurer gehörte dann schon einer verschworenen Gruppe von zwei Dutzend jungen Muslimen an der berüchtigten An’Nur-Moschee an, von denen fast die Hälfte nach Syrien ausreiste. Viele der Jugendlichen und jungen Erwachsenen kannten sich bereits zuvor, waren befreundet oder verwandt, besuchten dieselbe Schule oder lebten im selben Quartier. Die Sozialkapitaltheorie bezeichnet solche Beziehungsgefüge als starke Bindungen.7 Khaled und seine Freunde betrieben zudem gemeinsam salafistische Missionierung im Rahmen der Koran-Verteilaktion «Lies» oder trainierten in einem islamischen Kampfsportstudio. Schliesslich ging Khaled jeden Tag in die Moschee und hatte keine Zeit mehr für etwas anderes.

«Ich wollte Märtyrer werden»

Diese extreme Hingabe ist typisch für Sekten, da diese mittels strikter Normen Isolation und Segregation provozieren. Dieser Antagonismus kann nach der «Theorie der effizierten Intoleranz»8 lukrativ und von radikalen Predigern intendiert sein, denn es fördert die Salienz (Auffälligkeit) von Gruppen-Identitäten. Zuletzt konsumierte Khaled fast nur noch jihadistische Propaganda. Texte von al-Qaida-Führern wie Abu Musab al-Zarqawi, Anwar al-Awlaki und Abu Muhammad al-Maqdisi vermittelten ihm ein auf Opfernarrativen, Rachegefühlen und Hass gegenüber Andersgläubigen basierendes manichäisches Weltbild: die unterdrückte Umma, die Gemeinschaft der Muslime, gegen «die Kreuzfahrer» und den Rest der Welt.

Nach und nach reisten Khaleds Freunde nach Syrien aus. Wie in jeder klandestinen und exklusiven Gruppe erleichterten die starken Bindungen innerhalb des Netzwerkes Winterthurer Jihadisten nicht nur soziale Kontrolle, sondern förderten desgleichen Loyalität. So erklärte Khaled: «Ich wollte einfach zu meinen guten Kollegen (nach Syrien) und diese nicht einfach so im Stich lassen.» Viele seiner Freunde starben dort den «Märtyrertod». Jihadisten betrachten die Selbstopferung im Kampf gegen «die Ungläubigen» als eine individuelle Pflicht jedes Moslems und paradoxerweise als eine altruistische Tat für den Islam und die Umma. Auch Khaled wollte diesen Weg gehen, wie er gegenüber seiner Frau und dem Richter äusserte. Es war bereits alles in die Wege geleitet. Die Moschee-Gemeinschaft verabschiedete ihn, und die Kontakte in Istanbul und an der türkisch-syrischen Grenze, die bereits Khaleds Freunde in den «Islamischen Staat» geschmuggelt hatten, waren hergestellt. Zum Glück von Khaled und seiner jungen Familie kamen die Behörden jedoch dem Winterthurer zuvor.

Schlussfolgerung

In der Religionswissenschaft sind jihadistische Radikalisierung und Rekrutierung nicht unbedingt ein neuer Forschungsgegenstand. Die Sozialkapitaltheorie mit Berücksichtigung der bisherigen Sektenforschung hegt ein Erklärungspotenzial, welches auch einen Beitrag zu der Debatte über die Rolle des Islam bei der Radikalisierung zum Jihadismus leisten kann. Während Rechtspopulisten eine ganze Religion verantwortlich machen, behauptete kürzlich der renommierte französische Politikwissenschaftler Olivier Roy, dass kein Zusammenhang zwischen dem Islam und Jihadismus bestehe. Beide Positionen pauschalisieren und verkürzen das Problem. Der Islam ist kein monolithischer Block, sondern heterogen. Dabei stellt der Jihadismus eine salafistische Sekte innerhalb des Islam dar. Unabhängig davon, dass sie eine kleine Minderheit sind, beanspruchen Jihadisten für sich, den «wahren» Islam zu vertreten. Dies zu berücksichtigen ist bedeutend, um deren Motive zu verstehen. Zugleich weist die Kontextualität religiösen Sozialkapitals darauf hin, dass Abgrenzung, Konflikte und religiöse Gewalt kein alleiniges Merkmal des Islam sind, sondern deren Aufkommen in verschiedenen religiösen Traditionen zugleich immer auch historisch, politisch und gesellschaftlich bedingt ist.

 

1 Siehe u. a. Charles Tilly: The Politics of Collective Violence (2003), und Anthony Oberschall: Explaining Terrorism, The Contribution of Collective Action Theory (2004) in Sociological Theory 22.

2 Siehe u. a. Marc Sageman: Understanding Terror Networks (2004) und Leaderless Jihad (2008).

3 James S. Coleman: Foundations of Social Theory (1990), 302.

4 Robert D. Putnam: Bowling Alone, The Collapse and Revival of American Community (2000), 358.

5 Der Begriff Sekte soll hier nicht im normativen, sondern im sozialstrukturellen Sinne Verwendung finden. Im Gegensatz zu Kirchen, welche konventionelle religiöse Organisationen mit lockeren Normen, geringer Hingabe und Teilnahme ihrer Mitglieder sowie geringen Konflikten mit der sozialen Umwelt darstellen, sind Sekten als theologisch abweichende Organisationen mit strikten Normen definiert, deren Mitglieder einen hohen Grad an Teilnahme und Hingabe aufweisen und sich in einem starken Spannungsverhältnis mit der sozialen Umwelt befinden. Siehe dazu Rodney Stark und William Sims Bainbridge: A Theory of Religion (1996) und Rodney Stark und Roger Finke: Acts of Faith (2000).

6 Siehe u. a. Rodney Stark und William Sims Bainbridge: Networks of Faith. Interpersonal Bonds and Recruitment to Cults and Sects (1980) in: American Journal of Sociology 85.

7 Mark S. Granovetter: The Strength of Weak Ties (1973) in: American Journal of Sociology 78.

8 Eli Berman: Sect, Subsidy and Sacrifice (1998), http://www.nber.org/papers/w6715.pdf

Johannes Saal

Johannes Saal ist nach seinem Masterabschluss in Religion, Wirtschaft und Politik an den Universitäten Luzern, Basel und Zürich seit September 2015 in Luzern tätig als Doktorand in Politikwissenschaft an der Graduate School of Humanities and Social Science der Universität Luzern und dem Department of Defense Analysis der Naval Postgraduate School. Sein Forschungsprojekt wird vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert.