Sinnliche Barockkunst im Gebirge

Für die Rückführung zum katholischen Glauben und zur Erneuerung der Katechese wurden Kapuziner in die Drei Bünde geholt. Die Kapuzinermission fand Ausdruck in eindrücklichen Sakralbauten und Kunstgemälden.

Kuppelgemälde in St.Martin, Savognin. (Bild: Karl Flury OFMCap)

 

Vom 17. bis ins 18. Jahrhundert war Graubünden ein gespaltenes Land im Wettstreit zwischen Katholiken und Reformierten um den rechten Glauben. Der katholische Glaube drohte ins Hintertreffen zu geraten, deshalb sahen die katholischen Mächte Handlungsbedarf: Missionierung und Erneuerung katholischer Seelsorge. Dazu wurde der jüngste Zweig des Minderbrüderordens des hl. Franziskus von Assisi († 1226), die Kapuziner, als geeignet erachtet. Dieser 1528 von Papst Clemens VII. approbierte Reformorden liess sich für Missionstätigkeit im Sinn und Auftrag des Tridentinischen Konzils (1545–1563) einspannen. Kapuziner hatten mit reformatorischen Prädikanten das religiöse Leben und seelsorgliche Wirken nach dem Evangelium gemein.1 Sie waren keine Unbekannten: Sie waren seit 1535 im Tessin, seit 1581 in der Deutschschweiz und später in der Romandie arriviert, berufen von politischen Obrigkeiten katholischer Stände. Anfänglich wurden sie durch den Mailänder Erzbischof Kardinal Carlo Borromeo und später durch die Nuntiatur in Luzern unterstützt.

Beweggründe für die katholisch-reformerische Missionstätigkeit in den Drei Bünden mitten im Spannungsfeld der grossen Politik sind auch in der Situation des Bistums Chur des 16./17. Jahrhunderts zu suchen: Mangel an Weltpriestern romanischer und deutscher Sprache; der Bischof von Chur kirchlich und politisch in Bedrängnis und Not; Vordringen des neuen Glaubens mit gut ausgebildeten Prädikanten; verwaiste und verarmte Pfarreien. Der Bischof von Chur brauchte Kapuziner zur Erneuerung des Bistums und war auf ihre Mithilfe sehr angewiesen, um die Glaubenserneuerung durchsetzen zu können.2

Aufbau von Missionsstationen

Papst Gregor XV. gründete 1621/22 die Congregatio de Propaganda Fide3 mit dem Zweck, sowohl weltweit den christlichen Glauben katholischer Konfession zu verbreiten als auch die katholische Konfession gegenüber evangelisch-reformierten Konfessionen in Europa zu erhalten und zu stärken. Für Letzteres hatte die Propaganda Fide zuerst ihr primäres Ziel in den Alpen, konkret in Graubünden: Sie liess Missionsstationen aufbauen im Sinn der Rückgewinnung zum katholischen Glauben durch Missionierung und Konvertitenunterricht in reformierten Talschaften und Gemeinden.

Reformation und Gegenreformation prallten während der «Bündner Wirren» vor dem Hintergrund des Dreissigjährigen Krieges (1618–1648) aufeinander. Religion, Wirtschaft und Politik waren darin verbandelt. In dieser Phase erhielten die Kapuziner von der Propaganda Fide den Missionsauftrag. 1621 wurde mit päpstlicher Bestätigung der aus der Kapuzinerprovinz Brescia stammende Missionar Ignazio Imberti da Casnigo (1571–1632) zum ersten Apostolischen Missionspräfekten bestimmt. Die Apostolischen Missionen Graubündens waren unterteilt in drei sprachlich verschiedene Gebiete: Bündner Mission (Chur), Missiun Retica (Tiefencastel/Casti), Missione Mesolcina-Calanca (Misox). Bis ins 20. Jahrhundert hinein entstanden 84 Missionsstationen, sie trugen zum interkultischen und -kulturellen Austausch bei: Kapuziner stiessen in Graubünden auf überlieferte Heiligenverehrungen, und sie selber brachten ihre eigene Heiligenverehrung aus dem Orden mit.

Besonders von 1621 bis 1661 standen Kapuzinermissionare zwischen Pfarreiseelsorge und Gesandtendienst derjenigen Mächte, woher sie stammten und für die sie in den Diensten standen, sei es kirchlich, militärisch-seelsorgerlich oder politisch.4 So erlitt der Schweizer Kapuziner Fidelis von Sigmaringen bei seiner Mission in Seewis (Prättigau) 1622 den grauenvollen Tod. Dessen Erhebung zum Protomärtyrer auf die Fahne der Propaganda Fide war die Folge davon.

Reger Bau von Kirchen und Kapellen

Eine der wichtigen kultischen und kulturellen Hinterlassenschaften der Kapuzinermissionen sind gebaute Sakrallandschaften und geschaffene Sakralkunst.5  Wer das Oberhalbstein zwischen Tiefencastel und Julierpass besucht, der entdeckt Kirchen und Hospize mit sinnlicher Barockkunst der Kapuziner. Ihre Ausstattungen mit didaktischer Ikonographie unterstützten die erneuerte Katechese. Markante Beispiele sind Mon, Tinizong und Savognin.* Unter den Bauherren der Missiun Retica im 17. Jahrhundert ragt der Kapuziner Francesco Maria da Vigevano heraus. Nach 58 Jahren nachhaltiger Missionstätigkeit in Bivio, Tinizong und Savognin starb er 87-jährig 1692 in Savognin. Unter ihm entstanden verschiedene Kirchen oder wurden im damaligen Zeitgeist des Barocks erweitert: Mulegns, Rona/Roffla, Tinizong und die Antonius-Alpkapelle in Radons sowie alle drei Kirchen und das Hospiz in Savognin.

In Tinizong wurde auf seine Vermittlung hin 1643 der Tessiner Baumeister Paolo Torella aus Carona mit dem Neubau der Pfarrkirche St. Blasius als Ersatz für die baufällige mittelalterliche Kirche bestimmt. Auffällig sind die beiden Choraltäre: Der nördliche entstand um 1730. Sein Altarblatt zeigt Fidelis zusammen mit dessen Martyrium in Seewis, und darüber schmückt  nochmals Fidelis das Giebelfeld, über dem sich ein Tondo mit Kapuzinerwappen erhebt. Hier wird der Kult der Kapuzinermission mit ihrem Protomärtyrer demonstriert, und zwar in der Zeit zwischen seiner Seligsprechung 1729 und seiner Heiligsprechung 1746. Das Hauptblattgemälde des 1760 entstandenen südlichen Choraltars schildert die Vision des Kapuzinerordensgenerals Laurentius von Brindisi, darüber im Giebelbereich befindet sich ebenso das Wappen des Ordens. So wurde Laurentius von Brindisi vor seiner Seligsprechung 1783 und der Heiligsprechung 1881 bereits auf die Ehre der Altäre gestellt! Man wusste von ihm. Er war aktiv im Dienst der katholischen europäischen Liga gegen die Türken und in der Erneuerungsbewegung der katholischen Kirche auch für die Schweiz tätig, wo er in der Reihe der helvetischen Provinzialminister aufgelistet ist.

Savognin bildet mit seinen drei Barockkirchen, dem Hospiz und der «Punt Crap», unter der Regie des Francesco Maria da Vigevano entstanden, das prominenteste Beispiel gebauter Kapuzinermission Graubündens. 1641 wurde die Pfarrkirche Nossadonna nach Plänen von Chrysostomus Guccio aus Misox vollendet. Zur Pfarrkirche Nossadonna kam für Savognins Bewohner eine weitere Kirche hinzu. Francesco Maria von Vigevano förderte mit Hilfe von Patrizierfamilien an der Stelle des zerfallenen Vorgängerbaus St. Michael von 1658 bis 1663 einen mit gleichem Patrozinium entstandenen Zentralbau in Form eines zum Chor gestreckten Oktogons. Die heutige Kirche Sankt Martin, die dritte Kirche, ist Mitte des 17. Jahrhunderts entstanden und auch Francesco Maria von Vigevano zu verdanken. Er zog den Baumeister Baptista Lera von Cramignano bei Lugano heran. Das 1677 nach Westen gerichtete Gotteshaus leuchtet mit seiner in Weiss gehaltenen dreigliedrigen Schaufassade über Savognin. Innen richtet sich der Blick hinauf in die Kuppel. Der Betrachter erblickt an der Decke ein prachtvolles himmlisches Jerusalem, wie es in der Offenbarung 21,9–27 nachzulesen ist. Für diese Gestaltung wurde 1681 Carlo Nuvolono aus Mailand beauftragt. «La Gloria del Paradiso», die grösste und prachtvollste Kuppelmalerei Graubündens, zählt zu den bedeutendsten Kuppelfresken Europas. Nuvolone hat 485 Gestalten im himmlischen Paradies dargestellt. Im Zentrum steht die Heilige Dreifaltigkeit mit Maria und Nährvater Josef, dann folgen die Chöre der Engel mit Sündern und Heiligen, schliesslich die himmlische Hochzeit. In dieser Schar ist Franziskus in den Reihen der Seraphim, dargestellt im Kapuzinerhabit, auffällig im Kuppelbild situiert: Als einziger all der Heiligen ist er im Bereich der Heiligen Dreifaltigkeit sichtbar, der «Alter Christus»!

Zudem ist Francesco Maria von Vigevano als «pontifex» in die Geschichte der Verkehrswege Oberhalbsteins eingegangen. Er erbaute 1682 die über den Fluss Julia führende Brücke «Punt Crap», die einzelne Dorfteile Savognins miteinander verbindet und noch heute für jeglichen Verkehr in Gebrauch ist. Symbolisch mag sie wie ein Brückenschlag von den Niederungen hinauf zur Paradieskuppel in St. Martin sein, oder in franziskanischer Betrachtung gedeutet: von Mutter Erde zum Himmel des Vaters.

Christian Schweizer

 

1 Kuster, Niklaus / Huber, Thomas Morus / Schmucki, Oktavian (Hg.), Von Wanderbrüdern, Einsiedlern und Volkspredigern. Leben und Wirken der Kapuziner im Zeitalter der Reformation, Kevelaer 2003.

2 Fischer, Albert, Reformatio und Restitutio. Das Bistum Chur im Zeitalter der tridentinischen Glaubenserneuerung. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Priesterausbildung und Pastoralreform, Zürich 2000.

3 Sacrae Congregationis de Propganda Fide memoria rerum 1622–1972. 350 anni a servizio delle missioni. Vol. I-III, Rom / Freiburg i. Br. / Wien 1971–1976.

4 Zwyssig Philipp, Täler voller Wunder. Eine katholische Verflechtungsgeschichte der Drei Bünde und des Veltlins (17. und 18. Jahrhundert), Affalterbach 2018.

5 Vgl. Schweizer, Christian, Kapuzinermissionen in Graubünden. Erinnerungen an Seelsorge und Kultur des franziskanischen Reformordens im Bergland der 150 Täler, in: Helvetia Franciscana 4 80 3 (2014), 11–81.


Christian Schweizer

Dr. phil. Christian Schweizer (Jg. 1956) studierte Geschichte, Musikwissenschaft und Kirchengeschichte an der Universität Zürich. Seit 1989 arbeitet er als Provinzarchivar der Schweizer Kapuziner in Luzern und ist Redaktor der «Helvetia Franciscana». Er ist Organist und Kantor an der
Kapuzinerkirche Stans.

 

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