Zieht aus, schafft den Advent ab?

Im Tollhaus Welt noch etwas erwarten? Xaver Pfister setzt sich mit der Weltlage und mit Albert Camus Option und dem christlichen Glauben auseinander.

Mögen Sie es noch lesen? Von Syrien? Wegen der Luftangriffe drohe in Aleppo eine humanitäre Tragödie, sagt der UNO-Hilfekoordinator. Die Stadt drohe sich in «einen gigantischen Friedhof» zu verwandeln. Der Sonderbeauftragte für Syrien sprach angesichts verstärkter Luftangriffe auf die Metropole von einer «humanitären Tragödie», die sich verschlimmere. Bemühungen, die Beteiligten des Konflikts mittels einer UNO-Resolution zu einer Feuerpause zu bewegen, blieben erneut ohne Erfolg. In den vergangenen Tagen wurden gegen 70 000 Menschen vertrieben, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte meldete.1

Mögen Sie davon noch lesen? Von Nigeria? Dort hat der Kampf gegen die Terrorgruppe Boko Haram zahlreiche Opfer in der Zivilbevölkerung als auch bei den Regierungstruppen und deren Helfern gefordert. Anhänger der islamistischen Terrorgruppe entführten mehrfach Kinder und Jugendliche. Hunderte Zivilisten wurden bei Anschlägen getötet. Auf der Gegenseite verübten die Regierungstruppen ebenfalls Verbrechen, z. B. das Misshandeln und Hinrichten von Terrorverdächtigen.2

Mögen Sie es noch zur Kenntnis nehmen, wie die Schere von reich und arm immer mehr auseinanderklafft? «Die 300 Reichsten der Schweiz verzeichnen 2016 saftige Vermögenszuwächse. Zusammen besitzen sie 613 Milliarden Franken, 18,6 Milliarden mehr als 2015.»3 Die reichste ist Familie Kamprad, die ein Vermögen von 44 500 Millionen Franken besitzt.4

Mögen Sie noch die sexuelle Gewalt in der Kirche zur Kenntnis nehmen? Im Juli 2014 veröffentlichte das Erzbistum Freiburg die Ergebnisse einer externen Studie: Seit 1942 gab es dort mehr als 180 Missbrauchsopfer. Verbale, sexuell gefärbte Übergriffe bis hin zu Vergewaltigungen ereigneten sich überwiegend zwischen 1960 und 1990. Rund 130 Opfer seien von der Kirche finanziell entschädigt worden. In 38 Fällen seien die Täter strafrechtlich verurteilt worden; die meisten blieben unbestraft.5

Und ertragen Sie noch den Lichterzauber über dem Weihnachtsverkauf? Auch das Weihnachtsfest gerät in die Klauen des amerikanischen Lebensgefühls. Daniel Goldstein schildert das so: «Das Fest, für das Santa die Werbeglöcklein klingeln lässt, heisst nun auch hierzulande immer penetranter Xmas und wird uns mit dazu passender Musikberieselung eingetrichtert …»6

Gewaltige Visionen Lügentexte?

Die Welt ist zu einem Tollhaus geworden. Und die Kirche besitzt einige tolle Häuser. Das kann einem schon den Mut nehmen und aus dem Advent in die innere Immigration treiben. Der Advent ist ja eine Zeit der Visionen. Die Lesung des 2. Adventssonntags wie alle Lesungen der Adventssonntage aus dem Profeten Jesaia reden davon.

«Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht. Er richtet nicht nach dem Augenschein und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er, sondern er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist …»7

Die Visionen sind wuchtig und die adventliche Hoffnung gewaltig. Seit 2000 Jahren werden diese Texte gelesen. Können sie heute noch vorgelesen werden? Sind sie nicht zynisch geworden? Halten sie der oben geschilderten Realität stand? Zuweilen zweifle ich daran. Jagen wir nicht Illusionen hinterher? Sollten wir die Hoffnungsbrötchen nicht bescheidener und kleiner backen?

Statt unzerstörbare Hoffnung bewahren als absurder Held glücklich leben?

In solchen Anwandlungen erinnere ich mich des Essays «Der Mythos des Sisyphos» von Albert Camus. Im Roman «Die Pest»8 beschreibt Camus die Pest, die sich in der Stadt Oran ausbreitet. Immer mehr Menschen werden von ihr weggerafft. Mitten im Roman wird eine Schlüsselszene beschrieben. Ein von der Pest geschlagenes Kind liegt im Krankenbett in einem Saal, in dem einige pestkranke Erwachsene liegen, stumm und mit leeren Augen. «Nur das Kind wehrte sich aus Leibeskräften.» Der Arzt Rieux versucht, es zu retten. Er verbindet sich empathisch mit dem Kind und versucht, ihm mit seiner ganzen unverbrauchten Kraft beizustehen. Aber das Kind entgleitet seiner Umarmung. Rieux’ Anstrengung geht ins Leere. «Einer der Umstehenden sagte, es sei zu Ende mit dem Kind. Mit offenem Mund, aber stumm lag das Kind tief in den zerwühlten Decken; es war auf einmal kleiner geworden und auf seinem Gesicht waren noch Spuren von Tränen.»9 Lange später zieht sich die Pest zurück.10 Oran jubelt. Dr. Rieux aber hat sich an einen Abhang zurückgezogen, von dem er die ganze Stadt überblicken konnte. Da entschied er sich, die ganze Geschichte der Epidemie zu erzählen. Der Roman ist dieser Bericht. Dabei wusste er, dass diese Chronik nicht die des endgültigen Sieges sein konnte. «Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt aufstiegen, erinnerte er sich nämlich daran, dass diese Freude immer bedroht war. Denn er wusste, was dieser Menge im Freudentaumel unbekannt war und was man in Büchern lesen kann, dass nämlich der Pestbazillus nie stirbt und nie verschwindet, dass er jahrzehntelang in den Möbeln und in der Wäsche schlummern kann, dass er in Zimmern, Kellern, Koffern, Taschentüchern und Papieren geduldig wartet und dass vielleicht der Tag kommen würde, an dem die Pest zum Unglück und zur Belehrung der Menschen ihre Ratten wecken und zum Sterben in eine glückliche Stadt schicken würde.»

Mythos des Sisyphos

Mit einem seiner meistgelesenen Texte, dem «Mythos des Sisyphos», gibt Camus eine philosophische Deutung des Textes. Sisyphos ist als eine Figur der griechischen Mythologie bekannt, die im Volksglauben als Schalk und Urbild des Menschen und Götter verachtenden Frevlers gilt, dem es durch skrupellose Schlauheit mehrfach gelingt, trickreich den Tod zu überlisten und den Zustrom zum Hades zu sperren, indem er den Todesgott Thanatos fesselt. Nach dessen Befreiung wird Sisyphos festgesetzt, aber es gelingt dem Toten mit einer List erneut, ins Leben zurückzukehren: Er befiehlt seiner Frau, ihn nicht zu bestatten und keine Totenopfer für ihn darzubringen. Um dieses Ärgernis zu regeln, entlässt Thanatos ihn noch einmal ins Leben, woraufhin Sisyphos dem Tod ein weiteres Mal entgeht. Man spricht von der Sisyphos-Strafe. Einmal wird Sisyphos für seine Renitenz dem Gott Thanatos gegenüber bestraft, einmal für seine Verschlagenheit, einmal, weil er den Göttervater Zeus, der dessen Tochter Aigina geraubt hat, an den Flussgott Asopos verraten hat. Schliesslich wird er von Hermes für seinen Frevel in die Unterwelt gezwungen, wo er zur Strafe auf ewig einen Felsblock einen Berg hinaufwälzen muss, der, fast auf dem Gipfel angekommen, jedes Mal wieder ins Tal rollt. «Wir sehen nur, wie ein angespannter Körper sich anstrengt, den gewaltigen Stein anzuheben, ihn hinauf zu wälzen und mit ihm wieder und wieder einen Hang zu erklimmen; wir sehen das verzerrte Gesicht, die Wange, die sich an den Stein presst, sehen, wie eine Schulter den erdbedeckten Koloss abstützt, wie ein Fuss sich gegen ihn stemmt und der Arm die Bewegung aufnimmt.» Oben angekommen, entgleitet der Stein der Anstrengung des Sisyphos. Innerhalb weniger Sekunden rollt er hinunter. Von dort muss Sisyphos den Stein wieder hochrollen. Tag für Tag. Ohne Ende ist sein Lebenswerk festgelegt. Eine absurde Situation. Sisyphos ist für Camus deshalb der absurde Held aufgrund seiner Leidenschaft und seiner Qual. Unten angekommen, weiss er, dass die Arbeit wieder beginnt, und dies ohne Ende. Er kennt seine Situation. Im Moment aber, in dem er die Rückkehr vom Hügel auf sich nimmt, ist er stärker als sein Stein. Er jammert nicht, ertrinkt nicht im Klagen, er tut und handelt. Darum ist er ein Held. Man entdecke, schreibt Camus, das Absurde nicht, ohne in Versuchung zu geraten, irgendein Handbuch des Glücks zu schreiben. Glück und Absurdität seien Kinder dieser Erde. In der Einsicht in diese unauflösbare Polarität entdeckt Camus die für ihn zentrale Erkenntnis: Mein Schicksal gehört mir, ich bin Herr meiner Tage. Sein Leben ist absurd, aber nicht sinnlos. Sein Essay endet: «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.»11 Die spirituelle Option Camus ist anspruchsvoll. Sein Held lebt ein glückliches, freies Leben. Dieses Leben aber ist anstrengend, weil es in den unaufhebbaren Widersprüchen treu und sinnlos die Arbeit mit dem Stein tut.

Glauben und hoffen, dass der Stein einmal oben bleiben wird

In vielen Kursen versuchte ich, die Differenz der Position von Camus mit der des Christentums in ein Bild zu fassen. Bei Camus wird der Stein ewig den Berg hinunterkullern. Das Christentum glaubt, dass der Stein einmal oben bleiben wird, von Gott gesetzt im Ende der Zeit. Weil mir die Welt oft absurd erscheint, möchte ich die Position Camus ständig mit mir tragen, festhalten will ich gegen alle Absurdität den Glauben, dass der Gott des Jesus von Nazareth kommen wird, um einen neuen Himmel und eine neue Erde zu schaffen, wie in der Offenbarung 21, 1–4 geschildert wird. Das neue Jerusalem kommt von Gott her herab. Es kann also nicht von uns Menschen erbaut werden. Es ist reine Gnade, um einen alten Begriff zu verwenden. Reine Zuwendung Gottes, die wir nicht erzwingen können, auch nicht mit unserem Gebet, unserer Frömmigkeit und unseren Pontifikalämtern der Männer mit Mitra und den Frauen, kniend in den Bänken.

Lebenspraxis Jesu – mit den Armen

Es gibt nur eine Möglichkeit, auf dieses Ereignis zu warten. Jesus hat uns die Perspektive gezeigt. Jesaia hat sie in seinen Texten benannt: «Er richtet nicht nach dem Augenschein, und nicht nur nach dem Hörensagen entscheidet er, sondern er richtet die Hilflosen gerecht und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist.»12 Der Advent hat in der meist grausamen Realität unseres Lebens nur dann Bestand, wenn wir ihn in der Nachfolge Jesu leben, entschieden und klar. Der Advent, der die Tollheit der Welt bewusst ausblendet und zum wohligen Wohlfühlen einlädt, ist nicht der Advent, der das Kommen des Herrn erhofft.

 

1 NZZ online, 1. 12. 2016.

2 wissen.de/krisengebiete-konflikte-und-daraus-resultierende-reisewarnungen-20142015.

3 Die 300 Reichsten der Schweiz; bilanz.ch/die-300-reichsten-der-schweiz-2016.

4 Firma Ikea: Wohnsitz der drei Brüder, die Schweizer wurden im Waadtland, Zahlen 2015.

5 spiegel.de/panorama/ gesellschaft/katholische-kirche-erzbistum-freiburg-ermittelt-185-missbrauchsopfer, 18. 7. 2014.

6 Daniel Goldstein: Infosperber, 19. 11. 2016.

7 Jes 10.1–10.

8 Die Pest, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 197.

9 Camus: Die Pest, S. 246.

10 Camus: Die Pest, S. 350.

11 Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos, Reinbeck bei Hamburg 2000, S. 141–145.

12 Jes 35,5–10 / 11,6–9.

Xaver Pfister | © kath.ch

Xaver Pfister

Dr. theol. Xaver Pfister lebt als Theologe und Publizist in Basel.