Der Organspender – Mittel oder Zweck?

Die Fragen, wann ein Mensch tot ist und unter welchen Bedingungen ihm Organe für die Transplantation entnommen werden dürfen, scheidet die Geister weltweit und hierzulande. Zwei Beilspiele aus jüngster Zeit:

1. Mehrere parlamentarische Vorstösse verlangen die Einführung der so genannten «Widerspruchslösung », bei der Organe einer verstorbenen Person entnommen werden dürften, wenn diese sich zu Lebzeiten nicht dagegen ausgesprochen hat bzw. wenn ihre Angehörigen keinen Widerspruch erheben. 1 Das Fehlen eines Widerspruchs würde als Einwilligung in eine Organentnahme behandelt. Nach geltendem Recht gilt in der Schweiz die so genannte «erweiterte Zustimmungslösung»: die fehlende Willensäusserung des Verstorbenen wird weder als Ablehnung noch als Zustimmung gewertet, sondern lediglich als Nichterklärung. Diesfalls werden die Angehörigen angefragt, denen ein subsidiäres Entscheidungsrecht zusteht; der Wille der verstorbenen Person hat aber stets den Vorrang (Art. 8 des Transplantationsgesetzes [TPG]2).

2. Die Sterbehilfeorganisation «Dignitas» mit ihrem Generalsekretär Ludwig A. Minelli gelangte im Januar 2014 an das Bundesverwaltungsgericht, um Einblick in Dokumente und Gutachten zur Vorbereitung und Personalauswahl des nationalen Forschungsprogramms «Lebensende» NFP 67 des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) zu erhalten.3 Für «Dignitas» und weitere Sterbehilfeorganisationen ist namentlich die Person des Präsidenten des Programms, der Moraltheologe Markus Zimmermann- Acklin von der Universität Freiburg (Schweiz), «voreingenommen und das Forschungsprogramm deshalb unwissenschaftlich angelegt».4

Wann ist der Mensch tot?

Doch dieser Aktivismus steht in einem starken Kontrast: Während europa- und weltweit seit einiger Zeit angeregt darüber debattiert wird, wann ein Mensch wirklich tot ist, hat in der Schweiz noch keine breite Diskussion dieser moralisch, rechtlich und politisch folgenschweren Frage stattgefunden. Ist der Tod tatsächlich «gleich geblieben», wie der Titel eines Artikels glauben macht?5 Wie in den meisten westlichen Ländern ist auch in der Schweiz im Zusammenhang mit der Organspende der Hirntod massgebend, indem Art. 9 Abs. 1 TPG lapidar festhält: «Der Mensch ist tot, wenn die Funktionen seines Hirns einschliesslich des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind.»6 Unsere heutigen Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns und seine Wechselwirkungen stellen jedoch die traditionelle Hirntodkonzeption in Frage.7 Es sind vor allem zwei Punkte, welche den anfänglich erreichten Konsens aufgeweicht haben.8 Der erste betrifft die Gleichsetzung von Hirntod und irreversiblem Verlust sämtlicher Hirnfunktionen. Es ist heute klinisch erwiesen, dass zahlreiche hirntote Patienten nicht alle Hirnfunktionen verloren haben, was darauf hinweist, dass ein kompletter Hirnfunktionsverlust mit den heutigen Standarduntersuchungen nicht diagnostizierbar ist.9

Der zweite Punkt betrifft die Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Organismus als eines Ganzen. Letzterer basierte auf der Annahme, dass nach Verlust der Hirnfunktionen der Herzstillstand selbst bei künstlicher Beatmung unmittelbar bevorstand. Klinisch dokumentierte Fälle von Personen, welche nach festgestelltem Hirntod lange Zeit weitergelebt haben, vermochten indes die Gleichsetzung von Hirntod und Tod des Organismus in Frage zu stellen.10 Das Schiff scheint keines Steuermanns zu bedürfen. Das Gehirn ist mit anderen Worten nicht so entscheidend, wie man zu Zeiten des Harvard- Berichts bei Verlust der Steuereinheit des Körpers annahm. All dies lässt den Schluss zu, dass während der künstlichen Beatmung nicht nur die einzelnen Organe weiterleben, sondern der gesamte menschliche Körper: Während der künstlichen Beatmung ist eine nach geltendem Recht tote Person alles andere als tot, obwohl ihr Zustand irreversibel ist. Wollte man zu einer überzeugenden Definition gelangen, müsste man immer mehr Parameter für die Feststellung des Hirntodes aufgeben, wie es z. B. mit den Wirbelsäulenreflexen geschehen ist.11

Die Anhänger der Konzeption des Hirntodes müssen sich heute damit auseinandersetzen, dass ein voll funktionsfähiges Gehirn nicht als notwendige Voraussetzung für das Bestehen eines menschlichen Organismus aufgefasst werden kann. Kurz: Ein menschlicher Organismus ist noch lebendig, wenn sein Gehirn tot ist. Während in anderen Ländern wie z. B. Deutschland 12 und Italien13 im Zuge des neuen Positionsbezugs der US-amerikanischen Bioethikkommission über den «Hirntod» wieder angeregt diskutiert wird,14 scheint sich die Schweiz bis jetzt darauf beschränkt zu haben, die Kriterien für die Todesfeststellung zu ändern. Kritik an der auf neurologischen Kriterien beruhenden Todesdefinition liess bis vor kurzem noch auf sich warten.15

Eine Neudefinition

Fast unbemerkt hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) auf den 1. September 2011 neue Richtlinien für die Feststellung des Todes bei möglichen Organspendern in Kraft gesetzt, welche die bisherigen Richtlinien aus dem Jahr 2005 ersetzten.16 Schon ihr Titel («Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen ») ist erstaunlich: Anscheinend gibt es einen Tod für Patienten, die für Organspende in Frage kommen, und einen anderen für die übrigen Patienten: «Dieses Todeskriterium betrifft nur die Situationen, in denen eine Organspende angestrebt wird. In allen anderen Fällen wird der Tod (…) nach den allgemeinen Regeln der ärztlichen Fachkunde festgestellt. Hier gilt vor allem der irreversible kardiopulmonale Stillstand, welcher in der Folge zum Tod führt, als Haupt-Todeskriterium.»17 Hier wird klar, dass das Kriterium des Hirntodes nur der Organtransplantation dient. Daran wäre an sich noch nichts Negatives zu sehen (obwohl zu ergänzen wäre, dass das Hirntodkriterium bei primären Hirnschädigungen in jedem Fall unerlässlich ist) – würde das Dokument nicht eine einzige Todeskonzeption festigen, nämlich eine neurozentrische: «Der Mensch ist tot, wenn die Funktionen seines Gehirns einschliesslich des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind. (…) Durch den irreversiblen Ausfall sämtlicher Funktionen des Gehirns verliert ein Mensch das Steuerungsorgan des gesamten Organismus endgültig.»18

Es ist erstaunlich, dass in den neuen Richtlinien an einer wissenschaftlich überholten Konzeption festgehalten wird.19 Sodann stellt sich die Frage, warum man neue Richtlinien erlässt und gleichzeitig – wie der Präsident der zuständigen Kommission, Prof. Dr. Jürg Steiger in einem Interview – erklärt: «Der Tod bleibt gleich.»20 Dieses Interview lässt zwischen den Zeilen das Motiv erkennen: «Heute ist es so, dass die Ärzte die Therapie bei Schwerkranken in den meisten Fällen vor deren Tod abbrechen – sobald sie feststellen, dass es für diese keine Hoffnung mehr gibt. Wer in so einer Situation zum Beispiel die künstliche Beatmung weiterlaufen lässt oder andere medizinische Massnahmen im Hinblick auf eine Organentnahme ergreift, hätte sich vor dem Inkrafttreten der neuen Richtlinien in einem juristischen Graubereich bewegt.» Zunächst ist beachtlich, dass sich die Schweizer Ärzte bis zum Jahr 2011 bei entsprechendem Verhalten in einem «juristischen Graubereich » bewegt hätten und somit an die Grenzen der Legalität oder sogar darüber hinausgegangen wären. Doch offensichtlich waren zur Vermeidung unzulässiger Behandlungen keine neuen Richtlinien nötig, sondern die richtige Anwendung der alten hätte genügt. Wurden neue Richtlinien demnach nicht erlassen, um mehr Rechtssicherheit zu schaffen, wie das Interview glauben machen will, sondern um bisher verbotene Tätigkeiten zu erlauben? Ging es wieder darum, die Organtransplantation zu erleichtern? Die bisherigen Richtlinien sahen vor, dass medizinische Massnahmen zur Organerhaltung bereits vor Feststellung des Todes nur unternommen werden konnten, sofern der Spender auch einer solchen Behandlung vorgängig explizit zugestimmt hatte.21 Aus dem zitierten Abschnitt aus dem Interview mit Professor Steiger ergibt sich der begründete Verdacht, dass Ärzte organerhaltende Massnahmen unter Missachtung der einschlägigen Richtlinienbestimmungen vornahmen. Sie hätten sich nicht in einem «Graubereich», sondern in einer verbotenen und reglementswidrigen Zone bewegt.

So erklärte sich das Bedürfnis nach neuen Richtlinien, die ex post legitimieren sollten, was die vorhergehenden verboten. Es gäbe nunmehr keine «Grauzone», und die Ärzteschaft könnte ihre bisherige Praxis aufrechterhalten: «Ist ein gesetzlicher Vertreter vorhanden oder hat der Patient die Vertretung einer Person seines Vertrauens übertragen, so entscheiden diese über Durchführung von organerhaltenden Massnahmen. Hat der Patient keinen gesetzlichen Vertreter, können – mit Zustimmung der Angehörigen – organerhaltende Massnahmen durchgeführt werden, wenn dies dem mutmasslichen Willen des Patienten entspricht.»22

Doch ergeben sich rechtsstaatlich erhebliche Bedenken: Wenn gemäss den neuen Richtlinien die Angehörigen schon vor dem Tod eines potentiellen Organspenders für diesen stellvertretend in organerhaltende medizinische Massnahmen einwilligen können, widerspricht dies nämlich dem geltenden Transplantationsgesetz, das organerhaltende Massnahmen durch Stellvertreterentscheid ausdrücklich nur nach dem Tod des Patienten erlaubt (Art. 10 TPG).

Es erhoben sich einflussreiche Stimmen gegen den klaren Wortlaut des geltenden Gesetzes: So bezeichnete Andrea Arz de Falco, Leiterin des Direktionsbereichs Öffentliche Gesundheit des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), die neuen Richtlinienbestimmungen der SAMW als «ethisch vertretbar».23 Und Olivier Guillod, Direktor des Instituts für Gesundheitsrecht der Universität Neuenburg, kam in seinem vom BAG in Auftrag gegebenen Gutachten zum gewagten Schluss, der geltende Art. 10 TPG könne gegen dessen Wortlaut so ausgelegt werden, dass prämortale organerhaltende Massnahmen auch ohne explizite Zustimmung des Betroffenen durch Stellvertreter- Entscheid durchgeführt werden können 24 – wie in den neuen Richtlinien der SAMW. Nun ist zu bedenken, dass das neue Transplantationsgesetz im Parlament noch gar nicht beraten worden ist. Es ist unannehmbar, dass die SAMW als private Fachorganisation mit neuen Richtlinien den Entscheid des demokratisch legitimierten Gesetzgebers gleichsam «vorwegnimmt» – und ihr ein Bundesrat mit seinen Äusserungen im Parlament noch Schützenhilfe leistet. Damit werden Kernelemente der verfassungsmässigen Kompetenzordnung missachtet.

Wenn Prof. Guillod selbst einräumt, dass seine «liberale Auslegung» nicht «über alle anderen Interpretationen erhaben ist», ist dies euphemistisch: Sie bewirkt nämlich, dass sich Ärzte, die sich an die geänderten Richtlinienbestimmungen halten, nach dem immer noch geltenden Recht strafbar machen: Die Vornahme organerhaltender Massnahmen ohne gesetzmässige Einwilligung des Patienten oder dessen Angehörigen gilt nämlich als Körperverletzung,25 zumal ärztliche Eingriffe, die nicht der Heilung dienen, nach «einhelliger Meinung tatbestandsmässig» sind.26

An den Gesetzgeber richtet sich die Frage, warum er Angelegenheiten wie z. B. «Bürgschaften und Zinskostenbeiträge im Berggebiet und im weiteren ländlichen Raum»27 selbst regeln wollte, während er die Regelung der Feststellung des Todes (klinische Zeichen, Anforderungen an die Ärzte) im Transplantationsgesetz an den Bundesrat delegiert (Art. 9 Abs. 2) – und sogar zulässt, dass dieser die SAMW als private Fachorganisation darüber entscheiden lässt.28 Werden grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien um den Preis eines erhofften grösseren Organangebots gefährdet? Das Problem der Organtransplantation ist in einer breiten öffentlichen Auseinandersetzung anzugehen.

Todesdefinition und Todesfeststellung

Dabei gilt es, die Definition des Todes und die Kriterien für dessen Feststellung auseinanderzuhalten: Die Definition dient dem theoretischen Zweck, das Phänomen des Todes zu umschreiben, während die Kriterien praktische Zwecke verfolgen. Wenn sich nun die Todesdefinition als unangemessen erweist, warum sollten dann die Kriterien, auf welchen sie beruht, weiterhin gelten? Beide sind nicht mehr zuverlässig, um einen Patienten für tot zu erklären. Das heisst aber nicht, dass die Hirntodkriterien nicht als unbestreitbare Zeichen für eine ungünstige Prognose gedeutet werden können. Die Konzeption des Hirntodes ist «zu rissig» geworden, um den immer zahlreicheren Kritiken zu widerstehen, aber auf der anderen Seite «zu sehr in die Praxis eingebunden, um aufgegeben werden zu können».29 Deshalb wären wir gezwungen, die Grenze zwischen Leben und Tod weiterhin durch den Hirntod zu ziehen. Freilich ist dabei «eine Reihe von rechtlichen Einwänden vorprogrammiert», und es scheint mir schon ziemlich naiv zu glauben, dass «entsprechende Anpassungen in der Legaldefinition »30 diese zu lösen vermöchten. Geht man davon aus, dass das Hirntodkriterium nicht mehr zuverlässig genug ist, um den Tod eines Menschen festzustellen, erwachsen Schwierigkeiten, welche keineswegs durch eine Änderung der Legaldefinition des (Hirn-)Todes aus dem Weg geräumt werden können.

Wenn schon, müssten wir fragen, ob es einer Legaldefinition des Todes überhaupt bedarf. Vor der Entwicklung der Reanimationstechniken war der Tod ein Naturereignis, das kein Gesetzgeber je zu definieren gewagt hätte. Aber heute, da der Tod als biologischer, medizinisch überwachbarer Prozess verstanden wird und Patienten unter künstlicher Beatmung für eine gewisse Zeit zwischen Leben und Tod schweben, glaubt man, eine klare und eindeutige Definition haben zu müssen. Da jedoch eine klare Demarkationslinie zwischen Leben und Tod nur willkürlich gezeichnet werden kann, sollten wir keine einhellige Definition des Todes suchen, sondern den Begriff mit seinen unterschiedlichen Bedeutungen und der Unschärfe seiner Sinngebungen stehen lassen.31 Das Eingeständnis, uns auf unsicherem Gelände zu befinden, wird dem Todesbegriff «gerechter als eine präzise Definition, die ihm Gewalt antut».32

Der richtige Ansatz ist somit nicht, eine neue pragmatische Rechtfertigung des Hirntods zu finden, um das, was wir auf Grundlage der theoretischen Hirntoddefinition bisher tun durften, weiterhin tun zu dürfen. Die Frage ist vielmehr, wie wir es weiterhin tun dürfen, wenn sich die theoretische Definition als unangemessen herausstellt. Das wahre Problem liegt nicht in der Frage, ob Patienten im Zustand des irreversiblen Komas lebendig oder tot sind, sondern in derjenigen, wie wir mit diesen Patienten umgehen dürfen. Dazu benötigen wir keine neue Todesdefinition, sondern eine breite ethische und rechtliche Diskussion über den Zeitpunkt, ab welchem es erlaubt sein soll, lebenserhaltende Massnahmen abzubrechen und gegebenenfalls zur Organentnahme zu schreiten.33

Wir müssen klären, wie man Patienten im irreversiblen Koma mit dem jeder Person gebührenden Respekt behandelt. Der Mensch ist mit einer ihn auszeichnenden Würde versehen. Wäre es aber respektlos, Menschen mit einem schweren und irreversiblen Hirnschaden anders zu behandeln als Menschen, die sich nicht in einem solchen Zustand befinden? Sicher dürfen wir Hirntote nicht wie Leichen behandeln, zumal sie solche nicht sind. Aber wir dürfen sie anders behandeln als Personen mit funktionierendem Gehirn, weil Hirntote ein solches eben nicht mehr haben. Der Arzt hat wohl die Pflicht, das Leben seiner Patienten zu schützen, wobei er in der Regel keine Behandlung gegen ihren Willen vornehmen darf. Diese Pflicht besteht jedoch nicht gegenüber Patienten mit einem fatalen Hirnschaden. Die Aufrechterhaltung des Lebens erscheint unter solchen Voraussetzungen sogar als unmenschlich und erniedrigend, wogegen der Tod, der nur künstlich hinausgezögert wird, als Befreiung gesehen wird. Eine hirntote Person aus jenem Zustand zu erlösen heisst nicht, sie als lebensunwürdig zu betrachten, sondern im Gegenteil, ihre Würde zu retten.34 In diesem Extremzustand existiert die Würde noch, in ihrer tragischsten und absurdesten Form: ihrer Abwesenheit. Eine Pflanze bleibt stets eine Pflanze, aber ein Mensch, möge er auch dahinvegetieren, bleibt immer ein Mensch. Es ist gerade seine vom gesundheitlichen Zustand verdeckte humanitas, die uns zwingt, sein erzwungenes Überleben zu beenden. Wie es eine Zeit zum Leben und eine Zeit zum Sterben gibt, so gibt es auch eine Würde des Lebens und eine Würde des Sterbens, weil Würde über Leben und Sterben hinausgeht. Stellt demnach das Sterbenlassen eines hirntoten Patienten keine Verletzung, sondern die letzte Gelegenheit zur Wahrung seiner Menschenwürde dar, fragt man sich, wie die Dinge im Hinblick auf die Organentnahme stehen. Sicher verletzte es die Menschenwürde, einem gesunden Menschen Organe zu entnehmen und dadurch eine schwere Körperverletzung oder sogar den Tod zu bewirken. Warum sollten wir jedoch gleiches annehmen, wenn Organe einer hirntoten Person entnommen werden?

Man könnte ins Feld führen, dass der kantische kategorische Imperativ, wonach der Mensch «jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel » behandelt werden muss, auch für den hirntoten Menschen zu gelten habe. Unbestreitbar wird der Patient durch die Organentnahme unter künstlicher Beatmung auf den ersten Blick verdinglicht. Sein Tod wird hinausgezögert, um seine Organe in bestmöglichem Zustand für andere Patienten zu verwenden. Deckte sich dies aber mit der vorgängigen Einwilligung des Organspenders, würde er nicht mehr instrumentalisiert und als blosses Mittel behandelt. Er hätte sich mit seiner frei und bewusst getroffenen Entscheidung zur Organspende deren Zweckes bemächtigt. Eine entfremdende Situation würde in eine Geste von höchstem Edelmut verwandelt: das, was vom eigenen Leben noch übrig bleibt, einem anderen zu schenken, der – in Erwartung eines Spenderorgans – um das eigene Leben ringt. Kaum jemand würde die künstliche Beatmung einer schwangeren, hirntoten Frau abbrechen, nur um zu vermeiden, sie zu einer Gebärmaschine zu reduzieren. Wir würden eine solche Instrumentalisierung des Körpers hinnehmen, weil wir vermuten, dass die Frau dazu ihre Zustimmung gegeben hätte, um ihr Kind auf die Welt bringen zu können. Dieses Beispiel zeigt, besser als alle anderen, was bei der Organspende geschieht: Neues Leben entspringt nicht dem Tod, sondern dem zu Ende gehenden Leben.35

Doch manche politischen Vertreter scheinen für solche ethische Argumentationen nicht empfänglich zu sein, was die eingangs erwähnten Vorstösse zur Einführung der «Widerspruchslösung» belegen.36 Die Nationale Ethikkommission für Humanmedizin (NEK–CNE) verfasste im Auftrag des Eidg. Departements des Innern im Herbst 2012 eine Stellungnahme und lehnte deren Einführung ab.37 Auch der Bundesrat äusserte sich gegen die Einführung der Widerspruchslösung.38

Dessen ungeachtet nahm der Nationalrat am 12. September 2013 einen Vorstoss für den Wechsel von der derzeit angewandten erweiterten Zustimmungslösung zum Widerspruchsmodell 39 an. Glücklicherweise folgte die Kleine Kammer als Zweitrat der Grossen Kammer am 28. November 2013 nicht: Es ist zu hoffen, dass der Nationalrat im so genannten Differenzbereinigungsverfahren seine Haltung aufgibt. Schon die praktischen Gründe, die der Bundesrat gegen die «Widerspruchslösung» anführte, sprechen für sich. Der Autor dieses Beitrages kann auch aus den Erfahrungen in seinem Heimatland Italien berichten, wo die «Widerspruchslösung» zwar gesetzlich eingeführt worden, bis heute aber toter Buchstabe geblieben ist, da kein Arzt sie in der Praxis anzuwenden wagt.40

Entscheidend ist aber eine viel tiefer greifende Überlegung: Im bisher geltenden Recht ist es die bewusste Entscheidung des Spenders (bzw. nach dessen Tod und subsidiär dessen Angehörigen), die zur Organspende führt und diese somit als zweckbemächtigende Geste im Sinne Kants erscheinen lässt. Bei der «Widerspruchslösung» wäre es aber gerade umgekehrt: Hier wäre es die – aus welchen Gründen auch immer – fehlende Entscheidung, die zur Organentnahme legitimierte und die «Verdinglichung» des Organspenders zur Regel machte. Welchen Zwecken aber möchte solches zudienen?

 

1 Postulate vom 28. 9. 2010: Gutzwiller 10.3703 «Für mehr Organspender», Amherd 10.3701 «Widerspruchsmodell bei Organentnahmen » und Favre 10.3711 «Organspende: Evaluierung der Widerspruchslösung ».

2 BG über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen vom 8. Oktober 2004, SR 810.21.

3 Das Programm beinhaltet wissenschaftliche Untersuchungen zu ethischen, religiösen, gesellschaftlichen und juristischen Aspekten im Zusammenhang mit dem Tod und Themen wie Selbstbestimmung, Beihilfe zum Suizid, Lebenssinn, Wertvorstellungen, gesetzliche Regulierungen oder Planung des Todes, vgl. NZZ vom 30. Januar 2014, 11.

4 Vgl. ebd.

5 J. Steiger: Der Tod bleibt gleich. Horizonte. Schweizerischer Nationalfonds. Dezember 2011:5.

6 Die Hirntodkonzeption geht auf die Entstehungszeit der Reanimationstechnologie zurück und wurde im berühmten Harvard-Report von 1968 formuliert ( Journal of the American Medical Association. 1968;205:337– 40.). In dieser neuen Todesdefinition stellte nicht mehr der Herzstillstand, sondern der vollständige Verlust der Hirnfunktionen das Ende eines lebenden Körpers dar.

7 Vgl. P. Becchi: Die Wiederbelebung der Hirntoddebatte und das Problem der Organtransplantation, in: B . Winiger u. a.: Ethik und Recht in der Bioethik. Stuttgart 2013, 119–37.

8 P. Becchi: Morte cerebrale e trapianto di organi. Una questione di etica giuridica. Brescia 2008.

9 Es handelt sich hierbei um Erkenntnisse, welche schon auf Untersuchungen Anfangder 1990er-Jahre zurückgehen und welchen in der Folge nicht widersprochen wurde (vgl. R. Truog u. a.: Brain Death. Critical Care Medicine. 1992;20;12:1705– 1713).

10 A. Shewmon: Disconnessione tra encefalo e c orpo: implicazioni per il fondamento teorico della morte cerebrale, in: R. de Mattei (ed.): Finis Vitae. Soveria Mannelli 2007, 277–331.

11 Vgl. DA Shewmon: Seeing is believing: videos of life 13 years after «brain death», and consciousness despite congenital absence of cortex, in: III. International Symposium on Coma and Death, Havana, Cuba, 22–25 February 2000, wo der Autor u. a. das Video einer neurologischen Untersuchung eines Knaben zeigte, der seit 13 Jahren hirntot war und danach noch sechs Jahre lebte.

12 Eine gute journalistische Zusammenfassung ist der Beitrag von C. Schüle: Wann ist ein Mensch tot? Zeit online, 4. 4. 2012, abrufbar unter: http://www.zeit.de/2012/15/M-Hirntod .

13 L. Scaraffia: I s egni della morte. A quarant’anni dal Rapporto di Harvard. L’Osservatore romano, 3. 9. 2008, 1; P. Becchi: I criteri di accertamento della morte. Bioetica. 2011;1:54 –74.

14 US President’s Council on Bioethics, Controversies in the Determination of Death. A White paper. Washington D.C.; 2008.

15 Deshalb folgende Diskussion: P. Becchi: Der Tod bleibt gleich – o der? NZZ . 24. 7. 2012:17; ders.: Funktion und Grenzen von Todesdefinitionen. NZZ . 8.10. 2012:15.

16 SAMW, Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen. Medizinethische Richtlinien, 1. 9. 2011, abrufbar unter: http://www.samw.ch/dms/de/Ethik/RL/AG/d_RL_FeststellungTod.pdf ; SAMW, Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen. Medizin-ethische Richtlinien, 24. 5. 2005, abrufbar unter: http://www.samw.ch/de/Ethik/Richtlinien/Archiv.html

17 SAM W, Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen. Medizin-ethische Richtlinien, 1. 9. 2011, 5, Fn. 4.

18 Ebd, 5.

19 Nicht erstaunlich ist vor diesem Hintergrund das fast gänzliche Fehlen neuester wissenschaftlicher Literatur im gesamten Dokument.

20 J. Steiger: Der Tod bleibt gleich. Horizonte. Schweizerischer Nationalfonds. Dezember 2011:5.

21 Vgl. SAMW, Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen. Medizin-ethische Richtlinien, 1. 9. 2011, 10: «Medizinische Massnahmen, die ausschliesslich der Erhaltung von Organen, Geweben oder Zellen dienen, dürfen vor dem Tod der spendenden Person nur vorgenommen werden, wenn diese umfassend informiert worden ist und frei zugestimmt hat. Umfasst die Einverständniserklärung die Massnahmen zur Organerhaltung nicht, dürfen diese erst nach der Feststellung des Todes durchgeführt werden.»

22 SAM W, Feststellung des Todes mit Bezug auf Organtransplantationen. Medizin-ethische Richtlinien, 1. 9. 2011, 12. Einzig zu beachten wäre, dass der an diesem Punkt vollends instrumentalisierte Gebrauch des Sterbenden auf z wei Tage beschränkt ist (ebd.).

23 Vgl. A. Arz de Falco: Organerhaltende Massnahmen ohne explizite Einwilligung sind ethisch vertretbar, Interview. Thema im Fokus. 2012;102;12–14. Es muss darüber diskutiert werden, wann organerhaltende Massnahmen «ethisch vertretbar » sind. Jedoch liefert Frau Arz de Falco keinerlei spezifische ethische Argumente, um den von ihr gezogenen Schluss zu begründen. Vielmehr beschränkt sie sich darauf, rechtfertigende Analogien zum Humanforschungsgesetz zu ziehen. Auf den Vorhalt der Interviewer, bei organerhaltenden Massnahmen gehe es mit Medikamenten zur Gefässerweiterung usw. doch um weit schwerwiegendere Eingriffe, wusste Frau de Falco nur zu antworten: «Bluttransfusionen oder das Setzen von arteriellen Kanülen sind wie jeder chirurgische Eingriff keine ‹minimalen Belastungen› und dürfen meines Erachtens nur vorgenommen werden, wenn vom Betroffenen eine explizite Einwilligung vorliegt. Wenn nicht, darf man diese Eingriffe erst durchführen, wenn der Patient tot ist.» Es taucht der Verdacht auf, dass sich Frau Arz de Falco entweder der Tragweite der neuen Richtlinien nicht bewusst ist oder leichtfertig deren ethische Vertretbarkeit verkündet. Gegen Frau Arz de Falco vgl. M. Michel: Die Richtlinien der SAMW sind mit dem geltenden Recht nicht vereinbar, Interview. Thema im Fokus. 2012;102;7–11.

24 O. Guillod: Verfassungsmässig geschützte Rechte können eingeschränkt werden, wenn es gute Gründe dafür gibt, Interview. Thema im Fokus. April 2012;102:18 –20.

25 Art. 122 u. 123 StGB.

26 S. Trechsel u. a.: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar. Zürich 2008, N 6 zu Art. 122 StGB. Freilich könnten sich Ärzte im Fall der Strafverfolgung mit einiger Erfolgsaussicht auf einen schuldausschliessenden Rechtsirrtum nach Art. 21 StGB berufen.

27 BG vom 25. Juni 1976 über die Gewährung von Bürgschaften und Zinskostenbeiträgen im Berggebiet (…), SR 901.2.

28 Siehe Art. 7 u nd Anhang 1 Ziffer 1 der Transplantationsverordnung, SR 810.211.

29 «What have we lost by using the brain death criterion? First the medical profession has dad to pay the price of self-delusion. Despite continual commentary in the medical literature about the inconsistencies and incoherence of the concept of brain death, medical professionals have had to defend the concept in order not to jeopardize the benefits of organ transplantation» (R. Truog: Brain Death – too Flawed to Endure, too Ingrained to Abandon. Journal of Law, Medicine & Ethics. 2007;35;2:273– 81. hier 277).

30 D. Birnbacher: Der Hirntod – eine pragmatische Verteidigung. Jahrbuch für Recht und Ethik. 2007;15:459– 477, hier 475.

31 B. Brody: How much of the brain must be dead?, in: S. Youngner et al. (ed.): The definition of death. Contemporary controversies. Baltimore-London 2002, 71– 82.

32 H. Jonas: Gehirntod und menschliche Organbank: Zur pragmatischen Umdefinierung des Todes (1969), in: Ders.: Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt a.M. 1985, 219–241, hier 227.

33 Darin besteht heute eine gewisse Einhelligkeit, auch bei Autoren, welche im Übrigen abweichende Positionen befürworten. Unter den interessantesten Beiträgen sei vor allem jener in der Habilitationsschrift und in zahlreichen nachfolgenden Publikationen von Ralf Stoecker erwähnt (vgl. R. Stoecker: Der Hirntod – ein medizinethisches Problem und seine moralphilosophische Transformation. Freiburg 1999). Vgl. auch die vom Verfasser angerissene Debatte (siehe Fn. 15).

34 P. Becchi: Morire dopo Harvard. Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto. 2011;87: 273– 87.

35 P. Becchi: Definizione e a ccertamento della morte: aspetti normativi, in: S . Canestrani et al. (ed.): Trattato di biodiritto, Il governo del corpo, vol. 2 . Milano 2011, 2053–2085.

36 Vgl. Fn. 1.

37 Gemäss der Kommission würde sie die Persönlichkeitsrechte tangieren (Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin. Stellungnahme Nr. 19/2012. Bern 2012, 5).

38 Bundesrat, Prüfung von Massnahmen zur Erhöhung der Anzahl verfügbarer Organe zu Transplantationszwecken in der Schweiz, März 2013.

39 Motion Favre 12.3767 vom 20. 9. 2012 «Organspende. Wechsel zur Widerspruchslösung».

40 P. Becchi: Quando la vita f inisce. La morale e il diritto di fronte alla morte. Roma 2009.

Paolo Becchi

Paolo Becchi

Prof. Dr. Paolo Becchi ist Ordinarius für Rechts- und Staatsphilosophie an der Universität Luzern und Extra­ordinarius für Rechtsphilosophie an der Univer­sität Genua