«Für eine stärkere Differenzierung»

Gegner der Genderforschung bezeichnen sie als unwissenschaftlich und ideologisch. Der Begriff Gender erhitzt die Gemüter aufs heftigste, Pro und Kontra stehen sich unversöhnlich gegenüber. Ein Gespräch.

Prof. Dr. Thomas Weißer (links; Jg. 1964; Geburts- und Künstlername Thomas Laubach) studierte Theologie und Germanistik und liess sich zum Medienpraktiker ausbilden. Seit 2012 ist er Professor für theologische Ethik an der Universität Bamberg. Er schreibt Texte für christliche Popsongs, u.a. «Da berühren sich Himmel und Erde». (Bild: Uni Bamberg) _________________________________________________________________________________ Prof. Dr. Harald Seubert (Jg. 1967) studierte Philosophie, ev. Theologie, Geschichts- und Literaturwissenschaft u.a. in Erlangen, München, Wien und Würzburg. Seit 2012 ist er ordentlicher Professor und Fachbereichsleiter für Philosophie und Religionswissenschaft an der STH Basel und seit 2016 der Präsident der Martin-Heidegger-Gesellschaft.

 

SKZ: Ist Gender nun eine Theorie oder eine Ideologie?
Thomas Weißer: Der Begriff Gender hinterfragt in theoretischer Absicht zunächst einmal das alltägliche Verständnis von Geschlecht. Die grundlegende Diskussion um das Geschlecht entstammt der Genderforschung, den Gender Studies. Das wissenschaftliche Interesse dieser Forschung ist vielfältig und folgt unterschiedlichen Theorieansätzen. Insgesamt aber steht im Mittelpunkt der Genderforschung die Frage nach der Gerechtigkeit. Mit Ideologie hat das erst einmal nichts zu tun.

Harald Seubert: Gender hat verschiedene Facetten. Es kann als Arbeitshypothese und Theorie dienen, die lange Übersehenes besser in den Blick bringt: Etwa die subkutane Wirkung von Geschlechterzuschreibungen in der Kultur- und Literaturgeschichte. Dies sind berechtigte Forschungsdesiderate. Allerdings trug die starke und flächendeckende Top-down-Implementierung dazu bei, dass Gender vielerorts als eine Art ‹lingua franca› der Kulturwissenschaften verwendet wird, als eine Weltanschauung, die nicht mehr in Frage gestellt wird. Dies hat dann durchaus ideologische Züge, wobei ich unter Ideologie eine fixierte Weltsicht verstehe, die die Perspektive eigenen Forschens und Fragens determiniert, bzw. an der Wahrnehmung von Wirklichkeit hindert.

Inwieweit könnte der Ideologievorwurf berechtigt sein?
Weißer: Der Vorwurf ist dann berechtigt, wenn Gender als Kampfbegriff benutzt wird, um bestimmte Ziele zu verfolgen, die wieder Ungerechtigkeiten hervorrufen. Zum Beispiel, wenn Paare, die traditionelle Geschlechterrollen leben, diskreditiert werden.

Welches sind Ihre Hauptkritikpunkte an den Gendertheorien?
Seubert: Ich kritisiere in der Tat die Top- down-Strategie in der Umsetzung, die Moralisierung eines akademischen Zugangs, der sich argumentativ, aber nicht moralistisch bewähren müsste; weiterhin, dass vielerorts die Legitimität und begrenzte Erklärungskraft von Genderkonzepten nicht reflektiert wird. Eine einigermassen saubere wissenschaftliche Methode sucht gemäss der Falsifikationsmethode von Karl Popper zunächst nach allem, was gegen die eigenen Thesen spricht. Das sehe ich bei Gendertheoretikern eher vereinzelt. Auch die mit Pawlowscher Reflexhaftigkeit einsetzende Wendung gegen eine Essentialisierung oder Biologisierung des Geschlechts, wo überhaupt die Frage nach inneren Dispositionen oder Wesenszügen des Seins, des Weiblichen und Männlichen aufgeworfen wird, finde ich problematisch. Die sprachliche Stromlinienförmigkeit der gegenderten Texte und Argumentation halte ich für eine streckenweise unerträgliche Verödung pluraler Denklandschaften.

Bei aller Kritik, was bietet die Geschlechterforschung dennoch?
Seubert: In ihrer moderaten, wissenschaftlich validierbaren Form macht die Genderforschung auf Disparatheiten, erzeugte Exklusionen und produzierte Differenzen aufmerksam. Sie arbeitet in den Kulturwissenschaften, auch in der Philosophie, bislang ignorierte Zusammenhänge heraus. Dies ist berechtigt und ausdrücklich bereichernd, wenn es in eine vielperspektivische Gesamtsicht kritischer und deskriptiver Theoriebildung einbezogen wird und wissenschaftlicher Offenheit, Falsifizierbarkeit und Begründung unterliegt.

Welche Hauptkritikpunkte nehmen Sie wahr?
Weißer: In der Kritik steht zum einen das sogenannte Gender Mainstreaming. Hier geht es um eine konkrete Gleichstellungs- und Gerechtigkeitspolitik. Der Begriff Gender steht hier für ein Konzept zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit. Hier findet sich der Vorwurf, dass nur noch die Differenz zwischen den Menschen in den Blick kommt und jede noch so abweichende Identität zu ihrem Recht kommen soll. Wie aber soll Gesellschaft das leisten? Zum anderen wird immer wieder argumentiert, dass die bisher gängigen Menschenbilder – der Mensch als Frau und Mann – sowie traditionelle Partnerschafts- und Familienmodelle – Ehe zwischen verschiedengeschlechtlichen Partnern – durch die Genderforschung bzw. das Gender Mainstreaming zerstört werden.

Inwieweit sind Gendertheorien mit dem christlichen Menschenbild vereinbar?
Seubert: Der Mensch ist nach jüdischem und christlichem Verständnis Ebenbild Gottes, geschaffen als Mann und Frau und in jedem seiner Exemplare, jeder Facette mit einer unbedingten, unverlierbaren Würde behaftet, die allen Menschen zukommt. Theorieformen, die auf die Gleichwürdigkeit des Menschseins, zugleich seine Erlösungsbedürftigkeit und Unzulänglichkeit verweisen, sind grundsätzlich mit dem christlichen Menschenbild zu vereinen. Eine wesentliche Kategorie, um zu unterscheiden, ist, dass Menschsein nicht in Konstrukten bzw. Selbstkonstrukten aufgeht, sondern auf die reale Gegenwart des Unverfügbaren gerichtet ist.  

Weißer: Ich sehe da grundsätzlich keine Unvereinbarkeit. Zwei Beispiele unterstreichen das. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich eine eigene theologische Geschlechterforschung etabliert. Und es finden sich viele kirchliche Angebote, die sich explizit mit Fragen des Geschlechts, der Geschlechter und der Geschlechtlichkeit auseinandersetzen. Etwa im Sinne einer Frauen- und Männerspiritualität.

Worin liegt die Brisanz der Geschlechterforschung für die Theologie?
Weißer: Gender fordert Theologie wie Kirchen auf verschiedenen Ebenen heraus. Das betrifft zunächst einmal die Anthropologie. Einerseits gehört zum Glauben die Überzeugung, dass Mann und Frau Ebenbilder Gottes sind. Andererseits gehen die Kirchen traditionell von einem Geschlechterideal aus, das den beiden Geschlechtern bestimmte, von Natur aus vorgegebene Rollen und Aufgaben zuschreibt. Das bestreitet etwa auch die theologische Geschlechterforschung. Auch in sexual- und beziehungsethischer Perspektive ist die Debatte um Gender wichtig. Sie lässt fragen, wie Ehe und Partnerschaft aussehen, was Elternschaft und Familie heisst. Gefragt wird hier etwa, ob die Alleinstellung heterosexueller, dauerhafter und sakramental geschlossener Ehen wirklich begründbar ist. Die Genderdebatte betrifft aber auch die Ämter und die Struktur der Kirche. In der katholischen Kirche etwa können nur Männer Priester werden. Mit welchem Recht, so wird gefragt? Was ist der Vorzug, den dieses eine Geschlecht geniesst? Angesichts dieser Fragestellungen ist es keineswegs übertrieben, den Genderdiskurs auch als Zukunftsdiskurs der Kirche zu begreifen. Denn es steht nicht weniger auf dem Spiel, als die Frage, wie sehr sich Kirche und Glaube mit gewandelten gesellschaftlichen Vorstellungen, neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Anfragen an tradierte Konzeptionen, etwa des Verständnisses von Mann und Frau, auseinandersetzen können, und wie der Glaube auch in eine solche gewandelte Wirklichkeit weitergesagt werden kann.

Was steht aus Ihrer Sicht auf dem Spiel?
Seubert: Es kann ja sein, dass sich die Gemüter abkühlen und Gender in dem akademischen und politischen Diskurs die berechtigte Rolle einer Perspektive neben anderen einnimmt, die Berücksichtigung fordert, die aber nicht der Universalschlüssel zu allem ist, wie z.B. der Klassenbegriff in Soziologie und Sozialgeschichte, auch wo sie nicht neomarxistisch verfahren. Dies wünsche ich mir: Leidenschaft und kühlen, klaren Geist. Wenn die Tendenz einer Ideologisierung zunimmt, verbunden mit zunehmender Kontrolle der wissenschaftlichen Diskurse, wie sie jüngst Niall Ferguson im Blick auf die USA konstatierte, wenn also nicht für genderkonforme geltende Stimmen unhörbar gemacht werden, fürchte ich um die akademische Freiheit, die vorurteilsfreie und auch gegen über sich selbst rücksichtslose Wahrheitssuche. Insbesondere in der Theologie könnte sich ein inhaltlicher Ideologiefokus vor die befreiende Botschaft des Evangeliums schieben.

Es gibt ganz unterschiedliche Gendertheorien. Welche Kriterien geben Sie Theologen an die Hand, wenn es um die Bewertung und Einschätzung von Gendertheorien geht?
Seubert: Sie gehen aus dem Gesagten hervor. Zentral wäre für mich: 1. Dienen die Konzeptionen einer umfassenderen Analyse und einem Verständnis von Wirklichkeiten oder verfahren sie reduktionistisch? 2. Anerkennen sie eine Ontologie des Unverfügbaren des Humanum jenseits menschlicher Herstellung und Konstruktion? 3. Kennen sie neben der Hermeneutik des Verdachts auch eine Hermeneutik des Vertrauens? 4. Treten sie mit dem Gegner in eine offene Debatte, die auch zur Selbstinfragestellung Anlass gibt, oder entsteht eine inquisitorische Tendenz? Wenn man nicht erträgt, dass andere anders denken und andere Akzentuierungen setzen, entsteht ein Klima, das der christlichen Parrhesia (Freimut) und der theologisch-philosophischen Suche nach Wahrheit widerstreitet. Dann ist die Universität als freier Raum, in dem alles zur Disposition gestellt werden kann, in Gefahr.

Weißer: Die, die für jede Auseinandersetzung gelten: Verstehen, was eine Theorie will, die Sachargumente prüfen, die theoretischen Hintergründe erhellen, die Plausibilität der Überlegungen hinterfragen.

Regina Ammicht Quinn spricht von Gender als Analyse-, Verunsicherungs- und Gerechtigkeitskategorie. Inwiefern verunsichert der Genderdiskurses die Menschen?
Weißer: Gender verunsichert, weil es überkommene Gottes- und Menschenbilder in Frage stellt. Die auch religiöse Sehnsucht nach Gewissheit wird hier in Frage gestellt. Ist die Welt vielleicht grösser und vielfältiger als eigene Traditionen und Erfahrungen vermitteln? All das verunsichert: Wenn traditionelle Ordnungsstrukturen des geschlechtlichen Zusammenlebens in Frage gestellt werden, wenn es mehr als nur zwei Geschlechter und mehr als ein Familienmodell gibt, wenn neu nach den Bedingungen für ein gelingendes partnerschaftliches Leben gefragt wird.

Ich habe den Eindruck, die breite Kritik an Gender entzündet sich vor allem an der politischen Dimension des Genderdiskurses und der Geschlechtergerechtigkeit. Teilen Sie diesen Eindruck?
Weißer: Ja. Es sind in der öffentlichen Diskussion vor allem konkrete politische Probleme, die diskutiert werden. Fragen wie: Sollen Kinder schon früh mit dem Wissen um Genderfragen aufwachsen? Müssen in öffentlichen Gebäuden Toiletten für das dritte Geschlecht eingebaut werden? Soll es eine Frauenquote in den Führungsetagen grosser Unternehmen geben?

Seubert: Ich würde diesen Eindruck auch bestätigen. Dies hängt damit zusammen, dass Gender von Anfang an als ein Politikum verstanden wurde, und dies ist wiederum nicht verwunderlich, weil sich akademische mit Emanzipationsfragen sehr stark vermengt haben. Ich plädiere hier für eine stärkere Differenzierung.

Auch die katholische Kirche übt Kritik an der politischen Dimension des Genderdiskures. Was kritisiert sie genau?
Weißer: Kritisiert wird zum einen, dass die Genderdebatte die Ehe als religiöse und zivile Einrichtung in die Krise führt. Zum zweiten wird kritisiert, dass Geschlechtsidentität als Wahlmöglichkeit propagiert wird. Zum dritten wird kritisiert, dass es sozusagen nichts mehr Normales in Fragen des Geschlechts gibt. Alle drei Kritikpunkte gehen allerdings meiner Ansicht nach an den eigentlichen Überlegungen der Gendertheorien vorbei.

Seubert: Soweit ich es sehe, ist ein starker und m. E. auch teilweise berechtigter kritischer Ansatz des römisch-katholischen Lehramtes, dass die sexuelle Identität des Menschen und damit auch die Lebensform der christlichen Familie in Frage gestellt würden. Papst Franziskus schreibt hier, wenn ich dies recht sehe, die Linie seines Vorgängers fort. Wobei das Positivum dahinter, die Lehre von einer Ökologie des Menschen und eine tiefe Theologie der Liebe, auch beiden Päpsten gemeinsam ist. Eine «ideologische Kolonisierung» durch Gender wird daher deutlich kritisiert. Ich meine, dass die päpstliche Stimme als Warnung ernst genommen werden sollte.

Sie sprechen in Ihren Arbeiten von Gender-Konstruktivismus.
Seubert: Ich beziehe mich dabei insbesondere auf die Ansätze von Judith Butler. Sie gehen sehr stark von einem Linguistizismus aus, der Konstruktion von Realität durch Sprache, einer Ontologie der Zeichen und semantischen Konstruktion und Dekonstruktion. Demgegenüber mahne ich die Beachtung des Gegebenen, Wirklichen an: Ein alter Streit, den schon Platon gegenüber den Sophisten führt. Der Leib begegnet bei Butler primär als Fläche und Material von solchen Zuschreibungen. Die Tiefendimension von Leiblichkeit setzt dort ein, wo sie als das uns nächste Fremde, unverfügbar Nahe und doch Andere erscheint. Diese Leiblichkeit ist auch im philosophischen Denken eine unhintergehbare Wirklichkeit.

Herr Weißer, Sie gaben 2017 einen Sammelband1 heraus, in dem Sie den Konfliktlinien des Genderdiskurses nachtasten. Welche Erkenntnisse haben Sie daraus gewonnen?
Weißer: Zum einen: Die Debatte um Gender ist schon lange in der Kirche und Theologie angekommen. Zum anderen: Die intensive Auseinandersetzung zeigt vor allem, dass Genderfragen auch als religiöse Fragen gesehen werden müssen. Und drittens: Es gibt unterschiedliche Positionen, die oftmals polemisch gegeneinander ausgespielt werden. Ich bin für mehr nüchterne Reflexion. Dass das möglich ist, konnte mein Buch zeigen.

Was trägt aus Ihrer Sicht zu einer Versachlichung der Genderdebatte bei?
Weißer: Ohne Scheuklappen wahrnehmen, was Menschen tatsächlich sagen und schreiben. Nicht nur die eigene Meinung hören wollen. Gesprächsfähig sein. Anerkennen, dass ein breiter Strang des Christentums ohne Ansehen der Person – und damit auch des Geschlechts – den Menschen als Ebenbild Gottes begreift. Statt die Moralkeule zu schwingen, verstehen, was eigentlich Thema ist: Gerechtigkeit unter Menschen.

Seubert: Herr Kollege Weißer fragte mich auch für einen Beitrag in seinem Sammelband an – und ich habe gerne mitgewirkt. Damit habe ich die Antwort schon gegeben: ein hochachtungsvoller, strittiger, nicht ausblendender Austausch von Argumenten und eine Korrektur von Vorverständnissen, wo sie nötig ist, trägt zu dieser Versachlichung bei. Oder: Diskussionen wie diese.

Interview: Maria Hässig

 

1 Laubach, Thomas (Hg.), Gender – Theorie oder Ideologie. Freiburg i. Br. 2017.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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