Vom Mehr zum Genug

Ethik fragt nach gutem Leben für alle. Sie hinterfragt auch Lebensstil und Denkmuster. Wie sich dabei ein konkreter Diskurs über Werte entwickelt, umschreibt Thomas Gröbly.

Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: «Morgen Jungs, wie ist das Wasser?» Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, und schliesslich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und fragt: «Was zum Teufel ist Wasser?»1

Diese Geschichte kann man verschieden verstehen: Unbekümmert in den Tag hineinleben ohne Sorge um die Zukunft und den Zustand des Wassers. Man könnte auch die verschiedenen Zwänge erkennen. Die zwei Fische schwimmen auf ihrer Spur und sehen keine Möglichkeit, gegen den Strom zu schwimmen. Die dritte Deutung zielt auf den älteren Fisch. Seine einfache Frage löst bei den jungen Irritation aus. Was bisher als normal galt, wird brüchig.

Ethik fragt ebenfalls nach dem guten Leben für alle, heute und morgen. Sie untersucht Konflikte. Soll man einen Damm bauen und erneuerbaren Strom erzeugen oder das einmalige Tal erhalten? Ethik hinterfragt das Selbstverständliche: Ist unser Lebensstil vertretbar und enkeltauglich? Zentral ist die Frage, ob wir auf Kosten von anderen leben und deren Lebensmöglichkeiten einschränken. Veränderungen beginnen mit Fragen zu unserem Verhalten, aber auch zu den dahinterliegenden Denk- und Fühlmustern. Wie das Wasser für die Fische selbstverständlich ist, sind es für uns unsere Werte und das weit verbreitete Muster, die Welt zu sehen.

«Der Mensch will immer mehr!»

Mit uns geschieht etwas Ähnliches wie mit den jungen Fischen. Unbehagen und Unsicherheiten zur Zukunft beschäftigen viele. Digitalisierung bedroht unsere Arbeitsplätze, Globalisierung raubt uns die Geborgenheit, Terrorismus bedroht unsere Sicherheit, die Wachstumszwänge lassen uns die Menschenrechte missachten und die Natur ausbeuten. Wachstumsideen wurden seit dem Zweiten Weltkrieg zu unserer zweiten Natur, gipfelnd in der Aussage: «Der Mensch will einfach immer mehr!» Für den Sozialpsychologen Harald Welzer sind dies unsichtbare Wertgebäude und seine Haltungen «mentale Infrastrukturen». Wir haben das «Grösser-schneller-mehr- Prinzip» verinnerlicht und können uns kaum mehr eine andere Welt vorstellen, betrachten es als unabänderliches und unüberwindbares Gesetz.

Gleichzeitig wissen wir, dass auf einem endlichen Planeten unendliches Wachstum nicht möglich ist. Wir kennen die Bedrohungen: Armut, Ungleichheit, Kriege und Terrorismus und eine gewalttätige profitfixierte Wirtschaft. Ein gutes Leben für alle wird auch durch die Klimaerwärmung, leergefischte Meere, atomare Risiken, Kriege um Ressourcen, vergiftete Böden und Verlust der Biodiversität zerstört. Für den westlichen Lebensstil bräuchte es drei Planeten. Hier wird ein zentrales ethisches Prinzip verletzt: Alle Menschen haben ein gleiches Anrecht auf die Ressourcen dieser Welt. Es besteht aber kaum ein Unrechtsbewusstsein und ein Unrechtsempfinden.

Wovon lebe ich

Was für die Fische das Wasser, ist für uns Menschen die Luft. Wir atmen unbewusst und schenken der Luft selten unsere Aufmerksamkeit, obwohl wir keine drei Minuten ohne sie leben können. Ein grosses Geschenk. Als Baby von einer Mutter geboren, sind die meisten von uns liebevoll gepflegt und aufgezogen worden. Wir bekamen bedingungslose Zuwendung, zu essen und Geborgenheit. Wir lernten die Sprache und damit Werte für einen gelingenden Alltag. Wir erlangten so Vertrauen in uns, die anderen Menschen und auch in die Welt. Es sind Erfahrungen von Liebe, Solidarität, Kooperation, kurz gesagt von Fülle ohne eigenes Zutun. Vielleicht auch von Spiritualität.2 Somit kann ich die Schöpfung als ein Geschenk erfahren, das mir und allen ein gutes Leben ermöglicht.

Krieg aller gegen alle

Diese Erfahrungen von Fülle werden durch das Paradigma vom Wachstum und durch die neoliberale Doktrin von Knappheit und Wettbewerb überdeckt. Demnach gibt es keine Gesellschaft, sondern nur Individuen, die egoistisch den eigenen Nutzen optimieren, letztlich ein Krieg aller gegen alle. Wir haben diese Ideen so stark internalisiert, dass sie zum unabänderlichen Menschenbild gehören. Kaum nachvollziehbar ist, dass dadurch eine Welt entstanden ist, die wir als Individuen verabscheuen. Viele Werte wie Dankbarkeit, Respekt, Verantwortung, Kooperation und Solidarität werden als Gutmenschentum belächelt. Der Physiker Hanspeter Dürr nennt das den Schrumpfmenschen, einen Menschen, der seine Potenziale vernachlässigt, einseitig den Willen zur Macht betont. Der Schrumpfmensch zerstört nicht nur die Welt, sondern entwürdigt auch sich selbst.

«Denken ohne Geländer»

Wie können wir aus dieser Sackgasse rauskommen? Durch einen neuen Blick auf das Selbstverständliche und durch Selbstreflexion. Das ist philosophische Praxis. «Denken ohne Geländer» nennt es Hannah Arendt. Selbstreflexion bedeutet, den eigenen blinden Flecken auf die Spur kommen, bereit sein, sich von anderen überzeugen zu lassen, und möglichst umfassend denken. Denken ist Handwerk und muss eingeübt werden. Es gehört zum neoliberalen Weltbild, dass alles auf die Frage nach dem direkten Nutzen reduziert wird. Bildung wurde immer mehr zur Ausbildung. Statt humanistische Denkschulung wird der Horizont auf die rein fachliche Ausbildung eingeengt. Denken lässt sich nicht vom Fühlen trennen. Letztlich geht es um ein adäquates Menschenbild, um die Erkenntnis, dass alle Menschen ein Leben lang «fürsorgeabhängig» sind.

Wie der Fisch im Wasser

Wir leben unbewusst mit Werten, sind aber schnell im Bewerten, ohne uns zu hinterfragen. Schwach begründete Urteile können viel Unheil anrichten. Werte prägen unser Handeln und Nicht-Handeln, unser Fühlen und Denken. Sie sind das Fundament für unser Selbstverständnis. Wir sind jedoch verunsichert, weshalb oft vom Wertezerfall die Rede ist und der Ruf nach Wertebildung ertönt. Es gibt keine Welt ohne Werte. Zu oft sind Egoismus, Machtmissbrauch, kurzfristiger Nutzen vorherrschend.

Mafiamoral

Es lohnt sich, über die Entstehung und Veränderung von Werten nachzudenken. Werte kann man nicht wie Medikamente verabreichen und zu sich nehmen. Appelle nützen wenig, und Werte an Schulen abstrakt lehren ist wenig erfolgversprechend. Als soziale Tiere leben wir Menschen immer im Austausch mit anderen. Wer in eine Mafiafamilie hineingeboren wurde, übernimmt mit der Muttermilch Werte wie Blutrache oder bedingungslose Zuwendung zum eigenen Clan. Wer in eine Arbeiterfamilie geboren wird, hat ein Sensorium für Ausbeutung und Ungerechtigkeiten. Wer in einem Unternehmen lernt, konstruktiv mit Fehlern umzugehen und ressourcenschonende, reparaturfähige Gegenstände herzustellen, wird die dahinterliegende Werte übernehmen. Menschen um uns, aber auch Institutionen prägen unsere Werte. Erst wenn Nachhaltigkeit und Menschenwürde leitend sind, werden Menschen diese zentralen Werte in ihrem Alltag leben und dafür einstehen. Wir werden nicht nur geprägt, sondern prägen mit unserem Verhalten immer das Umfeld. Wichtig sind verbindliche Beziehungen. Wer mit einem Mausklick seine Jeans kauft, sein Geld anlegt oder einen Flug bucht, muss keinem betroffenen Menschen in die Augen sehen und Verantwortung übernehmen. Werte müssen eingeübt werden. Sag ich meiner Tochter, sie soll andere gerecht behandeln, behandle sie aber ungerecht, wird sie kaum den Wert der Gerechtigkeit übernehmen. Werte entstehen nicht nur in der Geborgenheit von Beziehungen, sondern auch in Begegnung mit Fremdem. Lernen ist eine Auseinandersetzung mit fremden Ideen, Gedanken und Menschen, die die Welt sehr unterschiedlich sehen. Fremde und Fremdes helfen, Identität zu bilden und sich als Teil der Welt zu sehen.

«Business as usual» ist keine Option

Wir wissen nicht so recht, wie wir den Übergang in eine postfossile Postwachstumsgesellschaft schaffen sollen. Vielleicht hilft uns die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit, sich selbst zu begrenzen und eine enkeltaugliche, lebensdienliche Wirtschaft mitzugestalten. Drei Aspekte stehen im Zentrum:

Erstens: Das Leben ist unverfügbar. Es konfrontiert einen immer wieder mit Ungeplantem, Unerwünschtem oder mit Schicksalsschlägen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergänglichkeit hilft, sich mit den Begrenzungen zu versöhnen. Leben heisst lernen, Abschied zu nehmen.

Zweitens: Das Entscheidende ist immateriell. Materielles ist zwar wichtig, erzeugt aber keine Liebe und kann einen weder trösten noch mit dem Leiden versöhnen helfen. Entscheidend sind die Beziehungen zu anderen Menschen, zur Natur und zum sogenannt Göttlichen. Das ist schwer in Worte zu fassen und hat vielleicht den Charakter eines Wunders. Es ist der Weg der Spiritualität.

Drittens: In der Wachstumslogik liegt der Fokus auf der Knappheit, Spiritualität richtet den Blick auf die Fülle und das Wunder des Lebens. Wir erkennen, dass wir mit allen Lebewesen, ja sogar mit den Mineralien und dem Kosmos verbunden sind. Verbunden mit dem Atem, aber auch mit jedem Schluck Wasser, mit jedem Bissen, den wir essen. Für diese innigen und irritierenden Verknüpfungen können wir dankbar sein. Und aus dieser Dankbarkeit leiten sich Respekt, Selbstbegrenzung und Verantwortung ab.

Der Weg der Spiritualität sucht mündige Menschen, die in Verbindung mit anderen stehen. Das führt zur Kooperation anstelle von Konkurrenz. Sicherheit und die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen werden in diesem Verbund vertrauensvoll organisiert. Spiritualität kann helfen, aus der notwendigen Einsicht in einen genügsamen, suffizienten Lebensstil ein innerlich motiviertes «plünderungsfreies Glück» (Niko Paech) anzustreben. Das wird nicht mehr als Verzicht, sondern als Befreiung erlebt. Diese Rückbindung, religio, an das Göttliche, an das Unverfügbare, hat nicht nur revolutionären Charakter, sondern öffnet die Türen zum Wunder. Wir alle haben die Potenziale zu Empathie, Respekt, Verantwortung und Solidarität in uns. Wenn uns unsere eigene Würde heilig ist, sollte die aller anderen Menschen und Lebewesen ebenso heilig sein.

 

1 Nach: David Foster Wallace.

2 Dazu gehört auch die Einsicht, dass die Natur uns Schönheit, aber auch gute Luft und Essen schenkt. Kein Mensch hat je eine Pflanze zum Wachsen gebracht. Wir können nur die Bedingungen dazu verbessern.

Thomas Gröbly

Thomas Gröbly, Theologe, Ethiker MAE, Inhaber des Ethik-Labors in Baden (www.ethik-labor.ch), Dozent für Ethik an der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) und Mitinhaber von ecoloc GmbH – Gesellschaft für Lokale Ökonomie in Basel (www.ecoloc.org).