Fürchte dich nicht

Furcht – ein Thema, das auf den ersten Blick nicht zu Weihnachten passt. Auch das Foto «Stern über Bethlehem» von Hans-Jürgen Thoms entspricht nicht den gewohnten Weihnachtskarten, die den Briefkasten füllen. Die Strassen sind leer. Nur ein einzelner Mensch steht einsam neben einer Säule vor einem Schaufenster. Der Stern und die Lichter fliehen mit hoher Geschwindigkeit dem Dunkel entgegen. Diese Dynamik steht dem natürlichen menschlichen Verhalten in einem dunklen Raum oder in der Nacht entgegen. Das Dunkel, die Nacht auf dem Foto wirken wie ein Sog, der vieles an sich zieht und dessen Anziehungspunkt noch nicht erreicht ist. Er führt ins Unermessliche. Der Stern und die Lichter zeigen den Weg in die Nacht an. Das, was (noch) im Dunkel der Nacht verborgen ist, kann hier entdeckt werden. Neues und Unbekanntes wecken die Neugier, sie können aber ebenso wie die Dunkelheit Furcht auslösen.

In den Lesungen und Evangelien, die in den Gottesdiensten während der Weihnachtstage vorgesehen sind, wird von der Furcht verschiedener Personen erzählt. Die Ankündigung des Messias löst im ersten Moment Erschrecken und Angst aus. Maria erschrickt über die Anrede des Engels Gabriel. Ohne wirklich zu wissen, was es heisst, den Sohn des Höchsten zu gebären, lässt sie sich auf die Verheissung des Engels ein (vgl. Lk 1,29–38). Josef, ihrem Mann, erscheint in einer moralischen Notsituation der Engel des Herrn im Traum. Mit dem ermutigenden Zuspruch «Fürchte dich nicht!» wagt er, Maria als seine Frau zu sich zu nehmen (vgl. Mt 1,20). Die Hirten wiederum sollen sich nicht ängstlich über die nächtliche Erscheinung wundern. Die Worte des Engels wecken ihre Neugier, und sie machen sich auf die Suche nach dem heute geborenen Messias (Lk 2,9–16).

Auch König Herodes erschrickt (vgl. Mt 2,3), aber ihm fehlt der Mut, zusammen mit den drei Sterndeutern den noch unbekannten neugeborenen König zu entdecken. Die Sterndeuter machten sich weiter «auf den Weg». Sie folgten dem Stern, «den sie hatten aufgehen sehen», in die Nacht «bis zu dem Ort, wo das Kind war» (Mt 2,9).

Auf den zweiten Blick hat Weihnachten sehr viel mit Furcht zu tun. Die biblischen Erzählungen spiegeln natürliche menschliche Reaktionen angesichts von Neuem und Unbekanntem und laden gleichzeitig ein, zusammen mit den Hirten und Sterndeutern in die Nacht zu gehen, um in ihr das Geheimnis zu entdecken, das sie bereithält.
Maria Hässig