Vom kritischen Vorbehalt der Widerfahrung

22. Sonntag im Jahreskreis: Mk 7,1–8.14–15.21–23; 23. Sonntag im Jahreskreis: Mk 7,31–37.

Tradition(en) – geronnene «Erfahrungen mit Erfahrungen»

Wir Menschen werden in unterschiedliche Denk-, Sprachund Handlungskontexte hineingeboren und in unterschiedliche Denk-, Sprach- und Handlungsmodelle hineingestellt. Es ist zweifelsohne eine positive Errungenschaft unserer fortgeschrittenen Moderne, dass wir diese Kontexte und Modelle, die wir allgemein als unsere Kultur(en) bzw. Tradition(en) bezeichnen, nicht einfach als gegeben und unkritisch hinnehmen müssen. Gerade dank ihrer historisch-kritischen Forschungen hat auch die Theologie – besonders nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil – diesen kritischen Ansatz positiv aufnehmen und theologierelevant weiterführen können. Ein Name ist hier besonders zu nennen: der flämische Dominikanertheologe Edward Schillebeeckx. Ihm verdanken wir einen erfahrungshermeneutischen Ansatz in der Theologie, der uns unsere traditionsbestimmenden Kontexte und Modelle als persönlich und kollektiv zu Tradition(en) geronnene "Erfahrungen mit Erfahrungen" (Edward Schillebeeckx) zu reflektieren und zu interpretieren hilft. Mit diesem Ansatz werden wir nicht nur der Geschichtlichkeit und Kontingenz von Traditionen gerecht, sondern bejahen damit zugleich einen Sachverhalt, dem sich so manche "Hüterinnen" und "Hüter" von Tradition gerne verweigern: Ihrem erfahrungshermeneutischen Charakter nach kommt jeder Tradition ein Transformationscharakter zu, der sie "ihrem Wesen nach" unweigerlich auf Veränderungsprozesse ausrichtet.

"Erfahrungen mit Erfahrungen" und Widerfahrung

Immer wenn sich durch neue Erfahrungseinsichten Veränderungsprozesse anzeigen, sehen nicht wenige darin die blosse Gefahr traditionsvergessener Abbruchsituationen, die zum Schaden für den einzelnen Menschen wie für die Gesellschaft im Ganzen sind. Andere dagegen sehen darin die Chancen traditionssensibler (Um-)Bruchsituationen, die den einzelnen Menschen in seiner Erfahrungskompetenz ernst nehmen und die Gesellschaft voranbringen. Ob und wie sich Tradition(en) durch neue Erfahrungseinsichten kritisch-konstruktiv herausfordern, erneuern, korrigieren, erweitern oder als weiterhin tragend und verbindlich festigen lassen, hängt nun wesentlich davon ab, ob und wie mit dem kritischen Vorbehalt umgegangen wird, der jedem Erfahrungsprozess immanent ist: der kritische Vorbehalt der Widerfahrung. Gerade Edward Schillebeeckx hat auf diesen kritischen Vorbehalt immer wieder hingewiesen. Er sollte vor allem all diejenigen in ihrem Urteil vorsichtiger machen, die solche Erfahrungen von Menschen als trügerisch abqualifizieren, weil sie ihren traditionellen Ansichten, Meinungen usw. nicht entsprechen. Auf diesem Hintergrund erscheint es umso wichtiger, den Aspekt der Widerfahrung zu betonen. Denn gemäss der Struktur eines Erfahrungsprozesses kann nur etwas erfahren werden, das sich zu erfahren gibt. Damit besitzt jede Erfahrung vor jeder Beurteilung erst einmal den Anspruch, ernst genommen zu werden, denn sie könnte von einer Wirklichkeitsrelevanz sein, die nicht nur neue Einsichten und Perspektiven in unsere Lebenswirklichkeiten erschliesst, sondern die auch zu wirklichkeitsverändernden Prozessen führt. Dieser kritische Vorbehalt der Widerfahrung ist im Kontext der zum Teil ideologisch geführten Diskurse um Veränderungsprozesse in Kirche, Staat und Gesellschaft besonders wichtig zu betonen. Denn er sollte all diejenigen Entscheidungsträgerinnen und -träger sensibler machen, die meinen, dass ihnen die alleinige Kompetenz und Macht zukommt, die Erfahrungen anderer in ihrer Wirklichkeitsrelevanz endgültig und letztverbindlich beurteilen zu können, weil sie angeblich dem Wahrheitsanspruch bisheriger Traditionen widersprechen.

Kirche und Widerfahrung

Der erfahrungshermeneutische Ansatz besagt nun nicht, dass jeder Erfahrungseinsicht unkritisch begegnet werden muss. Denn Erfahrungskontexte können durchaus so konstruiert werden, dass sie bestimmte Erfahrungen hervorrufen bzw. Erfahrungseinsichten manipulieren. Die manipulativen Folgen kennen wir nicht nur aus der Medien- und Eventindustrie, sondern auch von den Propagandastrategien despotischer Potentaten in Geschichte und Gegenwart. Doch darf dies nicht als Entschuldigung dafür dienen, sich Veränderungsprozessen aufgrund neuer Erfahrungen von Menschen und der damit verbundenen neuen Einsichten zu verweigern. Gerade die Kirche müsste immer wieder den Mut aufbringen, Veränderungsprozessen (erfahrungs-)offen zu begegnen und nicht aus einer systemorientierten Bewahrungsmentalität heraus den Weg in selbstmanipulative Traditionsmuster und -praktiken zu gehen. Gerade in dieser Hinsicht scheint das Evangelium des 22. Sonntags heilsam zu sein. Es lässt uns auf seine Weise nicht vergessen, dass der wirklichkeitsrelevante Erfahrungspool des christlichen Glaubens keiner ist, dessen man sich mit absoluter Gewissheit habhaft glauben darf. Jesus Christus ist kein Buch oder Gesetzeskompendium, sondern er ist Person, dessen letztes Wort nicht mit dem Schrei von Golgota verstummt ist. Er ist bleibendes Widerfahrungsmoment für alle Erfahrungen, aus denen wir immer wieder neu unsere christlichen Traditionen generieren dürfen. Gerade aufgrund dieses christologischen Bezugs dürfte die Kirche sich keinen Erfahrungseinsichten entziehen, die inhaltsbezogen wie strukturell bisherige Traditionen in Frage stellen. Sie müsste vielmehr redlich darum ringen (lassen), neuen Denk-, Sprach- und Handlungskontexten in der christlichen Glaubenspraxis zum Recht zu verhelfen, um neue Traditionswege gehen zu können. Hierzu bedarf es natürlich ein gewisses Mass an Angstfreiheit sowie den Mut, sich den eigenen Blindheiten zu stellen und sich auf mögliche neue Widerfahrungen mit IHM einzulassen, die ganze Wirklichkeiten verändern können – ganz so, wie es in der Wunderheilung im Evangelium vom 23. Sonntag thematisiert wird. 

 

 

Salvatore Loiero

Salvatore Loiero

Dr. theol. habil. Salvatore Loiero ist Professor des deutschsprachigen Lehrstuhls für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Ü.