Von Juden und Christen

«O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!» (Röm 11,33)

Die Urkirche war mit einem überraschenden Phänomen konfrontiert: Auf einmal schliessen sich der jüdischen Messiasbewegung um den Auferstandenen Jesus auch Nichtjuden an. Heiden, die sich schon lange vom Judentum angezogen fühlten, kamen zum Glauben an ihn. Sie wollten zusammen mit den Judenchristen Mahl halten und im Tempel opfern. Doch macht das Sinn, wenn sie im Alltag nicht nach jüdischen Vorschriften leben, wenn Jesus zu seinen Lebzeiten die Tora für Juden ausgelegt und Jüdisch- Sein vorgelebt hat? Für die Urkirche lag es nahe zu verlangen, dass Heiden zuerst Juden werden, sich beschneiden lassen und nur so Christus nachfolgen können. Doch sie wird eines anderen Weges geführt.

Am Anfang einer Entwicklung

Lukas schildert in der Apg 10 f. am Beispiel des Cornelius, wie das Hinzukommen von Nichtjuden durch Gottes Geist gewirkt wird. Paulus seinerseits sieht seine Berufung darin, Völkerapostel zu sein. Leidenschaftlich setzt er sich dafür ein, dass Nichtjuden zur Kirche gehören. Sie sollen ethisch gemäss der Tora leben, doch die Ritualgebote müssen sie nicht halten. Im sogenannten Konzil von Jerusalem (Apg 15) wird diese Position sanktioniert. So unterläuft die Urkirche die jüdische Mission unter den Heiden, bis diese in der Kirche aufgeht. Resultat sind das rabbinische Judentum und das Christentum aus Heiden. In einem komplexen Interaktionsverhältnis haben beide die Hebräische Bibel neu gedeutet; je jenseits eines Tempels in Jerusalem und angesichts der Geschichte, die Jesus als Christus ausgelöst hat. Dazwischen wird die jüdisch-christliche Kirche zerrieben.1

Die Evangelien wie auch Paulus stehen am Anfang dieser Entwicklung. Die Evangelien wollen die Augen für einen Messias öffnen, der für Juden wie Nichtjuden eine Botschaft hat. Paulus reflektiert darüber im Römerbrief. Seine Gedanken erreichen in Röm 9–11 ihren Höhepunkt. Für ihn ist selbstverständlich: Gottes Bund mit den Juden als dem Volk Gottes bleibt (11,1). Er muss aber erklären, wie auch ein Volk Gottes aus den Heiden entsteht. Er will auch verstehen, warum nicht alle Juden diese Entwicklung anerkennen.

Umgekehrte Perspektive heute

Wenn wir heute Paulus lesen, ist die Perspektive genau umgekehrt: 2000 Jahren lang hat sich die Kirche als das einzig legitime Volk Gottes gesehen. Sie muss lernen, dass Juden weiterhin Volk Gottes sind. Diese Wende hat das Vatikanum II gebracht, das mit Nostra Aetate 4 die herkömmliche Theologie des Judentums vom Kopf wieder auf die Füsse stellte.2 Röm 9–11 spielte dabei eine entscheidende Rolle. Paulus zählt darin die bleibenden Vorzüge des Bundes vom Sinai auf. (9,4 f.) Er, der von sich sagt, nicht mehr er lebe, sondern Christus in ihm (Gal 2,20), und der bekennt, dass ihn nichts von der Liebe Christi trennen könne (Röm 8,35), bekräftigt: «Ja, ich möchte selber verflucht und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind» (9,3). Kräftiger kann Paulus zu den Juden als Volk Gottes kaum stehen. Dass viele Juden Christus aber nicht als «Ziel des Gesetzes» sehen (10,4), ist ein Schmerz für ihn. Er sieht darin aber ein Handeln Gottes (11,25–32): Die Nichtjuden, die sich Christus anschliessen, sollen die Juden eifersüchtig machen. Was das Heil betrifft, sollen alle durch Gottes Barmherzigkeit gerettet werden. Das Nein der Juden zu Christus hat also sogar eine positive Seite: Nicht- Juden finden dadurch zur Kirche. Mit einem Hymnus auf dieses geheimnisvolle Handeln Gottes schliesst Paulus (11,33–36).

Zahlreiche Detailfragen, wie die Kirche heute zum Judentum steht, werden diskutiert. Doch seit Nostra Aetate steht fest, dass der irdische Jesus und die Urkirche innerjüdische Grössen waren. Selbst das NT deutet das Christusereignis mit Hilfe der Hebräischen Bibel.3 Auch hier ist die Lesart heute oft umgekehrt! So wurde seit dem Konzil das AT aufgewertet. Zudem wird anerkannt, dass Juden ihre Bibel anders lesen (vgl. Päpstliche Bibelkommission: Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel, 2001). Das Judentum hat bis heute eine positive, heilsgeschichtliche Bedeutung. Die Kirche ist nicht an seine Stelle getreten. Das Reden vom «nie gekündigten Bund» seit Johannes Paul II. steht dafür.4 Papst Franziskus bekräftigte in Evangelii gaudium: «Gott wirkt weiterhin im Volk des Alten Bundes» (249). Das Judentum heute ist weder der Glaube des AT noch einfach eine fremde Religion für Christen. Nostra Aetate spricht davon, dass die Religionen Antworten der Menschen auf die grossen Fragen des Lebens darstellen (NA 1). Sie enthalten Strahlen der göttlichen Wahrheit (NA 2). Beim Judentum ist es anders: Juden antworten in der Folge Abrahams bis heute auf Gottes Initiative, wie sich auch die Kirche Gottes Ruf verdankt. Judentum und Christentum sind nicht einfach «Religion ». So wird der Abschnitt zum Judentum in NA in neuer Perspektive eröffnet: «Bei ihrer Besinnung auf das Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem Stamme Abrahams geistlich verbunden ist.» Die Kirche stösst beim Denken über ihr Wesen auf einen Anderen. Juden sind für Christen das «Sakrament des Andern» schlechthin. Beide verdanken sich einer Berufung.

Juden- und Christentum als Geschwisterreligionen

 In Röm 11,13–24 benutzt Paulus die Metapher vom Ölbaum und sagt, die Heidenchristen seien wie fremde Schösslinge in den Ölbaum eingepflanzt. Davon inspiriert wird seit dem Konzil oft gesagt, das Judentum sei Wurzel des Christentums. Diese Redeweise ist jedoch irreführend. Die Hebräische Bibel hat einen doppelten Ausgang, wie wir oben gesehen haben. Judentum und Christentum sind Geschwisterreligionen, das Judentum nicht Mutterreligion des Christentums. Johannes Paul II. nannte die Juden die «älteren Brüder im Glauben». Historisch wie theologisch ist diese Metapher angemessen, denn schon das Gleichnis vom barmherzigen Vater mit den beiden Söhnen (Lk 15,11–32) dürfte auf Juden und Christen gemünzt gewesen sein. Zudem spricht auch Paulus nicht davon, die Heidenchristen wären als wilde Schösslinge ins Judentum eingepfropft. In Röm 11 ist die Wurzel des Ölbaums Abraham, der Stamm aber Jesus Christus, während die Ölbaumzweige die Juden – sofern herausgeschnitten – bzw. die Judenchristen – sofern belassen – sind. Die wilden Schösslinge sind die Heidenchristen.5 Sie werden ermahnt, sich nicht stolz gegenüber den Judenchristen zu verhalten (11,18). Diese Ermahnung gilt heute der Kirche gegenüber dem Judentum.

 

Zum jüdisch-katholischen Dialog

Dokumentationsseite: www.nostra-aetate.uni-bonn.de;

Kompetenzzentren: www.unilu.ch/fakultaeten/tf/institute/institut-fuer-juedisch-christliche-forschung-ijcf/; www.zuercher-lehrhaus.ch

Dokumente zum Tag des Judentums: www.bischoefe.ch/fachgremien/juedisch-roemisch-katholisch

 

 

 

1 Vgl. Hans Herrmann Henrix: Judentum und Christentum. Gemeinschaft wider Willen? Regensburg 2004; Christian Rutishauser: Christsein im Angesicht des Judentums. Würzburg 2008.

2 Vgl. Franz Mussner: Traktat über die Juden. München 1988.

3 Frank Crüsemann: Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen. Die eine Sicht der christlichen Bibel. Gütersloh 2011.

4 Zur Frage ein oder mehrere Bünde: John Pawlikowski: Judentum und Christentum, in: TRE 17, 1988, 393–402.

5 Maria Neubrand: «Eingepfropft in den edlen Ölbaum» (Röm 11,24): Der Ölbaum ist nicht Israel, in: Biblische Notizen. Neue Folge, 105/2000, 61–76.

Christian M. Rutishauser

Christian Rutishauser

P. Dr. Christian Rutishauser SJ ist Provinzial der Schweizer Jesuiten