«Überall steckt mehr oder weniger Gender drin»

Region, Alter, Bildung, Geschlecht und anderes mehr führen zu ungleichen Lebensbedingungen und -möglichkeiten von Frauen und Männern. Die Geschlechterforschung macht darauf aufmerksam.

SKZ: Der Begriff Gender ist in aller Munde und wird in vielen Bereichen verwendet. Was meint der Begriff in der Forschung?
Paula-Irene Villa: Gender meint Geschlechtlichkeit als biosoziale, kulturnatürliche oder auch natürlich-kulturelle Tatsache. Eine Tatsache, die je nach Dimension sehr unterschiedlich relevant oder auch gestaltet ist, mit vielen Dimensionen. Gender bedeutet, eine von Menschen in historischen Prozessen gestaltete, durch Medien vermittelte, ökonomisch und kulturell bedingte sowie individuell spezifisch relevante Differenz, die auch körperliche – etwa anatomische, hormonelle, muskuläre oder genetische – Aspekte einschliesst. Verschiedene Aspekte von Gender sind unterschiedlich verfügbar bzw. unverfügbar; keiner ist aber allein, monokausal alles-entscheidend. Das Konzept Gender geht davon aus, dass die Eigentlichkeit – die Wahrheit, die Essenz – von Geschlecht nicht in einem Gen, einem Hormon oder einer Gonade (Geschlechtsdrüse) liegt, sondern in einem dynamischen Bündel an miteinander verbundenen und aufeinander wirksamen Dimensionen. Gene oder Hormone sind selbstverständlich ein Element darin. Gender ist auch eine soziale Struktur, etwa als Element von Ungleichheit. Die Zugehörigkeit zu einer Genus-Gruppe hat wesentliche Effekte für Einkommen, Pensionshöhen, Versicherungsrisiken, Gesundheit, Lebenserwartung usw. Gender als Sozialstruktur ist eng verwoben mit der ökonomischen Grundstruktur des Kapitalismus, weil beispielsweise private Hausarbeit systematisch verweiblicht ist. Gender ist auch eine ganz subjektive, individuelle Form des Selbstverhältnisses, das darin auch gesellschaftlich bedingt ist. Insofern ist Gender auch Teil der individuellen Lebenserfahrung, der eigenen Gefühle, der Identität. Kurzum: Gender ist eine überaus wirkmächtige biosoziale Differenz: Menschengemacht, sozial durchaus gestaltbar, aber individuell nicht gänzlich verfügbar.

Gender wird inhaltlich ganz unterschiedlich gefüllt. Wo liegen die hauptsächlichen Differenzen zwischen dem wissenschaftlichen und dem populären, allgemeinen Gebrauch?
Ein Missverständnis in Bezug auf den Gender-Begriff liegt wohl derzeit darin, dass «soziale Konstruktion von Geschlecht» individualistisch und voluntaristisch eng geführt wird. Das heisst, das wird verstanden als individuelle bewusste Entscheidung, als beinahe spielerische Verfügung über die eigene Identität oder den Körper. Das ist eine allzu verkürzte Vorstellung von «doing gender» – die allerdings auch in einigen Teilen der Gender Studies selbst produziert wird. Ein weiteres Missverständnis ist die Annahme, dass Gender nur dort und dann relevant ist, wo es ausdrücklich und für alle wahrnehmbar benannt oder thematisch wird. Gender ist aber vielfach in Strukturen und Formen drin, ohne dass dies explizit erwähnt werden muss. Ich würde sagen, das ist sogar meistens der Fall. Zum Beispiel wird Leistung oder Kompetenz in geschlechtlichen Kategorien wahrgenommen und auch bewertet, ohne dass dies ausdrücklich erwähnt oder auch nur den Leuten selber bewusst sein muss. Im Gegenteil. Das geschieht implizit, unbewusst, sekundenschnell und habituell. So meinen auch viele Leute, ein Binnen-I oder eine weibliche Grammatikalisierung sei «gendern». Das ist grober Unfug. Gender ist ja immer schon, etwa in der Komplexität von Grammatik, Sprache und Sprechen. Aber auch in den vielen Entscheidungen hinsichtlich Berufswahl, Lebensführung, Sitz- oder Stehpositionen, in den Darstellungen dessen, was ein «normaler» Mensch ist, in Job-Beschreibungen oder Leistungsbewertungen, überall steckt immer wieder – mehr oder weniger – Gender drin. Das aber wollen oder können die meisten Menschen im Alltag nicht erkennen. Dafür braucht es die Forschung. Und die kann auch zum Ergebnis kommen, dass manchmal weniger Gender in etwas steckt als viele meinen. So z.B. in Bezug auf Schulerfolge: Es stimmt schon, dass Mädchen und junge Frauen derzeit sehr erfolgreich sind in Bezug auf Schule und Bildung. Zugleich aber ist das durch Schicht und Ethnizität durchbrochen. Immer noch spielt der Bildungsstand der Eltern bzw. der Familie die entscheidende Rolle. Aber Gender eben auch. Überhaupt ist Geschlechtlichkeit, ist Gender, nie alleine entscheidend für eine soziale Dynamik. Auch das ist ein verbreiteter Irrtum im Alltag. Werden empirische Wirklichkeiten ernst genommen, so lässt sich nicht von «den» Frauen oder «den» Männern sprechen. Es kommt immer drauf an, wie Menschen sozial positioniert sind: Region, Alter, Bildung und mehr spielen eine nicht nur genauso wichtige Rolle wie Geschlecht, sondern diese Positionen sind miteinander verwoben.

Wie ist die Geschlechterforschung entstanden?
Geschlecht ist soziologisch oder auch medizinisch seit den Anfängen dieser Disziplinen ein Thema, ebenso in weiteren Fächern wie der Psychoanalyse oder der Evolutionstheorie. Als kritisches und multidisziplinäres, eigenständiges Forschungsfeld haben sich die Gender Studies aus der Frauenforschung entwickelt, die übrigens immer auch etwas Männerforschung war. Die Frauenforschung wiederum entstand aus der zweiten Frauenbewegung heraus, zu der sie ein überaus kritisches und zugleich produktiv verbundenes Verhältnis hatte. Nach und nach ist die Forschung über Geschlecht immer breiter und vielschichtiger geworden, und die Frage nach der Geschlechterdifferenz selbst rückte in den Mittelpunkt. Das sind die Gender Studies. Dies begann im englischsprachigen Raum eigentlich bereits Ende der 1960er Jahre und ist in den späten 1980er Jahren auch im deutschsprachigen Raum rezipiert und weiterentwickelt worden. Seit den 1990er Jahren hat sich das Feld international etabliert, mit wichtigen regionalen Eigenheiten.

Wie stehen Geschlechterforschung und Frauenforschung (feministische Ansätze) zueinander?
In der Frauenforschung war nicht alles automatisch feministisch, und manches in der Geschlechterforschung ist es. Feministische Perspektiven in der Wissenschaft haben ein dezidiertes, offen expliziertes, meistens argumentativ ausgebreitetes und im Forschungsstand verortetes normatives Anliegen – etwa Freiheit und Gleichheit, auch für Frauen bzw. für alle Geschlechter oder die Überwindung geschlechtlich getönter Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse. Sie gehen von einer politisch-normativen Diagnose aus und forschen auf der Basis. Forschung wird als kritische Intervention in die herrschenden Zustände verstanden. Im Feld der Geschlechterforschung gibt es hierzu sehr, sehr unterschiedliche Positionen. Manche lehnen eine solche Politisierung kategorisch und dezidiert ab, andere anerkennen aber auch, dass Wissenschaft immer auch eine soziale Praxis ist und ihre Inhalte immer schon auch gesellschaftlich geprägt sind.

Was sind für Sie aktuell interessante Felder im Bereich der Geschlechterforschung?
Ganz eindeutig Care – also alles, was mit Sorge, Fürsorge, Sich-Kümmern zu tun hat – einerseits und Biopolitik andererseits, also alle Phänomene und Formen der Verklammerung von Körper und Gesellschaft. Hierunter fallen Ernährungstrends, Sport und andere Körperbearbeitungen, aber auch Gewalt oder strukturelle Verletzbarkeiten ganzer Gruppen durch Lebensbedingungen und Risiken, die damit einher gehen. Die Gefahr etwa von Suizid, Vergewaltigung, Mangelernährung, Folter, Unfällen, Krankheiten, Drogenabhängigkeit ist systematisch ungleich verteilt, weil dies mit ungleichen Lebensbedingen zu tun hat. Geschlecht ist hierbei eine ganz wesentliche, aber auch in komplexer Weise relevante Dimension. Care ist eine der drängendsten gesellschaftlichen wie individuellen Fragen überhaupt. Absolut wesentlich. Wie organisieren wir uns als Gesellschaft so, dass Menschen – egal welchen Geschlechts – Zeit und Ressourcen haben, sich um sich und um andere zu kümmern? Wie werten wir Care auf? Wie können wir wegkommen davon, Care nur als Problem und Bürde zu sehen, was es ganz ohne Frage ja auch ist. Was wären caring masculinities? Diese Fragen finde ich politisch wie in der Forschung super spannend, weil es da ganz interessante Einsichten zu entdecken gibt. Sie verweisen zudem auf ein absolut drängendes Problem: Wir haben eine Care-Krise. Im Übrigen sind beide Themen – Care und Biopolitik – in gewisser Weise verbunden, auch das finde ich sehr interessant: Wenn Ungleichheit in Verbund mit Gender auch somatische Effekte hat – Mangelernährung, Gewalterfahrung usw. –  dann muss eine Care-Ethik sich an dieser strukturellen Verwundbarkeit orientieren: Wie kann eine Haltung zur Welt und Mit-Menschlichkeit aussehen, die sich nicht wesentlich oder nicht allein an Autonomie als Maxime orientiert, sondern die auch die Angewiesenheit aller Menschen, alles Lebendigen als handlungsleitend anerkennt?

Interview: Maria Hässig


Interviewpartnerin Paula-Irene Villa Braslavsky

Prof. Dr. Paula-Irene Villa Braslavsky (Jg. 1968) studierte Diplom-Sozialwissenschaften bzw. Soziologie in Bochum und Buenos Aires. Sie arbeitete als Soziologin u.a. an den Universitäten Hannover, Innsbruck und Freiburg i.Ue. Seit 2008 ist sie Professorin für Allgemeine Soziologie und Gender Studies an der LMU München und seit 2013 im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Sie war Mitbegründerin und einige Jahre im Vorstand der Wissenschaftlichen Fachgesellschaft Gender Studies/Geschlechterforschung in Deutschland.

 

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