Vom Pfarrer zum machtbesessenen Tyrann

«Jürg Jenatsch gehört zu jenen seltenen Schöpfungen des menschlichen Geistes, die aus dem allgemeinen Gute hervorgegangen sind, und die, losgelöst von ihrem Schöpfer, in das Allgemeingut eines Volkes übergehen.»1

War diese grosse Gestalt der Bündner Geschichte nun ein «italienischer Bandit», ein «im Glauben Wiedergeborener», ein «grosser Staatsmann», ein «Lump und Schelm» (Worte des jungen Meyer!)? Alles Wertungen, die wir in Texten des letzten Jahrhunderts finden. Der historischen Wahrheit nahe zu kommen, scheint in diesem Fall ein schwieriges Unterfangen. Immerhin starb Jenatsch in der Schenke «zum staubigen Hüetli» des Pastetenbäckers Fausch mitten in fröhlich zechender Runde, zu der er auch Feinde geladen hatte, in einem blutigen Hinterhalt (und wurde dann in St. Luzi begraben mit der Grabtafelinschrift «erlag … einem tückischen Schicksal, während Du, o Saulus, wieder zu einem Paulus wurdest. Anno 1639. Er ruhe in Frieden.»).

Der andere Blick des Romans

Auch Conrad Ferdinand Meyers (1825–1898) Roman, der 1876 erschienen ist, ändert nichts an Faktenlage und Urteil. Mitten in den Religionswirren (1618–1639), die Graubünden erschütterten, mitten im Dreissigjährigen Krieg, der halb Europa verwüstete, ist der historische Jenatsch anzusiedeln. Doch der Blick des Romans ist ein ganz anderer: Es ist zum einen der Blick des 19. Jahrhunderts, einer aufgeklärten und toleranter werdenden Epoche, auf eine als barbarisch und gewalttätig verstandene Zeit. Es ist zum anderen der Blick eines Verfassers aus der Zürcher Oberschicht, also der Schicht der liberalen Sieger im Sonderbundskrieg und Gründerväter der Eidgenossenschaft, auf die konfessionellen Zwiste und Kriege unserer Geschichte. So gesehen ist die ganze Erzählung Parteinahme, Parteinahme für die scheinbar aufgeklärten Vertreter des neuen Glaubens, gegen die dumpfe Gewalttätigkeit des Katholizismus.

Historisch wichtige Wendepunkte der Bündner Wirren spielen eine gewichtige Rolle: das Volksgericht 1618 zu Thusis, in der die katholischen Mächtigen geächtet wurden (Beginn des Hasses der Plantas auf Jenatsch); das Massaker an den evangelischen Gemeinden im Veltlin durch die Mailänder (Ermordung der jungen Frau von Jenatsch, seinen Hass begründend); der Einmarsch des Herzogs Rohan in der Bündner Herrschaft (als «guter Mensch» und Opfer der Intrigen des französischen Hofes); die Ermordung sowieso. Es ist schliesslich aber auch eine Art Schauerroman mit einem völlig frei erfundenen Ende (das Gottfried Keller Meyer übrigens tadelnd anlastete).

Nicht ohne eine Prise Humor

Meyers Erzählung, wie aus einem evangelischen Bündner Pfarrer ein skrupelloser, machtbesessener militärischer Anführer und Tyrann wird, der sogar bereit ist, aufgrund der politischen Interessenlage (gegen Frankreich, durch das sich Graubünden bedroht sah, und für Spanien) die Konfession zu wechseln, ist eigentlich ein Unding. Meyer liebte historische Stoffe und ging mit ihnen in grosser Freiheit, manchmal auch mit einer ordentlichen Prise Humor um.

Der Humor aber kommt im «Jenatsch» eher zu kurz. Die zweite Hauptperson, die katholische Patriziertochter Lucretia von Planta, die nach der Ermordung ihres Vaters durch die evangelische Partei vor den Wirren ins Kloster in Cazis fliehen muss (ein Ort der Sicherheit und Neutralität mitten in den Bündner Wirren, so beschreibt Meyer das bis heute bestehende Dominikanerinnenkloster), dann aber die Familienburg wieder beziehen kann, wird zur heimlichen Geliebten von Jenatsch verfremdet, die ihm dann doch im makabren Finale mitten in der Churer Fasnacht mit dem Beil, das schon ihren Vater getötet hatte, den Schädel spaltet.

Der «Jenatsch» sollte auch heute zur Pflichtlektüre all jener zählen, die Mühe damit haben, das komplexe Werden unseres Staatswesens, gerade auch die Notwendigkeit von Föderalismus und konfessionellem Frieden zu begreifen!

Heinz Angehrn

 

1 Steiner, Gustav, Einleitung, in: Conrad Ferdinand Meyers Werke, hrsg. von Gustav Steiner, Basel 1946. Auf Band zwei dieser Ausgabe bezieht sich der Artikel generell.

 


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.