Vom Einüben in christliche Existenz, oder: Von inneren Stilgesetzen der Liturgie

Die Liturgie des 4. Fastensonntags beginnt mit einem eigentlich für diese Kirchenjahreszeit ungewöhnlichen Eröffnungsvers: Freue dich, Stadt Jerusalem! Seid fröhlich zusammen mit ihr, alle, die ihr traurig wart. Freut euch und trinkt euch satt an der Quelle göttlicher Tröstung (vgl. Jes 66,10 f.). Mitten in der österlichen Busszeit bilden nicht Busse und Umkehr den Grundtenor dieses Sonntags, sondern die Freude. Auch das Tagesgebet spricht davon, dass das Volk mit froher Hingabe dem Osterfest entgegeneilt. Ebenso das Gabengebet: In der Freude auf das Osterfest bringen wir unsere Gaben dar. So viel Freude und Erwartung, wo es doch noch am 3. Fastensonntag im Tagesgebet hiess: Wir stehen als Sünder vor dir, und unser Gewissen klagt uns an. Sieh auf unsere Not und lass uns Vergebung finden durch Fasten, Gebet und Werke der Liebe. Auch i m Gabengebet hiess es: Befreie uns durch dieses Opfer von unseren Sünden. Diese Auszüge aus dem Messformular des 3. Fastensonntags spiegeln genau die Grundstimmung wider, die gemeinhin der Fastenzeit zugeschrieben wird: Der Sünder, die Sünderin steht vor Gott, übt sich ein in Umkehr und hofft auf die Vergebung durch den gnädigen Gott. Am 4. Fastensonntag hingegen scheint das ganze System umzukippen. Nun ist auf einmal, noch lange bevor die Zielgerade der Heiligen Woche erreicht ist, von Sünde und Schuld nur noch beiläufig die Rede. Das überrascht und irritiert.

In der Adventszeit gibt es auch ein solches Phänomen. Während die Lesungen und die Gebete der ersten beiden Adventssonntage von endzeitlichen Gedanken geprägt sind und auch hier die Mahnung zur Umkehr angesichts der nahenden Ankunft des Messias vorherrscht, schlägt der 3. Adventssonntag auf einmal einen anderen Ton an: Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! Denn der Herr ist nahe! (Phil 4,4 f.).

Wenn dieser Umschlag im Grundtenor in beiden Vorbereitungszeiten auf die Hochfeste Ostern und Weihnachten vorkommt, dann kann das nicht ganz zufällig sein. Es stellt sich von daher die Frage, was die Liturgie mit diesen (scheinbaren) Brüchen zum Ausdruck bringen will und was hier zur Feier kommt.

Zu den inneren Stilgesetzen der Liturgie gehört es, dass immer das Ganze des Heils im Blick ist und nicht nur ein Aspekt davon. Da feiert die Kirche zum Beispiel an Weihnachten die Menschwerdung des Wortes, die Ankunft des Messias und den Anbruch einer neuen Zeit. Aber sie feiert dieses Heilsereignis von Weihnachten nie isoliert, sondern immer mit Blick auf Kreuz und Auferstehung. Das Ganze des Heils kommt bei jedem Fest, bei jeder Festzeit und auch bei allen Vorbereitungszeiten zum Tragen, auch wenn ein Aspekt des Heilsgeschehens besonders im Mittelpunkt steht. Dabei geht die Liturgie nicht logisch vor und entwickelt nicht wie ein Wissenschaftler einen Satz aus dem anderen. Dies hat schon Odo Casel, Benediktiner der Abtei Maria Laach in der Eifel und Vordenker der Liturgietheologie des Zweiten Vatikanischen Konzils, bei der Analyse von liturgischen Formularen herausgearbeitet. Die Liturgie sei vielmehr «kontemplativ, d. h. sie sieht ihren Gegenstand im Lichte Gottes, so wie ein Künstler die Idee vor sich aufleuchten sieht und aus ihrem Ganzen heraus gestaltet, sodass die Teile nicht logischen, sondern lebendigen Zusammenhalt haben. So sieht die Liturgie von Anfang an den ganzen Reichtum des göttlichen Schatzes vor sich und greift bald dieses, bald jenes Kleinod heraus, es ihren Freunden zu zeigen.»1 Deshalb will die österliche Busszeit auch den Christen und die Christin nicht nur zur Umkehr und damit zur erneuten Hinwendung zum Heil bewegen, sondern sie stellt darüber hinaus alles bereit, damit die Gemeinde sich hier und jetzt einüben und immer wieder einüben kann in das Sein als Getaufte. Im Gebetswort der Präfation für die Fastenzeit I, die laut den Rubriken sich besonders für die Sonntage der österlichen Busszeit eignet, heisst es: So führst du uns mit geläutertem Herzen zur österlichen Freude und zur Fülle des Lebens durch unseren Herrn Jesus Christus. Den Getauften und die Getaufte soll die Freude darüber erfüllen, dass Gott sie erlöst hat und immer wieder erlöst. Nicht das Joch der Sünde soll ihre Existenz bestimmen, sondern die Erlösung. Gerade aber deswegen bedarf es immer wieder der Zeiten, in der die ganze Gemeinde umkehrt und ihre eigentliche Bestimmung in den Blick nimmt. Doch – so die Botschaft der Liturgie an diesem 4. Fastensonntag – darf der Christ, der trotz Taufe immer wieder zur Sünde verlockt wird, nicht im Zustand der Busse verharren. Seine Bestimmung findet er in der Freude über die Erlösung. Im Licht dieser Freude sieht der Apostel Paulus die Ermahnungen (oder Empfehlungen), die er an die Gemeinde in Thessaloniki richtet: Freut euch zu aller Zeit! Betet ohne Unterlass! Dankt für alles; denn das will Gott von euch, die ihr Christus Jesus gehört (1 Thess 5,16–18).

Hier zeigt sich, dass die österliche Busszeit eben keine dürre Pflichtübung sein will, in der sich die Gemeinde nur kasteit. Es ist eine Zeit, die die Christinnen und Christen dem Heil in Jesus Christus näher bringen will, indem sie die liebende Nähe Gottes vermittelt. Seit alter Zeit durchzieht der Ps 91, der grosse Vertrauenspsalm, die österliche Busszeit. Wer unterm Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen (Ps 91,1) heisst es da. Mit den Worten des Psalmisten Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen (Ps 91,11) erfährt der Gottesdienst Feiernde sich von Gott ganz getragen und von ihm umfangen. Es ist bezeichnend für die inneren Stilgesetze der Liturgie, dass gerade in der österlichen Busszeit nicht der Busspsalm 51 (Wasch meine Schuld von mir ab und mache mich rein von meiner Schuld [Vers 4]) vorherrschend ist, sondern das Zeugnis des barmherzigen und sorgenden Gottes. Bis zur Liturgiereform war die Zuordnung von Ps 91 zur österlichen Busszeit noch ausgeprägter als heute, denn alle Propriumsgesänge des 1. Fastensonntags waren aus diesem Psalm genommen. Am Eingang der österlichen Busszeit interpretierte somit Ps 91 die kommende Zeit. Auch jeden Abend beschloss der Beter oder die Beterin in der Komplet mit diesen Worten seinen bzw. ihren Tag und wurde so Abend für Abend daran erinnert, dass Gott das Heil des Menschen will. Diese Zuordnung des Ps 91 zur österlichen Busszeit kommt heute nicht mehr so deutlich zum Ausdruck, ist aber immer noch erkennbar.Die ganze österliche Busszeit ist also von solchen Wechseln im Grundtenor ganz durchzogen. Das Thema dieser Zeit im Kirchenjahr ist sehr wohl Umkehr und Busse, also Neuorientierung auf Gott hin. Damit der Christ und die Christin ihr Ziel aber nicht aus dem Auge verlieren, macht die Liturgie immer wieder bewusst, dass der und die Getaufte schon jetzt ganz vom Heil umfangen ist.

1 Odo Casel: Offizium und Messe der heiligen Jungfrauen, in: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 2 (1922), 74 – 89, hier 88.

Birgit Jeggle-Merz (Bild: unilu.ch)

Birgit Jeggle-Merz

Dr. theol. Birgit Jeggle-Merz ist Ordentliche Professorin für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Hochschule Chur und a. o. Professorin in derselben Disziplin an der Universität Luzern.