Reflexionen aus islamischer Perspektive zum Dschihad

Es ist dunkel. Die Morgendämmerung naht. Ich liege im Schlaf. Kurze Zeit später klingelt der Wecker. Scharia! Wie bitte? Ja, die fünf Pflichtgebete sind für jeden Muslim unabdingbare tägliche Handlungen, und das erste Gebet ist gleich nach der Morgendämmerung bis vor Sonnenaufgang zu verrichten.

Alles in der Scharia ist geregelt. Und da ich morgens nicht immer der fitteste Mensch bin, brauche ich den Dschihad, meine Motivation für die Verrichtung des Gebets. Ein richtiger Kampf, aber er trägt süsse Früchte, nämlich mein Wohlbefinden und tief verinnerlichte Glückseligkeit. Nun, die Stirn schon in Falten gelegt? Die Augen verdreht? Alles kein Problem, nur bitte weiterlesen.

Nun habe ich vielleicht einige Vorurteile durcheinandergebracht. Genau deshalb ist eine Differenzierung beim Begriff «Dschihad» notwendig, denn seine Bedeutung ist breiter, als man sie durch die mediale Berichterstattung wahrnimmt. Der Terminus Dschihad wird im Qur’an und in den Ahadith (Überlieferungen der Aussprüche und Handlungen des Propheten Muhammed) in unterschiedlichen Kontexten verwendet. Grundsätzlich umfasst Dschihad jegliches «Bemühen» oder «Anstrengungen» auf dem Weg Gottes. Insbesondere in westlichen Medien höre und lese ich oft die Übersetzung des aus islamisch-normativer Sicht wichtigen Begriffes Dschihad mit «Heiliger Krieg» à la Kreuzritter, was der Wahrheit nicht gerecht wird. Ergo führt diese irrtümliche Deutung dazu, dass man unter dem Dschihad einen willkürlichen Angriffskrieg versteht. Die Begriffe des «heiligen» und des Krieges kommen darin nicht vor.

Würde man «der Heilige Krieg» ins Arabische übersetzen, dann würde dies wortwörtlich mit «al-harbu al-muqaddasatu» lauten. Ich werde nun einen Qur’anvers aufführen und versuchen diesen anhand der Exegese von Muhammad Assad zu erläutern. In der Sura 2 Vers 190 heisst es: «Und kämpft für Gottes Sache gegen jene, die Krieg gegen euch führen, aber begeht keine Aggression – denn, wahrlich, Gott liebt Aggressoren nicht.» In diesem und den weiterführenden Versen sind beide deutschsprachigen Qur’anexegeten im Konsens (auch unter Einbezug von den grossen Qu’rankommentatoren wie Ibn Kathir und Tabari), dass Krieg für die Muslime nur als Selbstverteidigung und unter Einhaltung strikter Grenzen und Regeln erlaubt sei. Nebst dessen, dass man keine Frauen, Kinder, ältere Menschen und Mönche weder verletzten noch töten darf, beinhalten diese Regeln der Kriegsführung auch die Nichtzerstörung des Ackerbaus, Palmen etc. So viel zum – ich nenne ihn mal – Ausnahmedschihad.

Der tägliche Dschihad der Muslime

Als die Sahaba (erste Generation der Muslime) mit dem Propheten Muhammed von einem Krieg zurückkehrten, da sagte er ihnen, dass sie vom kleineren zum grösseren Dschihad gekommen sind. Er meinte damit die religiöse und ethische Pflicht zur Selbstbeherrschung und Selbstvervollkommnung.

Die spürbare Glückseligkeit für eine/n Muslim/a beginnt gleich mit dem Morgengebet. In den Sommerzeiten bedeutet dies vor 5.00 Uhr morgens aufzustehen und sich Gott reumütig in der Niederwerfung zuzuwenden. Ja, auch an den freien Tagen. Es ist eine tägliche Bemühung/Dschihad, die Gläubige für Gott erbringen, um sich dadurch Ihm nähern zu können und um Seine Liebe für uns spürbar zu machen. Die Liebe aus tief verinnerlichter Überzeugung zu Gott muss die Grösste sein, d. h. sie kommt noch vor der Familie, dem Reichtum und sonstigen weltlichen Bestrebungen.

Weshalb ist das nun ein ständiger Kampf? In der Realität ist die Tatsache so, dass der Iman (Glaube) nicht immer auf dem Höhepunkt schwebt. Mal ist unsere Zuneigung Gott gegenüber grösser, mal kleiner. Das Ziel besteht darin, sich von den weltlichen Dingen nicht ablenken zu lassen, damit man das Gebet nicht womöglich noch verpasst. Wir sind alle Zeuge davon, dass es oft schwierige Situationen gibt, wenn es um die Verrichtung des Gebetes geht. Die Schwierigkeit besteht aber vor allem darin, im Gebet die volle Konzentration zu erlangen. Mit anderen Worten, die Seele soll im Gebet Ruhe finden.

In einem Qudsî-Hadîth (Hadîth dessen Wortlaut dem Propheten von Gott direkt eingegeben wurde) teilt Gott mit, dass Seine Zuneigung den Gläubigen gegenüber nicht ohne die Einhaltung der Pflichten, die Er uns auferlegt hat, zuteil wird. Und weiter: «Und Mein anbetend Dienender nähert sich Mir mit freiwillig Zusätzlichem, bis Ich ihn liebe. Wenn Ich ihn liebe, dann bin Ich sein Gehör, mit dem er hört, sein Augenlicht, mit dem er sieht, seine Hände, mit denen er festhält, und seine Füsse, mit denen er läuft. Und wenn er Mich bittet, dann werde Ich es ihm gewiss geben, und wenn er bei Mir Zuflucht sucht, dann werde Ich sie ihm gewiss gewähren. (Al-Buchârî)»

Beharrlichkeit in der Religion

Die wesentliche Frage stellt sich hier, wie wir schwere Prüfungen im Leben, wie z. B. Schicksalsschläge, Angstzustände, Krieg, Hunger, Not, Krisen etc., überwinden können. Eine der wichtigsten Eigenschaften, die wir dabei haben müssen, ist sicherlich Geduld. Der Islam lehrt den Menschen sowohl in Zeiten der Annehmlichkeit als auch Unannehmlichkeit Geduld zu zeigen. As-Sabr (die Geduld) kommt an sehr vielen Stellen im Qur’an vor, was wiederum dessen grosse Bedeutung verdeutlicht, denn die islamische Ethik fordert von den Gläubigen, dass sie sich bestimmte Charakterwerte aneignen, wie Geduld, oder auch Besonnenheit, Höflichkeit, Keuschheit, Mässigung, Nachsicht und ähnlichem. Das Schmücken des Herzens mit diesen edlen Charaktereigenschaften macht die Muslime der Gottesanbetung würdig.

Standhaft in der Religion zu bleiben, ist aber nicht immer einfach. Zu Beginn der Verkündung des Islam in Mekka wurden der Prophet Muhammed und seine Gefolgsleute von den damaligen Mekkannern gesellschaftlich und wirtschaftlich drei Jahre lang boykottiert. Sie forderten ihn auf, die Botschaft des Islam aufzugeben. Doch er wiederstand und übte sich in Geduld.

Man stelle sich nun heutzutage muslimische Frauen vor, die durch ihre Kopftücher als praktizierende Gläubige äusserlich erkennbar sind. Viele von ihnen berichten, dass sie auf Grund ihres Gottesdienstes (Kopftuch) z. B. keine Wohnung, Lehr- und Arbeitsstelle bekommen. Oder sie ernten abwertende Blicke und Sprüche auf der Strasse. Es sind jene Momente, in denen die Charaktereigenschaften der Geduld und Standhaftigkeit auf den Prüfstand gestellt werden.

Das Vertrauen auf Gott und der Glaube an eine göttliche Belohnung verhelfen den Gläubigen, damit sie nicht in eine «erlernte Hilflosigkeit» verfallen. In der Sura 2 Vers 155 heisst es: «Und Wir werden euch ganz gewiss mit ein wenig Furcht und Hunger und Mangel an Besitz, Seelen und Früchten prüfen. Doch verkünde frohe Botschaft den Standhaften.» Gott hat diese Welt zu einem Ort der Prüfungen gemacht, so dass wir uns auf Seinem Weg bemühen.

Aufklärungsarbeit über den Islam und Beitrag zum sozialen Frieden

Als Muslim ist man in der Schweiz oder allgemein im Westen schon fast verpflichtet, eine Meinung über islambezogene beziehungsweise mit dem Islam in Verbindung gebrachte Themen zu haben. Dies sage ich jetzt nicht bezüglich den Muslimen, die den Islam praktizieren, sondern im Hinblick auf Muslime, die sich eigentlich kaum mit der Religion beschäftigen. Auf Grund von in erster Linie medial thematisierten Aspekten des Islam müssen Muslime oft Rede und Antwort stehen.

Ich fühle mich freilich Gott und der hiesigen Gesellschaft gegenüber verpflichtet, Aufklärungsarbeit zu leisten und dadurch bestenfalls Vorurteile abzubauen. Sei es bei der Arbeit, im Studium oder an öffentlichen Vorträgen. Für mich gehört es dazu, heisse Eisen anzupacken, wie z. B. mit diesem Beitrag hier über den Dschihad, um Missverständnisse aufzudecken.

Das Herz reinigen

Der Prophet Muhammed sagte sinngemäss in einer Überlieferung: «Wahrlich, Allah schaut nicht auf eure Körper oder eure Formen. Er schaut auf eure Herzen.» Indem wir das Herz durch den Dschihad schützen, wehren wir uns gegen die Einflüsterungen des Teufels, der die Menschen verführen möchte. Dazu gehören falscher Stolz, Angeberei, Prahlerei, Arroganz, Hochmut, Neid, Geiz, Macht- und Rachsucht und vor allem die Hoffnung auf Gott aufzugeben. Das Sprichwort «Hoffnung stirbt zuletzt» nimmt im Islam eine wichtige Bedeutung ein, denn man soll Gott auch dann um Vergebung bitten, selbst wenn die Sünden sprichwörtlich bis zum Himmel reichen.

Das Herz reinigt man auch, indem wir unsere Zunge kontrollieren. Sei es, dass unser Umfeld von unserer üblen Nachrede verschont bleibt, aber auch indem wir zur richtigen Zeit und am richtigen Ort die Wahrheit aussprechen. Der Prophet Muhammed wies die Gläubigen darauf hin, das Böse bestenfalls mit der Hand zu beseitigen. Gelingt dies nicht, dann mit Worten, indem man die Wahrheit spricht. Wenn auch dies nicht möglich ist, so soll man diese Tat wenigstens mit dem Herzen verabscheuen.

Zum Schluss

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Begriff Dschihad eine breite Bedeutung aufweist. Die praktizierenden Muslime bemühen sich, durch ihren Dschihad, das heisst mit dem Herzen, der Zunge und den Handlungen Gott näher zu kommen. In diesem Sinne ist der Dschihad im Leben der Muslime omnipräsent.

Da er in unserer heutigen Zeit in der Öffentlichkeit extrem negativ konnotiert wird, versuchen Muslime, diesen, aus theologischer Sicht, traditionellen Begriff immer weniger zu benutzen. Das ist eine gefährliche Entwicklung für die Muslime, denn viel eher sollten sie sich mit einer differenzierten Betrachtung des Begriffs auseinandersetzen und Aufklärungsarbeit leisten, anstatt normative Begriffe des Islam auf Grund des öffentlichen Druckes zu meiden.

 

Burim Luzha

Burim Luzha studiert Soziale Arbeit an der Berner Fachhochschule BFH. Er ist Mitbegründer von zwei muslimischen Studentenvereinigungen, der Muslim Students Association Zurich (MSAZ) und der Muslim Students and Alumni Association (MSAB) in Bern, und engagiert sich im Co-Präsidium des Forums junger Christen und Muslime (FJCM).