Von Glück und Vulnerabilität

Wie steht es mit der Arbeitsgesundheit kirchlicher Mitarbeitender? Sie tragen zur Gesundheit vieler Menschen bei. Ihr Beruf selber birgt Chancen und Risiken für die eigene Gesundheit.

«Haben wir nicht einen schönen Beruf!» Ja, denke ich, das haben wir, als mir eine Kollegin mit grosser Begeisterung von einem neuen Projekt in ihrem beruflichen Alltag erzählt und mit diesem Ausruf schliesst. Und ich denke, dass die meisten Seelsorgerinnen und Seelsorger Momente kennen, in denen sie in tiefer Dankbarkeit und Zufriedenheit diese Empfindung haben.

Seelsorge – ein Gesundheitsberuf

Das haben sie mit vielen anderen Menschen in Gesundheitsberufen gemeinsam, zu denen der Seelsorgeberuf weit gefasst auch gehört, wenn man der WHO folgt, die in ihren Konstitutionen 1948 die Gesundheit als «einen Zustand des völligen physischen, mentalen und sozialen Wohlergehens» definiert hat. Die WHO wurde für den Idealismus, der in dieser Formulierung steckt, oft kritisiert. «Völliges physisches, mentales und soziales Wohlergehen»? Ist das nicht eher ein Zustand in besonderen Momenten, aber sicher nicht der alltägliche Zustand der Gesunden? Mir gefällt diese Formulierung dennoch. Gesundheit ist dabei ein hochgestecktes Ziel, eine Richtung, in die es zu wirken gilt. Menschen in kirchlichen Berufen wirken dabei rege mit. Sie eröffnen Lebensräume für Begegnungen zwischen Menschen und zwischen Gott und Menschen. Wo dies gelingt, leisten sie einen schönen Beitrag zur Gesundheit einzelner und auch zur Gesundheit der Gesellschaft.

Leben, was ich bin

Ein schöner Beruf! Diese Erfahrung haben Seelsorgende mit anderen in Gesundheitsberufen gemeinsam. Ob Lehrperson, Pflegekraft, Ärztin oder Arzt, Sozialarbeiterin oder Sozialarbeiter: Sie alle kennen diese Empfindung. Denn sehr viele von ihnen haben einen Beruf gewählt, der ihnen, ihrem inneren Wesen, dem Kern ihrer Persönlichkeit entspricht. Das macht das Glück, aber auch die Vulnerabilität dieser Berufe aus. Die Berufe und unsere Persönlichkeit korrespondieren. «Die Entscheidung für einen Gesundheits- und Sozialberuf sagt oft viel über eine Person aus und das, was sie ist: über ihre Fähigkeiten und Qualitäten, ihre tiefen Werte, ihre Träume und Visionen und das, was ihr im Leben wichtig ist.»1 Darum beginnen viele mit einem hohen persönlichen Engagement und viel Freude ihre Arbeit. Das hat auch etwas mit Gesundheit zu tun, mit «physischem, mentalem und sozialem Wohl- ergehen». Ob diese Bestand haben, ist leider nicht sicher.

Berufung und inneres Wachstum

Dass ich lebe, was ich in der Tiefe meiner selbst bin, nennen wir in theologischer Sprache Berufung. Das hat ein Innen und ein Aussen. Es sind äussere Erfahrungen, die etwas in uns wecken. Sie machen es nicht, sondern sie wecken etwas, das in unserem Innersten wartet. Eine Person, eine Gruppe, ein Buch, eine Liturgie, ein Lied, ein Kloster, eine Liebe – und auf einmal regt sich etwas in mir und wird lebendig, ich werde. Berufung hat für manche einen besonderen Höhepunkt, andere wachsen unspektakulär in sie hinein. So oder so geschieht sie ein Leben lang. Michelle Obama hat recht, wenn sie – über die sinnlose Frage an Kinder «Was willst du mal werden, wenn du gross bist?» nachdenkend – bemerkt: «Als ob das Werden ein Ende hätte. Als ob man irgendwann etwas geworden ist, und damit hat es sich dann.»2 Berufung wächst ein Leben lang. Wenn wir mit uns, mit anderen und mit Gott in lebendiger Beziehung bleiben. Nur wenn wir uns dem inneren Wachstum vertrauensvoll hingeben und bereit bleiben, hinzuhören und aufzubrechen, bleibt die Bewegung des Anfangs, die etwas mit Gesundheit zu tun hat, auch wenn sie uns nicht vor allen Gebrechen bewahrt. Wenn das innere Wachstum jedoch von der Person selbst oder von ihrer Umgebung verhindert wird, dann verliert das Leben physisch, mental und sozial seine Kraft. Gesundheit braucht das Werden. Ein geistlicher Mensch – Mann oder Frau, mit oder ohne Weihe – sollte in sich ein Werdender sein, könnte man annehmen. Und die Kirche als Arbeitgeberin sollte diese wachsende Berufung fördern, sie wünschen und ermöglichen.3

Inneres Feuer – körperliche Grenzen

Es gibt ein mit der Berufung zusammenhängendes weiteres Beobachtungsfeld. Die Balance zwischen dem inneren Feuer und den Bedürfnissen des Körpers. Wenn eine Person tut, was ihr entspricht und sie glücklich macht, kann das leicht immer mehr Raum im Leben einnehmen. Erholung, Ernährung, Schlaf und Freizeit werden nebensächlich. Die Grenzen zwischen Arbeit und privatem Freiraum verschwinden, was eigentlich ein wunderbares Privileg eines Berufes ist. Oft kommen dann noch äussere Erwartungen dazu, die diese fehlenden Grenzen unterstützen. Ferienlager als Arbeitszeit? Der hat es gut. Fürs Gottesdienstfeiern bezahlt werden? Ist doch echt schräg. Nach der Sitzung noch zusammensitzen? Von wegen Arbeit. In jungen Jahren geht das meistens noch gut. Doch je nach Grundkonstitution und Regenerationsfähigkeit werden Energiereserven langsam, aber sicher aufgebraucht. Zudem nimmt mit zunehmendem Alter das Energiepotenzial ab. Wenn aber «das Gleichgewicht von Energiereserven und Energieverbrauch permanent überschritten wird, führt das früher oder später zum Zusammenbruch, den wir Burn-out nennen. Denn ohne die nötige körperliche Energie erlischt das Feuer im Menschen.»4 Viele Leute im kirchlichen Dienst müssen das erst (schmerzlich) lernen und bewegen sich in einem Umfeld, das dieses Lernen nicht unterstützt.

Gehöre ich da noch dazu?

Kirche war für viele Menschen im kirchlichen Dienst einmal ein grosser Hoffnungsort. Heute hingegen macht sich (Amts-)Kirchenmüdigkeit breit. Der Reformstau der letzten Jahrzehnte macht mürbe. Vieles wirkt verstaubt und festgefahren. Manche fühlen sich als moderne Menschen unwohl und fragen sich: Gehöre ich da noch dazu? «Ich bin eine emanzipierte Frau. Und ich arbeite in einer Institution, die die Frauendiskriminierung in ihren Reihen als Gottesgesetz deklariert. Das zerreisst mich», sagt mir eine Kollegin. Ein Kollege fügt hinzu: «Dass Lesben und Schwule nicht in der Kirche arbeiten dürfen, sobald sie sich zu ihrer Liebesbeziehung bekennen, ist empörend!» Wiederverheiratete, Zölibatspflicht, sexueller, geistlicher, arbeitsrechtlicher Machtmissbrauch, die Liste ist lang. Die Institution passt für viele nicht mehr zur Botschaft. Und wer ihnen diese Zweifel vorwirft, versteht den Ernst der Lage nicht. Für viele ist die Situation ein grosser innerer Konflikt, der ihnen bis in die Gesundheit hinein schadet und sie bis in ihre tiefste Tiefe umtreibt.

Gesunde Strukturen

Als ich mich vor drei Jahren für die Stelle als Seelsorgerin für Seelsorgende im Bistum Basel bewarb, hat mich eine Formulierung in der Stellenbeschreibung besonders angesprochen: Ziel seien «gesunde Seelsorgende in gesunden Strukturen». Auf kluge Weise fasst dieser Satz die Dialektik. Gesunde Menschen und gesunde Strukturen gehören zusammen. Weiter gilt: Gesunde Menschen schaffen gesunde Strukturen, eine Umgebung, die dem physischen, mentalen und sozialen Wohlergehen förderlich ist.

Gesundheit ist – wie eingangs erwähnt – ein hochgestecktes Ziel, eine Richtung. Inmitten der weltweiten Gesundheitskrise durch das Coronavirus schreibe ich diesen Artikel. Das Virus hat, wenn ich richtig sehe, für die Kirche und ihre Mitarbeitenden eine Verschiebung der Kräfte zur Folge, die schon länger begonnen hatte, jetzt aber an Fahrt gewinnt. Die Kirche erhält durch diesen langen Lockdown wieder vermehrt die Dynamik einer Bewegung. Und das ist eine grosse Chance für Veränderungen. Jede und jeder – mit und ohne Leitungsverantwortung – hat jetzt nach dem eigenen Beitrag zu fragen, im eigenen Leben und in den durch sie/ihn mitgeprägten Strukturen. Auf Mahatma Gandhi hörend: «Sei du die Veränderung, die du in der Welt sehen willst!» Dabei nicht alleine, sondern vernetzt mit anderen: «Macht ist die Fähigkeit, sich mit anderen zusammenzuschliessen und gemeinsam mit ihnen zu handeln», formulierte Hannah Arendt einst weise. Ja, so gesehen haben wir einen sehr schönen Beruf und sind wirklich privilegiert.

Gabriele Kieser

 

1 Kieser, Gabriele, Achtsamkeitsbasierte Persönlichkeitsentwicklung. Praxisbuch für Menschen in Gesundheits-, Pflege- und Sozialberufen, Bern 2020, 13.

2 Ebd. 17.

3 Vgl. ebd. 169–171.

4 Ebd. 75.

Buchempfehlung: «Achtsamkeitsbasierte Persönlichkeitsentwicklung. Praxisbuch für Menschen in Gesundheits-, Pflege- und Sozialberufen». Von Gabriele Kieser. Bern 2020. ISBN 9783456859477, CHF 42.90. www.hogrefe.ch

 


Gabriele Kieser

Dr. Gabriele Kieser (geb. 1962) ist Theologin, Logotherapeutin und Ausbildnerin der PRH-Persönlichkeitsentwicklung (PRH – Personnalité
et Relations Humaines). Sie arbeitet als Seelsorgerin der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel, als Seelsorgerin für Seelsorgende im Bistum Basel sowie als Seminarleiterin und Personal Coach in der Schweiz, in Österreich und Deutschland.