Von höchst kritisch bis zustimmend

Wie steht die Kirche zu Gender? Die Glaubenskongregation erachtete 2004 Gender als sehr problematisch, die argentinische Bischofskonferenz 2018 hingegen als hilfreiche Kategorie für die kulturelle Analyse.

Der Genderbegriff ist in den letzten Jahren immer mehr zu einem Stein des Anstosses geworden, an dem sich in einer kulturkämpferischen Weise heftigste Debatten in Gesellschaft, Politik und Religion festmachen. Was in den 1970er und 80er Jahren aus kirchlicher Perspektive an der Auseinandersetzung mit marxistischen Theoriebildungen festgemacht worden ist, scheint sich heute nun an Fragen zu entzünden, die aus dem Umfeld der Genderstudien erwachsen und mit Grundfragen der Anthropologie zu tun haben, mit Fragen der Geschlechterbeziehungen, der Vielfalt von Formen gelebter Sexualität und damit der Anerkennung von Homosexualität. Das ist eine gesellschaftspolitische Debatte, bei der sich aber auch neue Koalitionen zwischen (ultra-)konservativen politischen Zirkeln mit religiösen Traditionen – aus dem Christentum, Islam, Judentum, aber auch anderen Religionen – ergeben.

Der Genderbegriff wird vor allem seit der vierten Weltfrauenkonferenz in Beijing (1995) in Politik und Wissenschaft breit rezipiert. Entwicklungschancen für Frauen können nur in der Aufeinanderbezogenheit der verschiedenen Faktoren von Geschlecht, Bildung, sozialer Schicht und ökonomischen Voraussetzungen erkannt werden. Was «Geschlecht» ist, kann nicht allein am biologischen «sex» festgemacht werden, sondern diese weiteren Faktoren tragen zur Ausgestaltung der konkreten Geschlechtlichkeit bei, was über den Begriff «gender» zum Ausdruck kommt. In diesem Zusammenhang erwachsen Genderstudien in der katholischen Theologie aus feministisch- kritischen und befreiungstheologischen Ansätzen und haben mit der Analyse von Machtstrukturen und der Frage nach der gerechten Verteilung von Chancen zu tun.

Debatten entlang den Konfliktlinien

Von Seiten des katholischen Lehramts wurde der Genderbegriff zum ersten Mal 2004 im Dokument der Glaubenskongregation «Über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt» aufgegriffen und höchst kritisch beurteilt – eine Analyse, an die in den weiteren Texten des Lehramts bis in die Gegenwart angeknüpft wird. Im Dokument der Glaubenskongregation heisst es: «Um jegliche Überlegenheit des einen oder des anderen Geschlechts zu vermeiden, neigt man dazu, ihre Unterschiede zu beseitigen und als blosse Auswirkungen einer historisch-kulturellen Gegebenheit zu betrachten. Bei dieser Einebnung wird die leibliche Verschiedenheit, Geschlecht genannt, auf ein Minimum reduziert, während die streng kulturelle Dimension, Gender genannt, in höchstem Mass herausgestrichen und für vorrangig gehalten wird. Die Verschleierung der Verschiedenheit oder Dualität der Geschlechter bringt gewaltige Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen mit sich. Diese Anthropologie, die Perspektiven für eine Gleichberechtigung der Frau fördern und sie von jedem biologischen Determinismus befreien wollte, inspiriert in Wirklichkeit Ideologien, die zum Beispiel die Infragestellung der Familie, zu der naturgemäss Eltern, also Vater und Mutter, gehören, die Gleichstellung der Homosexualität mit der Heterosexualität sowie ein neues Modell polymorpher Sexualität fördern.» (Nr. 2) Die Konfliktlinien sind hier benannt und führen auch heute noch zu den heftigsten Debatten um die sogenannte «Gender-Ideologie».

Öffnung im lehramtlichen Diskurs

Deutlich treten aber auch Ambivalenzen in der Verwendung des Genderbegriffs zutage. Die Päpstliche Kommission für Lateinamerika nimmt in einem Dokument über Frauen in Geschichte und Gesellschaft Lateinamerikas (2018) eine Genderperspektive ein im Blick auf die «Unsichtbarkeit» des Beitrags von Frauen in der Tradierung christlichen Glaubens in Lateinamerika und ihre Ausgrenzung durch unterschiedlichste Formen von Gewalt in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur. Gleichzeitig wird im Blick auf Familie und Geschlechterbeziehungen die sogenannte «Gender-Ideologie» in ähnlicher Weise, wie es die Glaubenskongregation formuliert hat, kritisiert. Papst Franziskus greift in seinem nachsynodalen Schreiben Amoris Laetitia (2016) auf die Differenzierung von «sex» und «gender» zurück und nimmt die Vielfalt der Realisierungen des Menschseins in den Blick und damit Abschied von einem essentialistischen Geschlechterdualismus. Hier ist seine Analyse neuen anthropologisch-theologischen Ansätzen nahe, die bei den exegetischen Studien ansetzen, die Wege gewiesen haben, die Erschaffung des Menschen nicht mehr mit einer in der Schöpfungsordnung fixierten Geschlechterdifferenz zu verbinden. In der neuen Einheitsübersetzung der Bibel heisst es nicht mehr, dass der Mensch als Bild Gottes, als Mann und Frau, geschaffen sei, sondern: «als männlich und als weiblich» (Gen 1,26) erschafft Gott den Menschen. Das bedeutet, der «nach dem Bild» Gottes geschaffene Mensch prägt die Freiheit der «imago Dei» je konkret, leibgebunden, in geschlechtlicher Vielfalt und einer je spezifischen Biografie aus. Die Geschlechtlichkeit schreibt sich in lebendiger und dynamischer Weise in das Leben ein, im Verhalten zu sich, zum anderen und zu Gott, und das ist nicht mehr eine essentialistische Bestimmung des Mann- bzw. Frau-«Seins», sondern eine lebendige Ausprägung der je konkreten und einzigartigen Individualität, die jedem Menschen zukommt. Papst Franziskus greift diese dynamische Sicht des Menschwerdens in Amoris Laetitia auf, gleichzeitig taucht aber immer wieder der Hinweis auf die «Gender-Ideologie» in seinen Schreiben und Ansprachen auf.

Darin wird deutlich, dass die Genderkategorie im lehramtlichen Diskurs angekommen ist, dass sie aber verunsichert – denn sie bleibt, so die Tübinger Moraltheologin Regina Ammicht Quinn, eine «gefährliche Kategorie», weil sie Ideologiebildungen im Blick auf Geschlechterzuschreibungen aufdeckt und damit Bewegung in die über Jahrhunderte festgefügte Geschlechterdifferenz bringt. Das betrifft nicht nur Fragen der Anthropologie und Sexualmoral, sondern in besonderer Weise auch die Frage nach dem Zugang von Frauen zu kirchlichen Ämtern. Die Genderkategorie legt Machtstrukturen und oftmals unsichtbare Machtbeziehungen offen, die die gesellschaftliche und kirchliche Realität bestimmen.

Hilfreiche Analysekategorie

Angesichts der gefährlichen politischen Koalitionen der Gegenwart und des Wachsens populistischer und identitärer Bewegungen ist es wichtig, dass die Kirche von einem unreflektierten und polemischen Gebrauch des Genderbegriffs Abstand nimmt, wenn sie die Gender-Ideologie kritisiert. Sie sollte diesen vielmehr als kritische Analysekategorie aufgreifen im Dienst der Menschenwürde und Geschlechtergerechtigkeit. Dokumente wie das von drei bischöflichen Kommissionen der argentinischen Bischofskonferenz verantwortete (2018) sind hier wegweisend. Hier werden die Begriffe von Geschlecht, Gender und Ideologie erläutert und Differenzierungen im Blick auf den Gebrauch des Genderbegriffs eingeführt. Gender wird als hilfreiche Kategorie für die kulturelle Analyse beschrieben: «Die Gesellschaft zu betrachten und dabei auf die Rollen, Repräsentationen, Rechte und Pflichten der Personen zu achten in Entsprechung zu ihrem Geschlecht», bedeutet, eine «Gender-Perspektive» einzunehmen. Und diese Perspektive sei von Wichtigkeit, damit «alle Personen nach ihrer gleichen Würde behandelt werden». Kritisiert wird eine «Gender-Ideologie», wobei diese in Verbindung gebracht wird mit einem Erziehungsprojekt, das den Eltern und den Bildungsinstitutionen die Freiheit abspricht, «in Entsprechung zu ihrem eigenen Ideengut zu erziehen». Dass dieses aber auch geschichtliche und kulturelle Transformationen durchläuft, darf nicht vergessen werden.

In diesem Zusammenhang kann daran erinnert werden, dass in der christlichen Tradition entgegen kultureller und gesellschaftlicher Normierungen immer die Freiheit des Sich-Verhaltens gegenüber der eigenen Geschlechtlichkeit von Bedeutung gewesen ist. Zeichen dieser Freiheit der «imago Dei» sind z.B. die evangelischen Räte, wie sie sich in der Bindung an eine religiöse Gemeinschaft oder im Leben als alleinstehende religiöse Frau realisieren und die für ein selbstbestimmtes und in der Beziehung zu den anderen – und vor allem Gott gegenüber – sich realisierendes Leben stehen. Genderperspektiven in der theologischen Anthropologie stehen für Geschlechterbeziehungen im Sinne des befreienden Evangeliums und können den heilvollen und freimachenden Entwurf des christlichen Menschenbildes in die gesellschaftlichen und kulturellen Diskurse einspielen, als Kontrapunkt zu menschenverachtenden Ideologien, die die Würde des Menschen in der Scheinwelt des Konsums und der gewaltbesetzten Wirklichkeit von Politik und Wirtschaft mit Füssen treten. Darum ist nicht zu verstehen, warum in kirchlichen Diskursen die Verwendung des Genderbegriffs immer noch «unter Verdacht» steht.

Margit Eckholt

 

Die Überlegungen sind weiter entfaltet in:

  • Eckholt, Margit, Notwendige Klärungsprozesse. Anmerkungen zur Gender-Debatte in der katholischen Kirche und Theologie, in: L‘Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 29 (2018), (Thema: Wissen schaffen, hg. von Claudie Opitz-Belakhal und Sophie Ruppel) 133–139.

Weitere Publikationen zum Thema:

  • Eckholt, Margit, Ohne die Frauen ist keine Kirche zu machen. Der Aufbruch des Konzils und die Zeichen der Zeit, Ostfildern 2012.
  • Eckholt, Margit (Hg.), Gender studieren. Ein Lernprozess für Theologie und Kirche, Ostfildern 2017.

Margit Eckholt

Prof. Dr. Dr. h. c. Margit Eckholt (Jg. 1960) studierte katholische Theologie, Philosophie und Romanistik in Tübingen und Poitiers. Seit September 2009 ist sie Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Universität Osnabrück. Sie ist Leiterin des Stipendienwerkes Lateinamerika-Deutschland. Die Theologische Fakultät der Universität Luzern verlieh ihr 2019 den Ehrendoktortitel.

 

BONUS

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