Von Äpfeln und Birnen im Religionsvergleich

Selbst öffentlich-rechtliche Medien bezeichnen den Islam oft als drittgrösste Religionsgruppe der Schweiz. Ein grober methodologischer Fehler, dessen Hintergrund uns aber hilft, viele vorherrschende Missverständnisse besser zu verstehen.

Nein, der Islam ist nicht die drittgrösste Religion der Schweiz nach Katholizismus und Protestantismus. Bei Ersterem handelt es sich effektiv um eine Religion, bei Letzteren jedoch um zwei Konfessionen derselben Religion. Es werden Äpfel mit Birnen verglichen. Korrekt würde es also heissen: Der Islam ist die zweitgrösste Religionsgruppe der Schweiz nach dem Christentum. Weshalb werden die mehr oder weniger feinen Unterschiede verschiedener Strömungen beim Christentum herausgestrichen, beim Islam jedoch nicht? Ich nehme an, dass es sich lediglich um fehlende Kenntnisse handelt.1

Auf sehr subtile und unbewusste Weise beginnt genau hier, was viele Muslime mit Recht als Pauschalisierung bezeichnen. Zu viele in der Schweiz lebende Menschen, Politiker, Journalisten und weitere Meinungsführer sind nicht im Stande, die grosse Vielfalt der islamischen Gemeinschaft angemessen zu benennen. «Muslimischer Vater verbietet seiner Tochter die Teilnahme am Schullager.» Ein Pressetitel, der bei der Mehrheit der Schweizer LeserInnen keine Irritation auslöst.2 Er ist ja an sich auch nicht falsch. Bei «Christlicher Vater verbietet seiner Tochter die Teilnahme am Schullager» würden die LeserInnen jedoch die notwendige Nuancierung vermissen: Nämlich, dass der Journalist uns spätestens im Inhaltsteil sagt, welcher christlichen Strömung dieser Vater angehört. Dasselbe wäre der Fall bei «Christen lehnen Religionsfreiheit und Rechtsstaat ab» oder «Sexueller Missbrauch in christlicher Gemeinde». Dies sind alles reale Beispiele aus der Schweiz.

Fehlende Nuancierungen

Ein Grund für die fehlende Nuancierung, was die islamische Gemeinschaft betrifft, ist wahrscheinlich der Umstand, dass schon die Schreiber diese Sensibilität vermissen lassen oder sich nicht bewusst sind, wie wichtig respektive methodologisch angemessener diese wäre. Das Resultat ist, dass sich im kollektiven Unterbewussten das Bild einer homogenen islamischen Gemeinschaft einprägt, die dann quasi genossenschaftlich die Verfehlungen jeder abweichenden Splittergruppe mittragen oder sich zumindest klar davon distanzieren muss. Dies führt so weit, dass Vertreter des politischen Christentums, wichtige Schweizer Politiker, sich zu Aussagen wie «Muslime gehören zur Schweiz, der Islam nicht» hinreissen lassen, oder, dass hochrangige Kirchenvertreter in ein fremdes Land reisen, um mit dem dortigen Oberhaupt der islamischen Gemeinschaft eine Vereinbarung bezüglich der Gesinnung von muslimischen Schweizern zu unterzeichen. Als hätten diese nur darauf gewartet, um endlich die Schweizer Gesetze respektieren zu dürfen. Können Sie sich vorstellen, wie demütigend es für den muslimischen Durchschnittsschweizer ist, sich von Terror und Gewalt distanzieren zu müssen?

Entgegen schweizerischen Sozial- und Gesetzesnormen herrscht die Schuldsvermutung. Dabei gibt es doch auch Terrorgruppen, die sich selber als christlich definieren. Nennen könnte man zum Beispiel die Anti-Balaka in der Zentralafrikanischen Republik, die nationale Befreiungsfront von Tripula und den Nationalen Sozialistischen Rat von Nagaland in Indien, die Widerstandsarmee des Herrn in Uganda oder diverse Gruppen in den USA. Deren Verbrechen entsprechen in ihrem Ausmass ungefähr jenen des sogenannten «Islamischen Staates» und reichen von Zwangsbekehrungen, Kindersoldaten, Terroranschlägen, Massaker und Vertreibung bis zu Kannibalismus. Keiner repräsentativen Instanz von Schweizer Muslimen käme es in den Sinn, von Schweizer Christen eine Distanzierung von diesen Gruppen zu fordern. Man kann zwar anführen, dass diese Terroristen keine Anschläge in Europa verüben. Genauso könnte man argumentieren, dass menschliches Leben überall auf der Welt den gleichen Wert hat und wir gemeinsam für globale Solidarität und Frieden einstehen sollten.

Repräsentative Ansprechpartner

Dies bringt mich zum letzten Punkt. Immer wieder hört man das Bedauern, dass es auf muslimischer Seite keinen repräsentativen Ansprechpartner gäbe. Dies ist ein weiterer Ausdruck des eingangs erwähnten Missverständnisses zwischen Konfession und Religion. Die kantonalen Muslimverbände repräsentieren gewöhnlich eine grosse Anzahl der lokalen Gemeinschaften. Bei uns im Kanton Waadt sind es zum Beispiel 17 von 21 Moscheen, also über 80 Prozent. Der Föderation Islamischer Dachverbände Schweiz (FIDS), welche fast alle kantonalen und ethnischen Verbände vertritt, gehören über 200 von zirka 270 Schweizer Moscheen an, also ebenfalls gegen 80 Prozent. Dagegen gibt es in der Schweiz keine Kirche, die einen so hohen Prozentsatz an Christen vertritt. Man soll nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.

 

1 Pascal Gemperli plädiert für Abhilfe bei Generalisierungen, welche in seinen Augen im Verhältnis zwischen den Religionen schwerwiegende gesellschaftliche Probleme entstehen lassen.

2 Zumindest auf methodologischer Ebene nicht.

Pascal Gemperli

Pascal Gemperli ist Präsident der Union Vaudoise des Associations Musulmanes (UVAM).