Erscheinungen von Verstorbenen treten gemäss jüngeren empirischen Studien in Todesnähe in erstaunlicher Häufigkeit auf.1 Wenn diese Phänomene «Visitationen» genannt werden, so verweist dies auf den charakteristischsten Zug dieser Erscheinungen. Wie bei unangekündigten Besuchen und ärztlichen Visiten tritt jemand in den Nahbereich ein. In den meisten Fällen werden solche Besuche nicht allein als überraschend, sondern auch als erfreulich und tröstlich wahrgenommen. So kurz und flüchtig diese Erfahrungen auch sein mögen, für die Erlebenden und ihren Umgang mit Tod und Trauer sind sie meist von grosser Bedeutung.
Beispiele von Visitationserfahrungen
Die zwei folgenden Beispiele mögen das belegen. Sie weisen auch darauf hin, wie wichtig seelsorgliche Unterstützung in diesem Zusammenhang sein kann. Die Beispiele entstammen einer Studie, in der wir Seelsorgende auf ihre Erfahrungen mit diesen Phänomenen befragten.2 Eine Seelsorgerin übermittelte uns die folgende Erfahrung: «Eine dem Tode nahe Patientin träumte, dass ihre verstorbene Schwester sie besuchen komme: ‹Wir sassen auf einer Bank. Plötzlich sagte sie: Bald hole ich dich ab, aber jetzt ist es noch nicht so weit.›» Im visionären Traumerleben geschieht eine Wiederbegegnung mit einer wichtigen Bezugsperson. Die Ruhe und die altvertraute und zugleich neue Gemeinschaft verdichten sich im Symbol der Sitzbank. Kennzeichnend für Visitationserfahrungen von Sterbenden ist, dass die Schwester ihr Wiederkommen ankündigt. In dieser Botschaft steckt die tröstliche Verheissung, den letzten Übergang nicht allein vollziehen zu müssen, darin begleitet und behütet zu sein.
Manchmal tragen Visitationserfahrungen auch zu einer Versöhnung mit Verstorbenen bei. Im folgenden Bericht einer Seelsorgerin findet sich ein Beispiel dafür: «Frau B., Jg. 52, an einem schlimmen Krebs erkrankt, der eine ganze Gesichtshälfte betraf, ließ mich im Rahmen des Pikettdienstes rufen, weil sie von einer diffusen Angst überfallen wurde. Es entstand eine Nähe zwischen uns, so dass ich sie weiterhin begleitete. Ich ging jeweils am Abend vorbei. Manchmal wünschte sie ein Abendgebet mit Segen, manchmal mochte sie erzählen, wie es ihr ging. Einmal zog sie Bilanz über ihr Leben. Sie meinte, sie sei eigentlich zufrieden, aber sie sei zu pflichtbewusst gewesen. Aus heutiger Sicht würde sie häufiger auf einen nahegelegenen Aussichtsberg gehen. Was sie stark beschäftigte: Sie hatte ihre kranke Mutter gepflegt, die auf keinen Fall in ein Heim oder ins Spital wollte. Als es der Mutter wieder einmal schlecht ging, brachte sie diese gegen ihren Willen ins Spital, wo sie einige Zeit später starb. Die Patientin sagte: ‹Jetzt, wo ich selber so krank bin und im Spital liege, sehe ich, was ich der Mutter angetan habe.› Wir sprachen über ihre Schuldgefühle und am Ende des Gesprächs richtete sie sich auf, nahm meine Hand in ihre Hände und sagte: ‹Danke vielmal, Sie haben mir so geholfen.› In derselben Nacht träumte sie von ihrer Mutter, die ihr lächelnd zuwinkte. Frau B. deutete diese Erfahrung als Hinweis darauf, dass ihr die Mutter die Einweisung ins Spital verziehen hatte. Ungefähr einen Monat später ist sie auf einer Palliativstation gestorben.»
Noch ein Tabu
In Visitationserfahrungen wird im Erleben der Betroffenen die sonst so scharfe Grenze zwischen Lebenden und Verstorbenen durchlässig. Dass Menschen nur sehr zurückhaltend von perimortalen Visitationen berichten, ist die Folge eines Tabus. In westlichen Gesellschaften stehen visionäre Erfahrungen unter dem Verdacht des Illusionären, gar Krankhaften.3 «Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen», meinte einst der verstorbene deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt. Aus Angst davor, pathologisiert zu werden, schrecken Sterbende davor zurück, visionäre Erlebnisse mitzuteilen. Diese Mitteilungsscheu nährt wiederum das Vorurteil, es handle sich um ein seltenes Phänomen, das keiner besonderen Aufmerksamkeit bedürfe. Wie jedes Tabu ist auch dieses folgenreich. Weder den Begleitpersonen noch den Betroffen steht eine Sprache zur Verfügung, um diese Erfahrungen angemessen zu artikulieren und einzuordnen.
Das Tabu überwinden
Wie kann die christliche Theologie zur Überwindung dieses Tabus beitragen? In einem ersten Schritt dadurch, dass sie ihr eigenes Verhältnis zu perimortalen Visitationen klärt. Der Frage nach dem Verbleib der Toten dürfe heute theologisch und seelsorglich nicht ausgewichen werden, fordert der evangelische Theologe Ulrich Eibach: «Zu behaupten, die Frage: ‹Wo sind die Verstorbenen, wo ist z. B. mein verstorbenes Kind?› sei naiv und unberechtigt und bedürfe keiner Antwort, ist zwar scheinbar aufgeklärt, aber eben doch nur rationalistisch und zudem seelsorglich nicht hilfreich und theologisch nicht weise.»4 Eibach selbst sympathisiert mit der Vorstellung, dass es zwischen diesem Leben und der definitiven Vollendung einen Wirklichkeitsbereich gebe, in den die Verstorbenen eintreten und aus dem heraus sie Sterbenden und Zurückbleibenden erscheinen. Perimortale Visitationen beantworten zwar nicht die Frage, wohin die Verstorbenen entschwinden, doch nähren sie die Hoffnung, dass sie den Lebenden nahe bleiben und diese Nähe sich in der prekären Situation des Lebensendes als tragend erweisen wird.
Visitationen ernstnehmen
Sollen Seelsorgende, die Sterbende und Trauernde begleiten, diese auf perimortale Visitationen ansprechen? Die von uns befragten Seelsorgenden wiesen darauf hin, dass Menschen in der Regel gerne über solches Erleben sprechen, wenn sie, wie in den eingangs zitierten Berichten, bei ihrem Gegenüber eine offene und wohlwollende Haltung wahrnehmen.5 Eine tastende Frage kann dem Tabu und der Angst, sich anzuvertrauen, entgegenwirken und einen Resonanzraum eröffnen. Nur was mitgeteilt werden darf, kann gewürdigt und bekräftigt werden. Was Sigmund Freud einst für die Arbeit mit schwer verständlichen Träumen einforderte, dürfte gerade in diesem Zusammenhang besonders passend sein. Selbst wenn das Mitgeteilte schwer nachvollziehbar ist, solle man es «wie einen heiligen Text» behandeln. Eine der Seelsorgenden beschrieb es so: «Das Wichtigste ist mir, die Äußerungen der Sterbenden wahrzunehmen, ernst zu nehmen, d. h. nicht zu banalisieren oder abzulehnen oder zu übergehen, d. h. so zu tun, als ob ich es nicht gehört hätte. Ernstnehmen heißt auch, nicht zu bewerten, sondern die Deutung und Bedeutung den Patienten zu überlassen, sie nach der Bedeutung für sie zu fragen; diese Erfahrungen öffnen meinen Horizont. Ich werde zunehmend bereit, solche Erfahrungen als Wirklichkeit anzunehmen, auch wenn ich selber bisher keinen Zugang dazu hatte.»6
Simon Peng-Keller