Von der Sehnsucht nach Heil(Werdung) an Weihnachten

«Stille Nacht, heilige Nacht» und «Komm du Heiland aller Welt»

Kaum eine andere Zeit im Kirchenjahr ist so durch bestimmte Lieder und Gesänge geprägt wie die Advents-und Weihnachtszeit. Gerade «Stille Nacht, heilige Nacht» oder «O du fröhliche» erscheinen nicht wenigen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als der Inbegriff von Weihnachten. In Fachkreisen wird oft beklagt, dass diese Beispiele von Weihnachtsliedern gegenüber anderen inhaltlich schlicht und musikalisch eher dürftig seien. Doch es sind gerade diese Lieder, die viele berühren, Erinnerungen transportieren, Erfahrungen wachrufen und Sehnsüchte nach einem friedvollen und harmonischen Miteinander wecken. Beide Beispiele sind in einer Zeit Anfang 19. Jahrhundert entstanden, eine Zeit, die von existenzieller Not, von Hunger und Leid bestimmt war. Nichts sehnsüchtiger wünschten sich die Menschen damals als zu schlafen «in himmlischer Ruh», so wie das Kind in der Krippe. Interessant ist, dass diese Weihnachtslieder auch heute noch eine ähnliche Sehnsucht auszulösen vermögen wie in der Entstehungszeit.

Innere Kraft von «Stille Nacht, heilige Nacht»

Dass diesen Liedern eine ganz eigene Kraft innewohnt, zeigen Beispiele aus ihrer Rezeptionsgeschichte. Da sind einmal die Ereignisse, die als der «Weihnachtsfriede von 1914» in die Geschichte eingegangen sind. Das Singen der Weihnachtslieder in den Schützengräben war so emotional und bewegend, dass – ohne ein zuvor ausgehandeltes Waffenstillstandsabkommen – der Beschluss unter den Soldaten aufkam, in der Heiligen Nacht nicht aufeinander zu schiessen. Am Weihnachtstag besuchte man sich gegenseitig im Niemandsland, begrub die Leichen und tauschte Geschenke aus. Von gemeinsamen Fussballspielen wird sogar berichtet. Ein paar Tage Frieden in einer friedlosen Zeit ausgelöst durch das Singen solcher Weihnachtslieder.

Ähnliche Menschen verbindende Erfahrungen ausgehend von diesen Weihnachtsliedern werden aus dem Kessel von Stalingrad 1942 berichtet. Gerade dem Gesang «Stille Nacht, heilige Nacht» kam an diesem Weihnachtsfest mitten im Grauen des Krieges eine besondere Bedeutung zu, denn alle Christen – gleich welcher Konfession – stimmten zusammen mit Kommunisten und Andersglaubenden in dieser ausweglosen Situation in dieses Lied ein. «So glich das Weihnachtsfest von Stalingrad einer Utopie, in der die Unterschiede von Nationen und Religionen sekundär geworden waren, wo Ideale wie Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit für einen Augenblick realisiert zu sein schienen» (Stephan Wahle).

Gott sei Dank stehen wir in der Gegenwart der Schweiz nicht in solchen Kriegssituationen mit all ihren Auswirkungen und Folgen. Es sind andere Herausforderungen und existenzielle Situationen, in denen Menschen heute leben. Was das Damals und das Heute jedoch verbindet, ist die Sehnsucht, für das Leben Hoffnung und im Leben Sinn zu finden. Dies können die überkommenen Weihnachtslieder der Christenheit auch heute noch vermitteln, für einen Moment wenigstens – und sei es nur dann, wenn zum Schluss des Gottesdienstes am Heiligabend die Lichter gelöscht werden und die oft bunt zusammengewürfelte Feiergemeinschaft gemeinsam «Stille Nacht, heilige Nacht» anstimmt.

Nur Gefühl oder doch auch Glaube?

Erzeugen diese Weihnachtslieder im Grunde nur oder vor allem ein Gefühl? Mehr oder weniger romantisch und zugleich weltfremd? Haben sie auch einen Inhalt, der sie neben süsslicher Melodie und blumiger Sprache auch zu Vermittlern von Glaubensaussagen werden lässt? Schauen wir «Stille Nacht, heilige Nacht» daraufhin an. Da ist vom «holden Knaben im lockigen Haar» die Rede, der als «Sohn Gottes» und «Retter» bezeichnet wird. Dieses christologische und soteriologische Bekenntnis kulminiert in der zweiten Strophe im Schlusssatz: «Christ, der Retter ist da.» Die Ankunft des Retters wird nicht für eine Situation in der Vergangenheit beschrieben, sondern als ein Wirken in der Gegenwart, im Heute der Singenden. Man darf folgern, dass in den Feiernden im Singen nicht nur ein Gefühl erzeugt wird, sondern dass sie sich auch einüben in den Glauben an diesen Gott, der Mensch wurde, um der Welt Heil zu schenken. Und so wie damals vor 2000 Jahren der Engel den Hirten auf dem Feld die frohe Kunde brachte, so ereignet sich im konkreten Heute der Singenden das Heil aufs Neue. Wie damals auf dem Feld gilt die Botschaft jedoch nicht nur den Hirten in Betlehem und nicht nur der jetzt feiernden Gemeinde, sondern darüber hinaus der ganzen Welt. Das Lied ist alles andere als nur privat und familiär, denn die «Macht» und die «väterliche Liebe», die in der Geburt Jesu zum Ausdruck kommen, gelten allen «Völkern der Welt».

«Komm, du Heiland aller Welt»

Bei näherem Zusehen werden also nicht nur Emotionen transportiert, sondern ebenso die christliche Botschaft. Die Art und Weise, wie hier Glaube vermittelt wird, entspricht dabei allerdings ganz dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts. Es dreht sich alles um die Krippe, um Maria und Josef, um die Engel und die Hirten auf dem Feld. Weihnachten ist das winterliche Fest der Familie und der Liebe, die die Völker verbindet. Dass die christliche Botschaft noch mehr ist, versteht sich von selbst. Deshalb singen die christlichen Gemeinden an Weihnachten auch mehr als nur «Stille Nacht, heilige Nacht». In dem ältesten Weihnachtslied der Christenheit, dem altkirchlichen Vesperhymnus «Intende, qui Regis Israel» des Ambrosius von Mailand (339–397), wird das Geburtsgeschehen in einen weitgespannten heilsgeschichtlichen Horizont gestellt und ganz konsequent auf die österliche Mitte des Glaubens hin ausgerichtet. Dieser Hymnus gehört ebenso zum Schatz der Lieder rund um Weihnachten. Im Gesang «Komm, du Heiland aller Welt» – eine Übertragung dieses alten Hymnus, der im Kirchengesangbuch jedoch unter die Rubrik «Advent» eingeordnet ist – betrachtet in allen Strophen die Fleischwerdung Gottes zum Heil der Menschen.

Immer – und diesbezüglich stimmen alle christlichen Weihnachtslieder überein – geht es um das Heil, das der Welt mit der Geburt des Sohnes Gottes geschenkt wurde und an dem alle Anteil erhalten, wenn sie sich diesem menschgewordenen Gott zuwenden.

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Zum Weiterlesen: Stephan Wahle, Das Fest der Menschwerdung. Weihnachten in Glaube, Kultur und Gesellschaft. Freiburg, Basel, Wien, 2015.

Birgit Jeggle-Merz (Bild: unilu.ch)

Birgit Jeggle-Merz

Dr. theol. Birgit Jeggle-Merz ist Ordentliche Professorin für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Hochschule Chur und a. o. Professorin in derselben Disziplin an der Universität Luzern.