Im Idealfall freuen sich beide, Besucher und Besuchte, über den Besuch. Der Kaffeetisch ist gedeckt; das Geschenk des Gastes trifft den Geschmack der Gastgeberin. Man kommt ins Gespräch, man versteht sich. Hinterher blickt man auf einen gelungenen Nachmittag zurück und ist dankbar. Der Besuch bringt die gegenseitige Freundschaft zum Ausdruck und ist gleichzeitig ein Akt eben dieser Freundschaft.
Diese Bedeutung von Besuchen kann sich im Kontext des Spitals noch verstärken: In der unvertrauten, vielleicht bedrohlichen Krankenhausumgebung freuen sich viele Patientinnen und Patienten darüber, wenn jemand sie besucht. Der Patient wird sich seiner eigenen Identität wieder sicherer; er erfährt konkrete Solidarität und Unterstützung von An- und Zugehörigen, die ihn nicht allein lassen. Gleichzeitig können Besuche im Spital auch sehr anspruchsvoll sein. Manchen Menschen fällt es schwer, einen Kranken zu besuchen; sie müssen sich überwinden, das Spital zu betreten. Vielleicht wissen sie nicht, wie sie sich verhalten sollen, und zweifeln, was sie ansprechen sollen und was nicht. Und umgekehrt ist es für die Patientinnen vielleicht auch nicht einfach, sich im Spitalbett, in der Spitalkleidung, in Abhängigkeit und Vulnerabilität zu zeigen. Die gewohnten Rollen gelten im Spital oft nicht (mehr): Will der Patient, dass die Nachbarin, der Arbeitskollege ihn so sieht?
Besuche sind offen und unverfügbar
Eine der Hauptaufgaben von Spitalseelsorgenden besteht darin, Patienten und Patientinnen zu besuchen. Manchmal entsteht der Kontakt einfach und unproblematisch; manchmal ist ein Besuch eines Seelsorgers bei einer Patientin anspruchsvoll: Ist der Besuch erwünscht? Löst er Ängste oder irritierende Phantasien aus? Der Patient ist nicht allein; es gibt andere Patienten im Zimmer, die vielleicht etwas vom Gespräch mitbekommen – ist das okay? Im engen Therapieplan hat die Patientin vielleicht wenig Lust auf einen Seelsorgebesuch – hat sie das Recht und die innere Freiheit, ihn abzulehnen? Die Rollen sind nicht von vornherein klar; auch der Auftrag ist zunächst offen.
Es gibt also genügend Fallstricke, die einen Besuch schwierig machen können. Wenn er glückt, kann ein Klima der Offenheit und Neugier entstehen, in dem Wesentliches zur Sprache kommt. Häufig sind die Besuche einmalig; Besucher und Besuchte kennen sich nicht; es bleibt bei einem einmaligen Kontakt. Für den Patienten kann das eine Chance sein; eine Möglichkeit, Themen anzusprechen, die er mit einem ihm bekannten Angehörigen oder Seelsorger eher vermeiden würde. Im Experimentierfeld «Seelsorgegespräch» kann die Patientin Gefühle zeigen, die sie dem Familienmitglied nicht zumuten möchte; sie kann Gedanken mitteilen, die ihr vor anderen peinlich wären; sie kann Handlungsoptionen unverbindlich durchspielen, ohne Rücksicht darauf, was der andere (den sie bald wieder regelmässig sieht) von ihr denkt. Ob der Besuch glückt, ist unverfügbar. Wenn er glückt, kann er etwas Heilendes haben.
Heilung
Der Besuchte ist krank. Vielleicht lebensbedrohlich. Dieser Umstand ist der dritte, manchmal tabuisierte Anwesende im Raum. Und ob angesprochen oder nicht – meist verleiht er dem Charakter des Besuchs eine spezifische Färbung.
Welche Bedeutung hat der Besuch eines Seelsorgers unter dieser Voraussetzung?
Ich halte es für problematisch, wenn Seelsorgebesuche als weitere Intervention neben medizinischen Verordnungen verstanden werden. Gebete können nicht magisch heilen. Gläubige werden nicht seltener krank als Atheistinnen; sie gesunden nicht rascher als Nicht-Gläubige. Spiritualität ist nicht eine weitere Therapie neben anderen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass seelsorgerliche Begleitung etwas Wesentliches verändern kann.
Zum Beispiel dadurch, dass in ihr
- relevante Themen entdeckt und in Worte gefasst werden
- gemeinsam nach Deutung und Sinn gesucht wird
- rituell das gegenwärtig Erlebte in wirksame Symbolhandlung übertragen wird.
So könnte Seelsorge beitragen zu einer «Heilung» – diese freilich verstanden in einem weiteren Sinn als dem der «medizinischen Gesundung» –, sondern im Sinn einer Erweiterung der Freiräume; im Sinn der Möglichkeit von Neudeutungen, im Entstehen von neuen Handlungsmöglichkeiten. Vielleicht werden Ängste, Trauer, Schmerz angesprochen und besteht die «Heilwirkung des Gesprächs» (Hermann Lang) gerade in dieser Benennung. Vielleicht entsteht sogar eine erste, noch fragile Annahme der Situation.
Präsenz
(Seelsorgerliche) Besuche sind Besuche realer, leiblicher Menschen. Sie sind nicht einfach durch ein Medium, etwa durch eine Informationsbroschüre, zu ersetzen. Seelsorgerlicher Besuch ist wesentlich Beziehungsangebot. Trost, Mitgefühl, Sich-Verstanden-Fühlen, vielleicht aber auch Aufbegehren, das Äussern von Wut oder ohnmächtiges Verstummen wird im «Setting» zwischenmenschlicher Präsenz möglich. Eine Broschüre, ein Buch liefert Informationen. Aber sie können nicht im gleichen Mass Resonanzkörper sein wie es – ein Mensch ist. Diese Erfahrung kennen wir alle aus dem Alltag; sie wird bestätigt unter anderem durch Studien über die Wirksamkeit von (notfall-)psychologischen Interventionen und Therapien1: Was in Akutsituationen hilfreich ist, ist die Präsenz von Menschen: «Jemand war da». Ein Mensch setzt sich zu dem Patienten, dem Angehörigen, dem Zeugen. Er stellt sich vor. Er fragt, wie die Situation des Gegenübers ist. So beginnt es.
Am dichtesten gilt diese Erfahrung wohl für die Begleitung von Sterbenden. Eine Pionierin der Hospizarbeit in England, Cicely Saunders (1918–2005), hat erforscht, was Menschen im Angesicht des Sterbens brauchen: Sie brauchen «active total care». Und Saunders vergleicht diese «umfassende Pflege» mit dem Auftrag, den Jesus vor seinem Sterben an seine Jünger gerichtet hat: «Watch with me». Dieses Wachen bedeutet – neben moderner Medizin und Pflege – auch Mitgefühl, Freundschaft und Herzensnähe.
Sterbende erwarten nicht, dass jemand ihnen den Sinn des Sterbens erklärt, sie wollen nicht diskutieren und erläutern. Sie haben auch nicht die Hoffnung, dass ihnen ihr Leid abgenommen werden kann. Sondern sie wünschen sich einfach, dass jemand bei ihnen ist, sie begleitet und mit ihnen die Situation aushält. So appelliert Saunders an ihre Mitarbeitenden im Hospiz, sie sollten lernen, «how to be silent, how to listen and how just to be there».2
In diesem Sinn könnte man die Präsenz von Angehörigen, von Pflegenden und Ärzten, von anderen Patienten und eben auch von – Seelsorgenden als Ur-Symbol, als Ur-Ritual verstehen: Die Antwort auf das Mysterium des Leidens und Sterbens ist nicht eine Erklärung, sondern gegenwärtige Präsenz.3
Kreativ während der Pandemie
Unter den Bedingungen der Pandemie haben viele sehr schmerzlich erfahren, wie belastend Einschränkungen zwischenmenschlicher Nähe und Anwesenheit sind. Als Seelsorgende in einem Universitätsspital konnten wir zum Glück die Patienten und Angehörige immer besuchen. Aber manchmal durften Angehörige nicht ins Spital kommen, um die Patientinnen nicht zu gefährden. Oder sie wagten es nicht, weil sie Angst hatten, sich zu infizieren. Dann haben wir Ersatzlösungen entwickelt: Wir haben seelsorgerliche Beratungen per e-mail durchgeführt; wir haben Mitarbeitendenbetreuung am Telefon angeboten; wir haben Abschiedsrituale per Videokonferenz übertragen. Das geht. Es ist besser als der Verzicht auf Begegnung. Aber es ist defizitär. Es ersetzt nicht die leibliche, vielleicht heilsame Präsenz der Besucherin als menschlichem Gegenüber. Unser Platz ist vor Ort: im Patientenzimmer, am Krankenbett, im Besprechungsraum – im Gegenüber von Patientinnen und Patienten, Angehörigen und Mitarbeitenden.
Hubert Kössler