Vom Umgang mit der Angst

Angst ist eine grundlegende menschliche Emotion, die einen Menschen von innen ergreifen und nicht mehr loslassen kann. Prägende Einflüsse aus früher Kindheit und einschneidende Lebensereignisse stehen am Ursprung von Ängsten. Frühe Störungen von Bindungs-, Beziehungs- und Konfliktfähigkeit werden in diesem Zusammenhang genannt und selbst generationenübergreifende Traumata werden dazu erforscht.

Entfremdung von sich selbst

Angst ist ein wichtiges emotionales Signal, welches den Menschen ein entsprechendes Verhalten nahelegt: Flucht oder Kampf. Junge Menschen erleben Angst wie ein inneres Erdbeben, das Albträume initiiert, oder als Motor, der sie eine innere Flucht, verbunden mit sozialem Rückzug, antreten lässt. Eine grosse Zahl vor allem männlicher Jugendlicher nimmt Zuflucht bei sozial auffälligem und aggressivem Verhalten, um Angst und Scham zu bannen.

Geht es im Ursprung um die Angst eines Menschenkindes – um die Angst, den Erwartungen der emotional bedeutsamen Bezugspersonen nicht zu genügen; oder die Angst, eigene Gefühle zu haben; oder schliesslich um die Angst, um das Selbstsein, weil es bedeutet, autonom, ungehorsam und damit ungeliebt und unannehmbar zu sein –, so muss im Leben etwas geschehen, was diese Angst besänftigt. Ein Mensch muss etwas tun, als sei er sich sicher, muss Unsicherheit von sich weisen, Verletzlichkeit verneinen, auch wenn das eigene Tun ständig darauf ausgerichtet ist, nicht verletzt werden zu können. «Folglich ist die Angst, verletzbar zu sein, unentwegt präsent; ständig muss man eine Abwehrhaltung einnehmen, denn man fühlt sich ja auch ununterbrochen bedroht.»1

«Die französische Kindertherapeutin Françoise Dolto spricht in diesem Zusammenhang von der ‹Entdeckung des Todes›. Sie bezieht sich dabei auf die absolute Hilflosigkeit, die ein Säugling durchmacht, wenn seine Erwartungen und Reaktionen unbeachtet bleiben. Ein Kind verliert seinen Lebensmut und verfällt in Apathie, wenn Eltern nicht adäquat auf seine Bedürfnisse eingehen, wenn sie seine Gefühlswelt übergehen und es kein Echo bei den Bezugspersonen erfährt. … Für das Kind geht es in dieser Situation um Leben oder Tod; es muss versuchen, dem Sterben zu entkommen.»2

Abwehr- und Kompensationsmechanismen führen auf die Dauer in eine Entfremdung des Menschen von sich selbst. Was diese Entfremdung aufhebt, ist, wenn Leid, Schmerz, Trauer nicht mehr aus dem menschlichen Bewusstsein verdrängt werden müssen.

«Hab keine Angst, ich bin bei dir»

«Fürchte dich nicht» – du musst dich nicht mehr fürchten, ich bin bei dir –, sagt eine Mutter oder ein Vater dem Kind, das Angst hat, und auch der Freund und die Freundin dem Menschen, dem sie die Angst nehmen möchten. Und in der Tat, durch das mitfühlende Dasein eines Menschen wird die aktuelle Angst reduziert, die Entwicklung und eine neue Perspektive ermöglicht. Auch Schmerz und Leid werden durch liebevolle Unterstützung gelindert. Werden Schmerz und Mitgefühl unterdrückt, weil sie vielleicht auch kulturell als Schwäche stigmatisiert sind, so wird durch die Schmerzverleugnung verhindert, dass Opioide, besonders Endorphine, im Körper freigesetzt werden. Wenn Mitgefühl für den erlebten Schmerz und Trauer zum Tabu werden, bringt dies physiologische, psychologische wie soziologische Folgen mit sich.

Die reale Antwort ist deshalb darin zu suchen und zu finden: Trau dich, Mensch zu werden, ganz und gar Mensch unter Menschen. Das eigene mitfühlende Dasein für andere Menschen birgt die Antwort. Wir erleben, dass die christliche Heilsbotschaft damit unleugbar Relevanz besitzt, denn sie verkündet Gott als einen Gott mit uns.

Die Gegenwartsfragen um Furcht und Angstbewältigung werden im Kern beantwortet. In der Menschwerdung Gottes und in der Menschwerdung des Menschen mit dem Menschen liegt die Antwort, weil damit Urängste des Menschen bewältigt werden.

1 Gruen, Arno, Wider den Terrorismus. Stuttgart, 63.
2 Ebd. 79.


Karl Wilhelm Wolf

Karl Wilhelm Wolf ist Pfarradministrator im Pfarramt St. Georg in Küsnacht ZH und Dozent für Psychologie an der Theologischen Hochschule in Chur. Er ist dipl. theol./Psychologe GedaP, dipl. analyt. Psychologe und 
dipl. Tanztherapeut.