Die bleibende Aktualität des zweiten vatikanischen Konzils (I)*

A. Voraussetzungen des Konzils in der Schweiz

Das Zweite Vatikanische Konzil war das bedeutendste Ereignis der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts – zumindest für die römisch-katholische Kirche. Dieses Ereignis steht aber nicht unvermittelt da: Es hat seine Vorgeschichte, und es hat seine Wirkungsgeschichte. Diese Geschichten sind aber nicht nur Kirchengeschichte, denn die Kirche lebt in einer gegebenen Zeit und in einem gegebenen Raum. In meinem ersten Beitrag werde ich deshalb zum einen jenen Vorgängen und Entwicklungen nachgehen, die auf das Konzil hingeführt und es auch beeinflusst haben. Sowohl das Zweite Vatikanische Konzil wie eine erste Phase der Konzilsrezeption fielen in die Zeit der langen «sechziger Jahre» zwischen 1958 und 1974,1 in der die westliche Welt tiefgreifende kulturelle Wandlungen erlebt hat. Kirchengeschichtlich markiert das Jahr 1958 mit dem Pontifikatswechsel von Pius XII. zu Johannes XXIII. das Ende der pianischen Ära, das heisst jener Zeit, die mit Papst Pius IX. begonnen, der die Revolution im Kirchenstaat und dessen Untergang erlebt hatte, aber auch das Erste Vatikanische Konzil, das wegen des Ausbruchs des deutschfranzösischen Kriegs und der Besetzung Roms durch die Piemontesen unterbrochen werden musste; Papst Pius IX. vertagte dieses Erste Vatikanische Konzil am 20. Oktober 1870 auf eine «geeignetere und günstigere Zeit». Wegen der kurzen Dauer konnte das Konzil nur zwei dogmatische Konstitutionen verabschieden: «Dei filius» über den katholischen Glauben und «Pastor aeternus» über die Kirche Christi.

1. Neue Konfliktlinien

Hundert Jahre später, im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils, machten sich nach zwei Weltkriegen neue politische Konfliktlinien bemerkbar, die an drei Daten festgemacht werden können.

Drei Jahre vor dem Pontifikatswechsel – 1955 – fand in Bandung die Konferenz bündnisfreier Staaten statt, auf der Delegationen aus 23 asiatischen und 6 afrikanischen Staaten Grundsätze der freundschaftlichen Zusammenarbeit im Sinne der friedlichen Koexistenz verabschiedet haben: ein Markstein einerseits der Entkolonialisierung und anderseits des Nord-Süd-Konflikts.

Ein Jahr später – 1956 – zeigte der Volksaufstand in Ungarn die Tiefe und den Ernst des West- Ost-Konflikts.

Im Jahr darauf – 1957 – wurde mit der Unterzeichnung der Römer Verträge durch die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet. Alle anderen europäischen Staaten waren damit vor die Frage gestellt, wie sie ihr Verhältnis zu einem Europa, das sich zu einigen begonnen hatte, bestimmen wollten.

2. Kirchliche Aufbrüche

Auch innerhalb der Kirchen zeichnete sich eine neue Zeit ab. In der römisch-katholischen Kirche zeigte sich dies zwischen dem Ersten und dem Zweiten Vatikanischen Konzil insbesondere in so genannten katholischen Bewegungen. Einerseits erstarkten typisch katholische Frömmigkeitsbewegungen wie die eucharistische und die marianische Bewegung. Anderseits suchten neue Bewegungen eine Rückkehr zu den Quellen und eine Erneuerung aus ihnen, wie die Bibelbewegung, die liturgische, die missionarische und allmählich auch die ökumenische Bewegung. Diese Bewegungen machten die römisch-katholische Kirche auch in der Schweiz für Anliegen einer kirchlichen Erneuerung offen.

a. Missionarischer Aufbruch

Nach dem Zweiten Weltkrieg unternahmen Missionsgesellschaften besondere Anstrengungen, um den Katholiken und Katholikinnen in der Schweiz die Bedeutung des Missionswesens neu bewusst zu machen. Diese Anstrengungen verfehlten ihre Wirkung nicht; besonders nachhaltig dürfte die Schweizerische Katholische Missionsausstellung von 1947 gewesen sein, insofern sie zur grossen Wanderausstellung «Messis» von 1955 hinführte. Diese löste ihrerseits einen Bewusstseinswandel aus, der nicht nur zu einer Neuorientierung des Missionswesens anregte, sondern auch ein breites Engagement von Laien und Laienorganisationen für das Missionswesen weckte. Einen Höhepunkt erreichten diese mentalitätsmässigen und dann auch strukturellen Veränderungen im schweizerischen Missionswesen im Missionsjahr 1960/61, und zum bleibenden Ausdruck dieser Entwicklung, «welche der missionarische Aufbruch im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils bewirkt hatte»,2 wurde die daran anschliessende Gründung des Fastenopfers.

b. Ökumenischer Aufbruch

In der Schweiz zeigte sich die ökumenische Bewegung zunächst als ein Gebetsanliegen für «die Wiedervereinigung im Glauben». Der 1927 gegründete Bruder-Klausen-Bund bezweckte an zweiter Stelle «die Wiedervereinigung des Schweizervolkes im Glauben durch die Fürbitte des seligen Bruder Klaus»; und 1929 wurde der Einsiedler Gebetsbund für die Wiedervereinigung im Glauben in der Schweiz gegründet.

Nicht zu unterschätzen in der mehrkonfessionellen Schweiz sind die Gelegenheiten, welche die gemeinsame Wahrnehmung von staatlichen und gesellschaftlichen Aufgaben zu einem besseren gegenseitigen Verstehen boten, wie der Militärdienst oder die schweizerischen Ausstellungen für Frauenarbeit (SAFFA). Bereits 1893 wurde die Gesellschaft der Feldprediger der schweizerischen Armee gegründet; und an der vom Bund schweizerischer Frauenorganisationen 1958 in Zürich durchgeführten SAFFA gab es sogar ein ökumenisches Kirchlein.3

In den späten 1940er-Jahren entstanden in verschiedenen Schweizer Städten ökumenische Gesprächskreise. 1952 wurde am Bischofssitz von Freiburg sogar ein internationales Netzwerk von ökumenisch interessierten katholischen Theologen gegründet, die «Katholische Konferenz für ökumenische Fragen». Auf ihren Treffen, ökumenischen Studientagen, behandelte die Konferenz nach Möglichkeit Themen, die zur gleichen Zeit im Ökumenischen Rat der Kirchen diskutiert wurden. Sechseinhalb Jahre nach der Gründung der Konferenz kündigte Papst Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil an. Als Beitrag zu dessen Vorbereitung erarbeitete die Konferenz eine Eingabe, die dank der guten Beziehungen ihrer Mitglieder zu Bischöfen wie zur römischen Kurie einen nachhaltigen Einfluss auf das Konzil gewann. Der erste Sekretär der Konferenz, Prof. Johannes Willebrands, wurde 1960 Sekretär des Sekretariats zur Förderung der Einheit der Christen, später dessen Präsident. Die «Katholische Konferenz für ökumenische Fragen» sah ihre Anliegen dort so gut aufgehoben, dass sie nach 1963 nicht mehr zusammengekommen ist.

Auch für das katholisch-jüdische Gespräch gab es in der Schweiz Vorläufer, auch wenn sich in der 1946 gegründeten Christlich-jüdischen Arbeitsgemeinschaft lange mehr Protestanten als Katholiken beteiligten. Immerhin waren an der Seelisberger Konferenz von 1947, der «Internationalen Dringlichkeitskonferenz zur Bekämpfung des Antisemitismus», mit den Freiburger Professoren Charles Journet und Jean de Menasce auch Schweizer Katholiken vertreten.

c. Liturgischer Aufbruch

Auch die liturgische Bewegung hatte lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil begonnen und es auch mit vorbereitet. Das Leitwort der liturgischen Bewegung war «actuosa participatio fidelium», wie es Papst Pius X. 1903 in seinem Motu proprio «Tra le sollecitudini» formuliert hatte. Fast ein halbes Jahrhundert später – 1947 – markierte die Enzyklika «Mediator Dei» Papst Pius’ XII. den Übergang von der liturgischen Bewegung zur liturgischen Erneuerung. Papst Pius XII. erneuerte namentlich die Feier der Osternacht.

Besonders wichtig für das Zweite Vatikanische Konzil wurde der 1. Internationale pastoralliturgische Kongress von 1956 in Assisi. Pastoralliturgische Anliegen wurden auch in der Schweiz seit den 1950er-Jahren vermehrt und verstärkt zum Ausdruck gebracht: 1957 errichtete die Bischofskonferenz die «Liturgische Kommission der Schweiz» mit Prof. Anton Hänggi als erstem Sekretär; 1963 wurde das Sekretariat zum Liturgischen Institut erweitert. Nach seiner Restrukturierung zum «Liturgischen Institut der deutschsprachigen Schweiz in Freiburg» versteht es sich heute als «ein Kompetenzzentrum für Fragen des Gottesdienstes in der katholischen Kirche». Noch vor dem Pontifikatswechsel wurden auch die ersten Vorarbeiten für ein schweizerisches Kirchengesangbuch an die Hand genommen. 1957 legte die katholische Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung der Schweiz «der Bischofskonferenz die begründete Bitte vor, in absehbarer Zeit ein einheitliches Gebets- und Gesangbuch, sowie einen gemeinsamen Katechismus für das ganze deutschsprachige Gebiet der Schweiz herauszugeben». In der Folge beauftragte die Bischofskonferenz den Bischof von St. Gallen, eine interdiözesane Kommission zusammenzustellen und zu präsidieren; erscheinen konnte das Katholische Kirchengesangbuch 1966.

d. Bibelbewegung

Bereits im 19. Jahrhundert kam es im deutschsprachigen Raum zur Gründung katholischer Bibelgesellschaften. Es gelang ihnen indes nicht, die Priester für ein gründliches Bibelstudium zu gewinnen und die Laien zur Bibellesung anzuregen. Eine Bibel zu Hause zu haben, galt als «protestantisch», die Predigten im katholischen Gottesdienst waren alles andere als «biblisch», und die katholische Bibelwissenschaft musste ständig gegen den «Modernismusverdacht» ankämpfen, wenn sie auch nur die einfachsten Fragen an die biblischen Texte stellte. In den 1930er-Jahren kam es im deutschsprachigen Raum zu neuen Anstrengungen. In der Schweiz erliessen 1934 Priester einen Aufruf zur Gründung einer Katholischen Bibelbewegung, in dem es heisst: «Unsere Losung muss also sein: Keine katholische Familie ohne die Heilige Schrift, wenigstens nicht ohne Neues Testament.» Im Jahr darauf wurde das Schweizerische Katholische Bibelwerk gegründet. Mit der 1973 eingerichteten «Bibelpastoralen Arbeitsstelle» in Zürich stellt es sich heute auf der Linie des Zweiten Vatikanischen Konzils in den Dienst der Bibel. Bereits 1943 hatte Papst Pius XII. mit der Enzyklika «Divino afflante spiritu» den katholischen Exegeten eine kritische, wissenschaftliche Bibelauslegung ermöglicht.

e. Laienbewegung

Die katholische Laienbewegung4 umfasst eine Vielfalt von katholischen Organisationen, in denen Laien in eine aktive Rolle im Leben der Kirche hineinwuchsen. Mit der Enzyklika «Ubi arcano Dei» stellte Papst Pius XI. 1922 diese Bewegung unter das Leitwort «Katholische Aktion», das in der deutschsprachigen Schweiz aber nicht heimisch wurde. Ähnlich erging es nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Leitwort «Laienapostolat». 1951 nahm unter Leitung von Bischof Franziskus von Streng dennoch eine Schweizer Delegation, abgeordnet vom Schweizerischen Katholischen Volksverein und vom Schweizerischen Katholischen Frauenbund, am ersten Weltkongress für das Laienapostolat in Rom teil. In den zahlreichen Standesorganisationen lernten die Laien aber dennoch, am Leben der Kirche teilzunehmen, sich zu beteiligen und auch Verantwortung zu übernehmen. Gesamtschweizerisch in Erscheinung getreten ist diese Laienbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den Katholikentagen. Am 10. Katholikentag, 1954 in Freiburg, traten Spannungen zwischen den Sprachregionen zu Tage, die ein Überdenken der Form der Schweizer Katholikentage unumgänglich machten. Nach der Ankündigung eines Konzils durch Papst Johannes XXIII. wurden die Vorbereitungsarbeiten für einen 11. Katholikentag unterbrochen, um das Ergebnis dieses Konzils mit aufnehmen zu können. Statt zu einem weiteren Katholikentag führte der Rezeptionsprozess des Konzils dann aber zur Synode 72.

3. Kirchliche Dilemmata

Diese Aufbruchbewegungen waren Antworten auf Mangelerscheinungen im kirchlichen Leben und zielten deshalb auf Veränderungen ab. Es gab allerdings auch Spannungen oder Dilemmata, die im theologischen Diskurs angegangen werden mussten.

a. Liturgische Erstarrungen

Wer das gottesdienstliche Leben vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil noch erlebt hat, kennt die Unzulänglichkeiten und Mängel der vorkonziliaren Liturgie und der vorkonziliaren Gottesdienstpraxis aus eigener Erfahrung.

Die Grundgestalt der Eucharistiefeier war das Binom «Messe lesen – Messe hören». Denn an Werktagen wurde die Messe vom Priester still gefeiert; sie war eine «Missa lecta», auch «privata» genannt. Während dieser Stillmesse konnten die Teilnehmenden mit Hilfe zum Beispiel eines lateinisch-deutschen Messbuches wie Bomm oder Schott gleichzeitig still mitbeten. Es war aber auch möglich, unter der Leitung eines Vorbeters eine Messandacht zu beten; inhaltlich noch weniger synchron war, während der stillen Messe den Rosenkranz zu beten. In grösseren Gemeinden und in Klöstern war zudem üblich, dass an mehreren Altären gleichzeitig stille Messen gelesen wurden; die Gemeinde war dann jeweils durch einen Ministranten vertreten.

Die feierliche Form der Messe war die gesungene Messe, die «Missa cantata» mit Gesang des Priesters und des Chores, auch Amt oder Hochamt genannt. Im Zuge der liturgischen Bewegung wurden lateinische Antworten und einfache gregorianische Gesänge auch der Gemeinde üblich. Die von Chor oder Gemeinde gesungenen Texte spach der Priester am Altar leise mit. Eine «Missa cantata» mit deutschsprachigen Gesängen der Gemeinde wurde als «Deutsches Hochamt» bezeichnet. Eine besonders feierliche Form der «Missa cantata» war das levitierte Hochamt, die Messe unter Assistenz eines Diakons und Subdiakons. Die von Diakon, Subdiakon oder Chor gesungenen Texte sprach der Priester leise mit. Ebenfalls im Zuge der liturgischen Bewegung entstand die «Missa dialogata», in der die Gesänge des Chores und die Gebete der Ministranten von den Teilnehmenden gemeinsam gesprochen wurden. Der Priester konnte einige Texte laut beten. Häufig trug ein Vorbeter die Orationen sowie die Schriftlesungen, Epistel und Evangelium, in der Landessprache vor, während der Priester sie gleichzeitig am Altar still lateinisch rezitierte.

In vielen Pfarreien wurde im Amt bzw. Hochamt keine Kommunion gespendet. Wenn ich also als Ministrant an einem Sonntag kommunizieren wollte und zum Dienst im Amt eingeteilt war, musste ich am Morgen früh zum Schluss der Frühmesse in die Kirche gehen und kommunizieren. Darauf hat die Schweizer Bischofskonferenz im Anschluss an eine Instruktion der Ritenkongregation von 1958 kurz vor dem Konzil mit der Richtlinie reagiert: «Das Volk hat ein Recht darauf, dass ihm während der Messe die heilige Kommunion gespendet wird.»5

b. Moralische Kontrolle der Gläubigen

Der Verzicht auf die Kommunionspendung im Amt hatte auch mit dem so genannten eucharistischen Nüchternheitsgebot zu tun. Es hatte aber auch mit der Morallehre und der Beichtdisziplin zu tun. Als Grundsatz galt und gilt bis heute: «Wer sich einer schweren Sünde bewusst ist, darf ohne vorherige sakramentale Beichte die Messe nicht feiern und nicht den Leib des Herrn empfangen, ausser es liegt ein schwerwiegender Grund vor und es besteht keine Gelegenheit zur Beichte; in diesem Fall muss er sich der Verpflichtung bewusst sein, einen Akt der vollkommenen Reue zu erwecken, der den Vorsatz miteinschliesst, sobald wie möglich zu beichten.»6 Nun verbot die vorherrschende Morallehre Empfängnisverhütung ausser mit natürlichen Methoden. Für Eheleute hiess das, ein Beischlaf mit aktiver Empfängnisverhütung war eine Todsünde, die zu beichten war, ehe sie wieder zur Kommunion gehen durften. Nicht Verheirateten war ebenso streng jede sexuelle Betätigung, auch die Onanie, verboten. Wenn also im Amt keine Kommunion gespendet wurde, konnte auch nicht zu Tage kommen, wer nicht zur Kommunion ging, und dann konnte auch nicht hin und her geraten werden, wer von den nicht Kommunizierenden wohl wegen einer schweren Sünde und, noch interessanter: wegen welcher, nicht zur Kommunion gehen durfte. Einen gewissen Ausgleich ermöglichte die so genannte Generalkommunion. So konnte zum Beispiel für einen Pfarreiverein wie die Jungmannschaft eingeplant werden, dass seine Mitglieder am Samstag möglichst vollzählig zur Beichte gingen, um dann tags darauf ebenso vollzählig zum Kommunionempfang gehen zu können. Trotzdem wirkt die moralische Kontrolle der Gläubigen so wie eine Konstante, der gegenüber der Umfang einer Teilnahme am Gottesdienst als eine Variable erscheint.

c. Konfessionalismus

Ziel der ökumenischen Bemühungen war und ist es, den Konfessionalismus zu überwinden und die konfessionellen Identitäten in einer künftigen Einheit der Kirche miteinander zu versöhnen. Mit Konfessionalismus sind damit die Folgen einer Verabsolutierung der eigenen konfessionellen Identität gemeint, zu denen unter anderem die Geringschätzung des persönlichen Glaubens der Angehörigen der anderen Konfessionen gehört. Konfessionalismus gab und gibt es folglich immer wieder in allen Konfessionen. Am unmittelbarsten erfuhren und erfahren das die jeweiligen Minderheiten.

Eine besonders harte Form dieses Konfessionalismus war vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil die kirchenrechtliche Mischehegesetzgebung. Auch heute verlangt das Kirchenrecht von den Brautleuten, zum Abschluss einer konfessionsverschiedenen Ehe die kirchliche Erlaubnis einzuholen. Diese kann gewährt werden, «wenn ein gerechter und vernünftiger Grund vorliegt» und wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: «1. der katholische Partner hat sich bereitzuerklären, Gefahren des Glaubensabfalls zu beseitigen, und er hat das aufrichtige Versprechen abzugeben, nach Kräften alles zu tun, dass alle seine Kinder in der katholischen Kirche getauft und erzogen werden; von diesen Versprechen, die der katholische Partner abgeben muss, ist der andere Partner rechtzeitig zu unterrichten, so dass feststeht, dass er wirklich um das Versprechen und die Verpflichtung des katholischen Partners weiss …»7 Die vorherige Gesetzgebung verlangte vom nichtkatholischen Partner das Versprechen, dass die Kinder in der katholischen Kirche getauft und erzogen werden. Eine konfessionsverschiedene Partnerschaft auf gleicher Augenhöhe war damit ausdrücklich ausgeschlossen. Aus Gesprächen mit seinerzeit davon Betroffenen weiss ich, wie viel Leid dieses Kirchengesetz nach sich ziehen konnte. Die heutige Gesetzgebung nimmt nun die Glaubensüberzeugung beider Partner ernst und verpflichtet die Seelsorger, den Ehegatten zu helfen, «die Einheit im Ehe- und Familienleben zu pflegen».8

Eine besondere Art von Konfessionalismus war und ist der Antisemitismus, der auch im Schweizer Katholizismus vorkam.9 In diesem Sinne konfessionalistisch war in den Karfreitagsfürbitten das Gebet für die «perfidi Judaei». Papst Johannes XXIII. liess im ersten Karfreitagsgottesdienst seines Pontifikats die Wörter «perfidus» und «perfidia» einfach weg; seit 1962 fehlen sie auch in den offiziellen Texten.

d. Volksreligiosität

In den Jahren vor dem Konzil geriet die Volksfrömmigkeit mit vielen ihrer hergebrachten Äusserungen in eine kritische Phase, was in der Zeit unmittelbar nach dem Konzil zu extremen Reaktionen geführt hat: «Flucht nach hinten (reaktionärer Traditionalismus) und Flucht nach vorn (unerleuchteter Progressismus). »10 Im einen Fall klammerte man sich an bestimmte Gebete und Gebetsformen und war nicht zuletzt auf eine Gebetshäufung aus. Dabei berief man sich gerne auf Privatoffenbarungen aller Art, auf Zeugnisse und Botschaften. Im andern Fall räumte man unbekümmert um volksfromme Sensibilitäten mit ausserliturgischen Andachtsformen auf. In diesen widersprüchlichen Reaktionen zeigte sich ein Konflikt zwischen der theologischen Elite und dem Kirchenvolk, der da und dort zu einer Kirchenfeindlichkeit beigetragen haben konnte.

In der jüngeren Zeit ist auch die Kirchenleitung vorsichtiger geworden. So wurde zum Beispiel 1969 aus dem «Fest der Erscheinung der unbefleckten Jungfrau Maria» der Gedenktag «Unserer Lieben Frau von Lourdes»; die neue Bezeichnung berücksichtigt, dass Privatoffenbarungen gegenüber kein Glaubensgehorsam gefordert ist. Mit ihrer Vorsicht neuen Erscheinungsorten gegenüber kann die Kirchenleitung aber auch in die Kritik volksfrommer Kreise geraten. Zu nennen wären hier die umstrittenen Erscheinungen und Botschaften von Medjugorje seit 1981.

4. Neue denkerische Ansätze

Schon im Zusammenhang der Erneuerungsbewegungen war an die Anstösse und Anregungen seitens der zeitgenössischen Theologie zu erinnern.

a. Bibel und Patristik

Was die theologische Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erbracht und zum Zweiten Vatikanischen Konzil beigetragen hat, lässt sich anhand der «Nouvelle Théologie» zeigen. Diese neue Theologie war nicht eigentlich eine theologische Schule oder Richtung, sondern ein Netzwerk von selbständig arbeitenden und unterschiedlich intensiv miteinander in Verbindung stehenden Theologen vor allem aus dem französischen Dominikaner- und Jesuitenorden; ihnen stand auch Hans Urs von Balthasar nahe. Eine besondere Stärke der «Nouvelle Théologie» war ihr Rückgriff auf die Kirchenväter, eine historisch differenzierte Interpretation des Thomas von Aquin sowie die konstruktive Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen französischen Philosophie. Zunächst von römischen Theologen der gleichen Orden heftig angegriffen, wurden die Hauptautoren von Papst Johannes XXIII. zu Konzilstheologen berufen; eine besondere kirchliche Anerkennung zeigt sich später in den Kardinalsernennungen von Yves Congar, Jean Daniélou, Henri de Lubac und Hans Urs von Balthasar.

Grundlegend für die Erneuerung der Theologie waren die exegetische und patristische Forschung und damit eine biblische Vertiefung der systematischen Theologie und eine breite Aufnahme der patristischen Tradition. Dies führte dazu, dass sich die systematische Theologie neue Fragen zu stellen begann. «Fragen der Theologie heute» heisst denn auch der Titel des Übersichtswerkes, das die Churer Professoren Johannes Feiner, Josef Trütsch und Franz Böckle im Jahr vor dem Pontifikatswechsel herausgegeben hatten.11

b. Humanwissenschaften

Schon mit der exegetischen und patristischen Forschung haben die Theologen die Bedeutung der historischen Disziplinen erkannt. Mehr Mühe bekundeten manche Theologen und vor allem auch kirchlich Verantwortliche mit den eigentlichen Humanwissenschaften, die das traditionelle Menschenbild veränderten. Im Konzilsdokument «Gaudium et spes» werden die Humanwissenschaften zu den besonderen Merkmalen der heutigen Kultur gezählt: «Die sogenannten exakten Wissenschaften bilden das kritische Urteilsvermögen besonders stark aus; die neueren Forschungen der Psychologie bieten eine tiefere Erklärung des menschlichen Tuns; die historischen Fächer tragen sehr dazu bei, die Dinge unter dem Gesichtspunkt ihrer Wandelbarkeit und Entwicklung zu sehen.»12 Das tönt, auch wenn man den historischen Zusammenhang ernst nimmt, doch anders als der 100 Jahre vorher erlassene «Syllabus», der die folgende Aussage als Irrtum bezeichnet: «Der Römische Bischof kann und soll sich mit dem Fortschritt, mit dem Liberalismus und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden.»13

Das Konzilsdokument über die christliche Erziehung fordert dazu auf, «dass die Kinder und Jugendlichen in der harmonischen Entfaltung ihrer körperlichen, sittlichen und geistigen Anlagen» unter «Verwertung der Fortschritte der psychologischen, der pädagogischen und der didaktischen Wissenschaft » gefördert werden sollen.14 Diese Aufforderung war für jene Kreise, die sich für die Erneuerung des Religionsunterrichts in der deutschsprachigen Schweiz eingesetzt hatten, nicht neu. So ist zum Beispiel der um 1960 gegründete «Grenchner Arbeitskreis zur Erneuerung des Religionsunterrichtes» auch davon ausgegangen, dass sich der Glaube in seiner Ganzheit anhand persönlicher Erfahrungen und Erlebnisse erschliesst, dass der ganze Mensch die Kräfte von Kopf, Herz und Hand aktiviert, und dass der aktive Mensch die ihn umgebende Wirklichkeit sich stets ganzheitlich erschliesst. Diese Initiative wurde, wie auch andere Entwicklungen der sechziger Jahre, nicht vom Konzil, sondern von gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen angestossen, dann aber vom konziliaren Aufbruch unterstützt.15


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* Der Beitrag gibt das Vortragsmanuskript für die Frühlingstagung 2012 der Akademischen Arbeitsgemeinschaft (AAG) im Priesterseminar St. Beat in Luzern wieder. Für grundlegende wie weiterführende Literatur sowie aktuelle Beiträge zur Erinnerung an das Konzilsgeschehen sei nachdrücklich auf den Konzilsblog (www.konzilsblog.ch) verwiesen.

 

 

 

1 Arthur Marwick: The sixties: cultural revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c.1958– c.1974. Oxford 1998.

2 Urs Altermatt / Josef Widmer: Das Schweizerische Missionswesen im Wandel. Strukturelle und mentalitätsmässige Veränderungen im schweizerischen Missionswesen 1955–1962 (= Schriftenreihe der Neuen Zeitschrift für Missionswissenschaft, Band XXXII). Immensee 1988, 45.

3 Peter Vogelsanger: Über die Anfänge der ökumenischen Bewegung in der Schweiz, in: Jean-Louis Leuba / Heinrich Stirnimann: Freiheit in der Begegnung. Frankfurt a. M.-Stuttgart 1969, 147–161.

4 Rolf Weibel: Entwicklungen in der Schweiz seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Erwin Gatz (Hrsg.): Laien in der Kirche. Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Band VIII, Freiburg i. Br. 2008, 379–442.

5 Richtlinien für die Feier des Hl. Messopfers im Anschluss an die Instructio der Ritenkongregation vom 3. September 1958 von der Schweizerischen Bischofskonferenz auf Antrag der Liturgischen Kommission genehmigt am 14. März 1960, Nr. 51,3; Text in: Schweizerische Kirchenzeitung 128 (1960), 245–252.

6 Can. 916 / CIC 1983.

7 Can. 1125 / CIC 1983.

8 Can. 1128 / CIC 1983.

9 Urs Altermatt, Katholizismus und Antisemitismus. Mentalitäten, Kontinuitäten, Ambivalenzen. Zur Kulturgeschichte der Schweiz 1918–1945. Frauenfeld 1999.

10 Iso Baumer: Vielfalt in der Schweizer Volksfrömmigkeit, in: Michael N. Ebertz / Franz Schultheis (Hrsg.): Volksfrömmigkeit in Europa. Beiträge zur Soziologie popularer Religiosität in 14 Ländern, München 1986, 111.

11 Johannes Feiner / Josef Trütsch / Franz Böckle (Hrsg.): Fragen der Theologie heute. Einsiedeln 1957.

12 GS Art. 54.

13 DH Nr. 8920.

14 Gravissimum educationis, Art. 1.

15 Othmar Frei: Wie Grenchen in den katechetischen Wortschatz kam, in: Pädagogisches Institut der Universität Freiburg (Hrsg.): Begegnung mit Karl Stieger. Stationen auf dem Weg eines Reformpädagogen. Freiburg Schweiz 1993, 62–74; Regina Schnell: Erfahrung und Erlebnis in der religiösen Erziehung (= Studien zur Praktischen Theologie, 31). Zürich 1984, 19–33.

Rolf Weibel

Rolf Weibel

Dr. Rolf Weibel war bis April 2004 Redaktionsleiter der «Schweizerischen Kirchenzeitung» und arbeitet als Fachjournalist nachberuflich weiter