Die Konferenz von Seelisberg (1947)

Fast zwei Jahrtausende standen sich Christentum und Judentum äusserst ambivalent gegenüber. Oft genug waren die Beziehungen von Ablehnung, Hass und Ausgrenzung geprägt, vor allem der christlichen Mehrheitsgesellschaft der jüdischen Minderheit gegenüber.

Zwar gab es immer wieder Perioden, die von mehr Toleranz geprägt waren, auch Einzelpersonen zu jeder Zeit, die freundschaftlich über die Grenzen der Religion hinaus miteinander verbunden waren, aber ein echter Dialog auf Augenhöhe ist ein vergleichsweise neues Phänomen. Oft gerät in Vergessenheit, dass die Schweiz bei der internationalen Entwicklung des christlich-jüdischen Dialoges eine wichtige Rolle spielte.

Solidarität mit Schweizer Juden1

In Europa gab es einen institutionalisierten Dialog erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Schrecken der Schoah. 1946 wurde als erste Organisation die Christlich-Jüdische Arbeitsgemeinschaft (CJA) zur Bekämpfung des Antisemitismus in der Schweiz2 ins Leben gerufen, nicht zufällig. Die Schweiz war in vielerlei Hinsicht anderen europäischen Ländern im christlich-jüdischen Dialog voraus. Die Flüchtlingsarbeit, die christliche und jüdische Organisationen und Akteure gemeinsam koordinierten, schaffte gegenseitiges Verständnis. Insbesondere das reformierte Hilfswerk für die Bekennende Kirche unterstützte die jüdische Flüchtlingshilfe und debattierte auf ihren Wipkinger Tagungen bereits theologisch über das Verhältnis von Christen und Juden, eine Diskussion, die in anderen europäischen Ländern erst Jahre nach dem Krieg stattfinden sollte. In einem Weihnachtsbrief an die Juden der Schweiz, der im Dezember 1942 in der Presse veröffentlicht wurde, zeigten 37 Persönlichkeiten, darunter Kirchenräte, ihre Solidarität mit den Schweizer Juden in äusserst schwieriger Zeit. Im November 1945 traf sich eine Gruppe Christen und Juden zu einer ersten gemeinsamen Studienwoche in Walzenhausen AR. Die dort verabschiedete Erklärung ist eigentlich schon das Gründungsdokument der späteren CJA. Der Antisemitismus wurde klar verurteilt und eine «Aufklärung über Wesen und Geschichte des Judentums» gefordert.

Während des Krieges, im März 1943, besuchte eine Delegation der amerikanischen National Conference of Christians and Jews (NCCJ) die neugegründete britische Partnerorganisation in London. Die Amerikaner berichteten über ihre Arbeit. Es entstand die Idee einer internationalen christlich-jüdischen Konferenz nach dem Krieg, um enger zusammenzuarbeiten. Sie fand schliesslich im August 1946 in Oxford statt. Die Gastgeber und Organisatoren, also der britische Council of Christians and Jews und der amerikanische NCCJ machten den Grossteil der Delegierten aus. Vertreter anderer christlich-jüdischer Organisationen wurden eingeladen, u. a. auch vom CJA aus der Schweiz. Es nahmen 120 Personen aus 15 Ländern teil. Das Thema war «Freedom, Justice and Responsibility». Sechs Kommissionen beschäftigten sich mit den Grundlagen und dem Stand der christlich-jüdischen Beziehungen, wie Gruppenspannungen, Religionsfreiheit, Gerechtigkeit, gesellschaftliche Pflichten und Bildung. Eine Resolution betreffs Religionsfreiheit wurde an die Pariser Friedenskonferenz geschickt und zwei sehr wichtige Entscheidungen getroffen: die Gründung einer internationalen Dachorganisation für christlich-jüdische Organisationen, der International Council of Christians and Jews (ICCJ), und die möglichst rasche Durchführung einer Dringlichkeitskonferenz zum Problem des Antisemitismus. Als Ziele dieser Konferenz wurden formuliert:

«(…) es sind Untersuchungen über die gegenwärtige Ausdehnung des Antisemitismus sowie über die Faktoren, die zu seinem Fortbestehen und Anwachsen im Nachkriegseuropa beitragen, anzustellen; (…) es sind Pläne auszuarbeiten für eine sofort einzusetzende und langdauernde Tätigkeit durch die politischen, religiösen und sozialen Institutionen sowie durch die Organe des Erziehungswesens von nationalem und internationalem Charakter, um die Ursachen des Antisemitismus zu beseitigen und seine Auswirkungen einzudämmen.»

Durch Zufall lernte in New York der Präsident des NCCJ, Everett Clinchy, den jungen Schweizer Anwalt Pierre Visseur kennen, der zum ersten Sekretär des entstehenden ICCJ gewählt und massgeblich mit der Planung und dem Ablauf der Dringlichkeitskonferenz betraut wurde. Sitz des Büros des ICCJ wurde Genf. So war es fast logisch, dass die Konferenz zum Antisemitismus in der Schweiz stattfinden sollte. Anfangs wurde Zürich ins Auge gefasst. Schliesslich wurde aus finanziellen Gründen das Hotel Kulm in Seelisberg UR zum Veranstaltungsort, wo Anfang August 70 Personen aus 19 Ländern zusammenkamen.

Seelisberg-Konferenz: Schwerpunkte

Die oben genannten Zielsetzungen und die Tatsache, dass nicht nur Pfarrer, Rabbiner und weitere Theologen eingeladen wurden, sondern vor allem Politiker, Intellektuelle, Professoren, Vertreter der UNO oder anderer nationaler und internationaler Organisationen und Verbände (sowohl religiöse als auch nichtreligiöse) macht bereits deutlich, dass die Seelisberg-Konferenz keineswegs als religiös-theologische Dialogveranstaltung geplant war, sondern einen klaren (gesellschafts-)politischen Zweck verfolgte. Den Teilnehmern wurden detaillierte Länderberichte mit Anzahl der Juden in den Ländern, die Zahl und Situation der Displaced Persons, politische und wirtschaftliche Bedingungen und Statistiken, zur Verfügung gestellt.

Ein besonderer Schwerpunkt waren der Antisemitismus, lokale Organisationen, die ihn bekämpften, und was die Regierungen unternahmen. Darüber hinaus wurden die Beziehungen zwischen Christen und Juden und ihre Verbesserung thematisiert. Länderinformationen lagen über Österreich, Belgien, die Tschechoslowakei, Frankreich, Griechenland, die Niederlande, Ungarn, Italien, Polen, Rumänien und die Schweiz vor. Die Berichte waren wichtige Grundlage für die Arbeit der Seelisberg- Konferenz.

Ab dem zweiten Tag teilte sich die Konferenz in Kommissionen auf: 1. Richtlinien der Zusammenarbeit von Juden und Christen im Kampf gegen den Antisemitismus; 2. Aktionen der Schulen und Universitäten; 3. Arbeit der Kirchen; 4. Aktionen im Bereich er sozialen und staatsbürgerlichen Dienste; 5. Beziehungen zu den Regierungsstellen.

Die Kommissionen erarbeiteten Berichte und Resolutionen, die nochmals den gesellschaftspolitischen Fokus der Organisatoren deutlich machten. Wichtige Delegierte waren in den Kommissionen 1 und 2. Offensichtlich erhielt Kommission 3 weniger Bedeutung zugerechnet. Die Kommission 1 erarbeitete eine grundlegende Analyse des Antisemitismus und Strategien, wie er zu bekämpfen sei. Schwerpunkt dabei sollten die Bildung und die UNO spielen. Vor allem die grosse Hoffnung, dass diese über internationale Standards den Antisemitismus und andere Probleme mit friedlichen Mitteln lösen könnte, ist dabei dem optimistischen Zeitgeist geschuldet. Kommission 1 erarbeitete zudem zwei praktische Resolutionen zur Bekämpfung des Antisemitismus zur echten Gleichstellung von Juden in der Gesellschaft, flankiert von Massnahmen zur Durchsetzung, und zum Recht auf einen jüdischen Staat in Palästina. Kommission 2 stellte sechs Anträge und sechs Grundsätze über die Entwicklung und Ausführung der Erziehungsprogramme. Massgeblich inhaltlichen Einfluss hatten die Amerikaner, allen voran die Bildungsexpertin Dr. Hilda Taba, die insbesondere das neue Konzept der «intergroup relations» mit einbrachte. Auch die UNO spielte wieder eine wichtige Rolle über die UNESCO. Kommission 4 und 5 machten viele Vorschläge im staatsbürgerlichen und gesetzgeberischen Bereich, besonders die vier ausführlichen Resolutionen zu Gesetzgebung, Restitution, Antisemitismus in den besetzten Ländern und zur Situation der Displaced Persons.

Botschaft an die Kirchen

Trotz der Qualität und Quantität der Ergebnisse war es die «Botschaft an die Kirchen» der Kommission 3, die später die Hauptbeachtung finden sollte. In ihr waren die Schweizer sehr stark vertreten: Prof. Bickel, Vorsitzender der CJA, Pfarrer Freudenberg, Leiter der Flüchtlingsarbeit des ÖRK Genf, Pater de Menasce, Universität Fribourg, und Rabbiner Dr. Taubes, Oberrabbiner von Zürich. Die Kommissionsarbeit drohte zunächst zu scheitern. Es gab sowohl Konflikte zwischen den Katholiken als auch zwischen der christlichen und jüdischen Seite, wie zu verfahren sei und welche gemeinsamen Aussagen man machen könne. Der Leiter der Kommission, Pater Lopinot, Nuntius des Vatikans, erwartete als Voraussetzung eines christlichen Schuldeingeständnisses und einer Korrektur der Lehre ein Äquivalent von jüdischer Seite. Das stiess auf erbitterten Widerstand der jüdischen Delegierten. Nur durch einen Kompromiss, durch die folgende Formulierung im Ergebnis, konnte der Konflikt gelöst werden: «Ihrerseits haben sich die jüdischen Teilnehmer bereit erklärt, darüber zu wachen, dass im jüdischen Unterricht alles vermieden werde, was das gute Einvernehmen zwischen Christen und Juden stören könnte.» Tatsächlich ist es richtig, dass es in der jüdischen Lehre keine Parallele zu den antijüdischen und teils antisemitischen Inhalten der christlichen Lehre und Katechese gibt; meist werden Jesus und das Christentum nicht thematisiert.

Nur die christlichen Mitglieder der Kommission besprachen die «Botschaft an die Kirchen». Grundlage für die berühmten «Seelisberger Thesen» bildeten die 18 Punkte zur Vermeidung von Antisemitismus in der christlichen Lehre von Jules Isaac, einem französisch-jüdischen Historiker, der einen wichtigen Vortrag bei der Eröffnung hielt, welcher bereits mit katholischen Kreisen in Frankreich abgestimmt war. Es waren Punkte, die auch später die Entwicklung von Nostra Aetate mitbeeinflussen sollten. Die «Seelisberger Thesen» wurden durch den Aussenminister des Vatikans, Giovanni Montini, späterer Papst Paul VI., bestätigt und durften von den katholischen Teilnehmern mitgetragen werden.

Für die wichtigen Veränderungen in der katholischen Kirche in Bezug zum Judentum kann man sagen, dass die richtigen Personen am richtigen Ort zur richtigen Zeit zusammenkamen. Auch wenn das Ziel der Bekämpfung des christlichen Antijudaismus in der christlichen Unterweisung weitgehend gelungen ist, haben sich die anderen wichtigen Forderungen aus den anderen Kommissionen leider nicht durchsetzen können. Das Erstarken des Antisemitismus in unseren westlichen Gesellschaften zeigt, ein Blick zurück auf die Beschlüsse von Seelisberg könnte lohnen.

 

1 Christlich-jüdische Organisationen wurden zuerst im angloamerikanischen Raum gegründet. In den 1920ern in den USA, in den 1930ern in Südafrika, schliesslich in den frühen 1940ern auch in England, Kanada und Australien.

2 Kurze Zeit später dann umbenannt in Christlich- Jüdische Arbeitsgemeinschaft (CJA).

Jehoschua Ahrens

Rabbiner Jehoschua Ahrens arbeitete als Manager in internationalen Firmen, bevor er eine Rabbinerausbildung in Israel absolvierte. Nach BA-Studium in Ramat Gan und Budapest schloss er die Cambridge University mit einem Master in «Jewish-Christian Relations» ab und arbeitete dann als Rabbiner in Sofia, Zürich und Düsseldorf. Momentan ist er Mitarbeiter an einem SNF-Forschungsprojekt zur Seelisberg-Konferenz am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern, wo er auch promoviert.