Mensch sein ist mehr als gesund sein

Wofür lohnt es sich zu leben, wenn Krankheit ins Leben tritt und dieses radikal in Frage stellt? Spitalseelsorgende werden existenziell mit der Frage nach dem Lebenssinn und dem Menschsein in Krankheit konfrontiert.

«Ich habe meine Krankheit nicht eingeladen. Ich will sie nicht», sagen mir Patientinnen und Patienten. Gut ist es, wenn die Krankheit tatsächlich wieder geht und Heilung eintritt. Was aber, wenn die Krankheit nicht wieder geht und ungeladen bleibt? Was bedeutet es, wenn mir ein Mensch sagt «Diese Krankheit gehört nicht zu mir», und dennoch ist sie da mit all dem, was sie mit sich bringt? Vielleicht sind es dauerhafte Einschränkungen und Behinderungen. Vielleicht führt die Krankheit auch in absehbarer Zeit zum Tod. Wenn die Gesundheit das höchste Gut und so der alleinige Lebenssinn ist, und wenn die Hoffnung, dass die Krankheit geht, nicht mehr da ist, dann wird es schwierig, in der Krankheit zu bestehen.

«Diese Krankheit gehört nicht zu mir», kann ich auch als Ausdruck einer tiefen Überzeugung hören: «Als Mensch bin ich mehr als diese Krankheit.» Ich höre diesen Satz auch als Sehnsucht: «Ich will als Mensch angesprochen werden und nicht nur als kranke Person. Ich will Menschen begegnen, ohne dass mir ständig ein Macht- oder Wissensgefälle vorgehalten wird.» Diese Überzeugung und Sehnsucht haben unsere Vorfahren im Glauben geteilt. Deshalb konnten sie zu Worten inspiriert werden wie: «Was ist der Mensch, dass du an ihn denkst? Des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst?» (Ps 8,5)

Lebenskraft aus dem Segen Gottes

Wir sind als Menschen mehr als unsere Krankheit. Unser biologisches Leben wird durch Krankheit und Gebrechlichkeit beeinträchtigt und irgendwann stirbt es auch. Unser Menschsein wird dadurch nicht beeinträchtigt oder zerstört. Zugegeben, das klingt sehr abstrakt. Aber ich bin Menschen begegnet, bei denen ich das erlebt habe. Eine Begegnung begleitet mich bis heute: Bei einem Routinevorstellungsbesuch traf ich einen gut 50-jährigen Mann auf der Intensivstation. Ein Dickdarmkrebs hatte es nötig gemacht, ihm einen künstlichen Darmausgang zu legen. Niedergeschlagen lag der Mann im Bett. «Gut, dass Sie da sind. Wissen Sie, ich bin ein Lebemann. Jetzt habe ich dieses Stoma. Damit kann ich nicht leben. Sobald ich hier draussen bin, begehe ich Suizid. An Sie habe ich noch eine letzte Bitte: Segnen Sie mich!» Ich war überrascht. Offensichtlich schaute ich etwas verdattert drein, denn er fuhr enttäuscht fort: «Sie können das ja nicht. Sie sind von der Kirche. Die Kirche will nicht, dass man sich umbringt.» Jetzt konnte ich reagieren: «Das stimmt, die Kirche will nicht, dass man sich umbringt. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich segne nicht Ihre Entscheidung. Ich bete um den Segen Gottes für Sie. Wenn Sie möchten, beten Sie mit. Ich bin überzeugt, Gottes Segen ist bei Ihnen auf all den Wegen, die Sie gehen.» Er war einverstanden. Es wurde eine sehr dichte spirituelle Erfahrung für uns beide. Etwa ein halbes Jahr später traf ich ihn auf einer normalen Pflegestation wieder. Aufgestellt und fröhlich sprach er mich an. Er erholte sich gerade von der Operation, die sein Stoma rückgängig gemacht hatte. Er zeigte sich sehr dankbar und erzählte, dass das Segensgebet ihm viel Kraft gegeben habe zum Weiterleben. Er glaube nicht, dass er sonst hier wäre.

Was kann Seelsorge dazu beitragen, in der Krankheit zu bestehen? Bei diesem Mann war es die Begegnung von Mensch zu Mensch ohne Machtgefälle, die Anerkennung der Not und das Teilen der Hilflosigkeit im Spüren der Ohnmacht. Ich hatte keine Lösung parat und ich habe auch nicht so getan, als gäbe es eine. Im Segensgebet lag aber die Vergewisserung, dass Gott an diesen Menschen denkt. Ob in Verzweiflung oder Zuversicht, ob in Krankheit oder Gesundheit, ob in Kraft oder Schwäche, Gott hat den Menschen nur wenig geringer gemacht als sich selbst, ihn mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Dies zu glauben und wenigstens ein wenig davon zu erfahren, kann einem Menschen Sinn und Lebensmut schenken.

Stefan Hertrampf


Stefan Hertrampf

Stefan Hertrampf (Jg. 1963) studierte Theologie in Tübingen und Dublin und machte einen Bachelorabschluss in Sozialarbeit in Heidenheim. Er war von 2004 bis 2008 Gemeindeleiter der Pfarrei St. Anton in Wettingen und ist seit 2008 Spitalseelsorger am Kantonsspital Aarau.

 

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