Verwirklichung von Schutzkonzepten (II)

Vielfach herrscht die Meinung, gegen Gewalt könne man präventiv ohnehin nichts ausrichten. Diese Auffassung ist falsch und muss entschieden zurückgewiesen werden. Viele Einrichtungen verfügen seit Jahren über wirkungsvolle Präventionskonzepte gegen Gewalt. Damit kann nicht alles verhindert werden. Im Gegenteil. Umfassende Schutzkonzepte verfügen zumindest über einen Plan B mit definierten Vorgehensweisen für den Fall von Grenzverletzungen. Ich vergleiche die Vorgehensweise mit den Massnahmen bei Lawinenunglücken und Bergrettungen oder mit Deich- und Dammbauten gegen Hochwasserschutz. Prävention kann nur vorausschauend umgesetzt werden. Wenn Lawinen niedergehen oder die Flüsse über die Ufer treten, können wir einzig noch mit Rettungsmassnahmen versuchen, das ärgste Leid zu vermeiden. Gewaltprävention muss analog aufgebaut werden, wenn keine Gewalt im Spiele ist – vorausschauend. Dann hat man Zeit, in aller Ruhe die notwendigen Massnahmen einzuleiten. Es ist das Zusammenspiel vieler Einzelmassnahmen, welche den Lawinenschutz prägt. Erst in ihrem stringenten Zusammenspiel wird das angestrebte Ziel erreicht. Viele dieser Massnahmen wurden über Jahre hinweg entwickelt und optimiert: Nachhaltige Gewaltprävention kann nicht über Nacht aufgebaut werden. Wir wissen aus vielen Täterbiografien, wie sich die Dinge über Jahre entwickelt haben, weshalb Prävention früh ansetzen muss, möglichst bevor sich deutliche Gewalthandlungen manifestiert haben.

Kinder und Jugendliche brauchen eine Anleitung über den Umgang mit Sexualität und den damit verbundenen Beziehungserfahrungen. Sexualpädagogik gehört zum Pflichtschulstoff und muss ab Stufe Kindergarten altersentsprechend vermittelt werden. Wenn wir Kindern helfen wollen, dass sie Nein sagen können, müssen wir ihnen das erforderliche Wissen vermitteln. Die wissenschaftliche Datenlage zeigt, dass Kinder im Alter von 7 bis 8 Jahren die grösste Altersklasse sind, die von sexualisierter Gewalt betroffen ist. Wollen wir ihnen wirkungsvoll helfen, muss die Sexualpädagogik rechtzeitig einsetzen. Das gilt umgekehrt auch für die Täterseite, wo die 14- bis 15-Jährigen die grösste Altersgruppe darstellen. Wollen wir potentiellen Tätern klarmachen, welches Handeln inakzeptabel ist, muss man ebenfalls rechtzeitig intervenieren. Die Rekrutenbefragung in der Schweiz hat deutlich gemacht, dass solche Interventionen bei Jugendlichen wirkungsvoll sind und bei einer Grosszahl von Jugendlichen zu nachhaltiger Haltungsänderung beigetragen haben. Dass es nicht bei allen wirkt, heisst nicht, dass es überhaupt nicht wirkt.

Schmerzhafte Massnahmen

Lawinenverbauungen sind kaum erbaulich, es sind schmerzhafte Eingriffe in die natürliche Landschaft. So wird es auch mit Gewaltprävention sein. Einzelne Aspekte können mit drastischen und ungewohnten Massnahmen verbunden sein. Vom Gemeindepfarrer einen Strafregisterauszug zu verlangen, ist gewöhnungsbedürftig. Einzelne Massnahmen für sich sind kaum geeignet, Gewalt wirksam zu verhindern. Dies wird erst im Verbund der einzelnen Vorgehensweisen erreicht. Aus einem solchen Geist wurde im Bereich der Behinderten-Betreuung die Charta durch 12 Verbände am 25. Nov. 2011 verabschiedet. Es ist allen involvierten Stellen klar, dass ein Text noch nicht das Verhalten des einzelnen Mitarbeiters ändert, sondern dass hier flächendeckend mit begleitender Schulung die erforderliche Hilfestellung zu vermitteln ist.

Machtmissbräuche in Institutionen stellen eine heikle Thematik dar. Wirkungsvolle Schutzkonzepte müssen diesem Umstand Rechnung tragen, wie dies durch Pater Mertes formuliert wurde: «Institutionen können ... Machtmissbrauch nicht selbst aufklären, sondern bedürfen dazu der Hilfe von aussen.»1 Entsprechende Strukturen müssen aufgebaut und umgesetzt werden, was in der Regel Knochenarbeit bedingt: «Schnell beschriebenes Papier ist nichts wert, wenn es nicht mühsam und Punkt für Punkt in der Institution auch real umgesetzt wird.»2 Aber aufgepasst: Prävention wird heute oft als Schlagwort verwendet, mittels dem alles Unheil gebannt werden kann. Die Enttäuschung folgt auf dem Fuss. Es braucht darum stets einen Plan B: Interventionskonzepte bei Verdacht auf Grenzverletzungen. Und die Einrichtungen bzw. Berufsverbände müssen zusammen mit den zuständigen Behörden die Frage diskutieren, was mit Fachleuten geschehen soll, die ein Fehlverhalten zeigen. Weiter müssen Ausbildungskonzepte dem Umstand Rechnung tragen, dass in der Institution Kirche auch zahlreiche Opfer von Gewalt Trost und Halt suchen.

In kirchlichen Institutionen können unterschiedliche Grenzverletzungen geschehen:

  • PSM (Professional Sexual Misconduct; Übergriffe durch Priester/Seelsorger an Kirchenmitgliedern)
  • PSM durch übrige kirchliche Mitarbeiter
  • Übergriffe von Kirchenleuten an anderen Kirchenleuten (sexuelle Belästigung)
  • Übergriffe in der Institution durch Drittpersonen (Angehörige, Drittpersonen, Dienstleister)
  • Übergriffe unter Kirchenmitgliedern in der Institution (Sorgfaltspflicht, z. B. Pfingstlager)
  • Übergriffe von Kirchenmitgliedern an Mitarbeitern (workplace violence)
  • Fehlverhalten ausserhalb der Institution (z. B. wird ein Pfarrer wegen Konsums von Kinderpornos angezeigt)
  • Nichtermöglichen von Sexualität und Partnerschaft in kirchlich geführten Betreuungseinrichtungen
  • Von Gewalt betroffene Gläubige bzw. Klienten von Einrichtungen

Die Liste verdeutlicht, dass Institutionen als Hochrisikobereiche für sexualisierte Übergriffe betrachtet werden müssen. Die Risikodisposition ergibt sich ausschliesslich durch die Tatbereitschaft von Sexualdelinquenten, welche entsprechende Gelegenheiten schaffen und die Blauäugigkeit der Institutionen zur Verübung ihrer Taten ausnutzen.

Gewalt in unserer Gesellschaft

Gewalt ist die grösste derzeit bestehende Pandemie.3 Eine der umfangreichsten Befragungen zur Häufigkeit von Gewalt wurde kürzlich durch die FRA veröffentlicht. Innerhalb der EU-28 wurden 42 000 Frauen im Alter zwischen 15 und 74 Jahren in Face-to-face-Interviews zu ihren Gewalterfahrungen befragt. Das Ergebnis erschüttert: 33% aller Frauen geben an, dass sie von Gewalt betroffen sind. Das sind 62 000 000 Frauen. Mädchen und betagte Frauen wie auch Männer sind nicht befragt worden. In einer landesweiten Umfrage in Irland im Jahre 2002 haben 42% aller Frauen und 28% aller Männer angegeben, dass sie sexualisierte Gewalt erlebt hatten. Eine ähnliche Arbeit aus den USA ergab 27% Frauen und 16% Männer, welche sexualisierte Gewalt erlebt haben.4 Es geht hier nicht um die exakten Zahlen, sondern weit mehr um die Grössenordnungen. Die Zahlen tönen tatsächlich unglaublich, und Opfer haben es nicht einfach, sich Gehör zu verschaffen. Würden sie es tun, würden wir erschrecken. Es muss ja angesichts der hohen Zahl von Betroffenen auch eine ansehnliche Anzahl von Tätern geben. Was sollen wir mit all den gewaltausübenden Menschen tun? Die Gefängnisse sind zu klein, um all die verurteilten Sexualdelinquenten aufzunehmen. Rund 6% aller sexualisierten Gewaltdelikte werden der Polizei gemeldet. In rund 15% aller gemeldeten Fälle erfolgt eine rechtsgültige Verurteilung. Im Klartext bedeutet dies, dass rund 1% aller Sexualdelinquenten derzeit zur Rechenschaft gezogen wird. Die Opfer leiden jedoch unter den Folgen, ob ein Täter erwischt wird oder nicht. Die Kirche muss diesem immensen Leid auf adäquate Weise Rechnung tragen. Weiteres Leid betrifft Menschen, die ihre Angehörigen infolge kriegerischer Auseinandersetzungen verloren haben, die ihre Heimat aufgeben mussten; insbesondere deren Kinder. Die Entscheidungsträger haben es bisher nicht geschafft, auf dieses drängende Problem passable Antworten zu finden.5 Es ist Aufgabe der Kirche, Menschen in Not beizustehen. Sind die Curricula der Fachleute entsprechend gestaltet, um hier mit professionellem Verständnis reagieren zu können? Wird angehenden Seelsorgern Gelegenheit geboten, sich mit anderen Disziplinen zu vernetzen, damit sie im praktischen Alltag angesichts solchen Leids nicht allein auf sich gestellt bleiben? Sind die Verantwortlichen in den Gemeinden geschult, wie sie in solchen Situationen reagieren können? Der Verfasser des vorliegenden Artikels entwickelt derzeit zusammen mit anderen Fachleuten ein Handbuch für Leitungskräfte von Institutionen, wie sie Schutzkonzepte implementieren können.

Gemäss den jüngsten Zahlen über Kinder und Jugendliche muss davon ausgegangen werden, dass etwas mehr Knaben als Mädchen Opfer von sexualisierten Gewaltdelikten werden.

Beispiele ausserhalb der Kirche zeigen, dass sexualisierte Gewalt nicht bloss die Kirche trifft. Es hat sich herausgestellt, dass Gerold Becker, langjähriger Leiter der Odenwaldschule, ein Serientäter mit 86 Opfern ist. Er wurde nie angeklagt. Flavio Bomio, Schwimmtrainer des Schweizer Nationalteams, wurde als Serientäter verurteilt. Er hatte in seiner Rolle jahrelang an Jugendlichen sexualisierte Grenzverletzungen verübt. Am krassesten bisher der Fall von Jimmy Savile, ehemaliger BBC-Entertainer, der während 50 Jahren wohl an rund 1000 Opfern sexualisierte Übergriffe verübt hatte. Gegen ihn wurde nie Anklage erhoben. Nun ist es ja nicht so, dass Opfer nie etwas gesagt haben. Einzelne haben sich hilfesuchend an die Polizei gewandt. Aber dies führte nie zu Ermittlungen. Analog bei Hansjörg Schmied, dem Sozialtherapeuten, der während 29 Jahren unbehelligt Übergriffe mehrheitlich an Menschen mit Behinderungen verübt hatte. Eine Grossmutter hatte ihn in flagranti erwischt, wie er ihre Enkelin vergewaltigte. Als sie Anzeige erstatten wollte, hiess es seitens der Polizei: ob sie das beweisen könne? Einmal mehr: Alle müssen entscheiden, ob sie einem Opfer glauben wollen oder nicht. Das gilt für Fachleute wie auch für Richter. Nach den Schätzungen von Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, sind ein Viertel aller Strafgerichtsurteile falsch. Opfer leiden unter den Folgen, ob ihr Peiniger nun verurteilt worden ist oder nicht. Die Auswirkungen werden als Traumafolgestörungen bezeichnet und stellen ein Kontinuum von akuten Belastungsstörungen bis zu komplexen Folgen, verbunden mit körperlichen Beeinträchtigungen, dar. Traumafolgestörungen sind keine Modediagnose, wie manchmal gesagt wird, sondern stellen das häufigste psychiatrische Krankheitsbild dar.

Kenntnisse über Täterstrategien

Ohne fundierte Kenntnisse über Täterstrategien lassen sich keine wirkungsvollen Interventionen umsetzen. Sexualdelinquenten bedienen sich einer Art Mimikry, mittels der sie sich unerkennbar machen. Ihre wahre Seite sehen zunächst nur die Opfer. Nur sie machen die Erfahrung von Gewalt, während alle andern unbehelligt bleiben und diese Erfahrung zunächst nicht nachvollziehen können. Auf dem Cover meines Buches «Missbrauchtes Vertrauen» findet sich ein Janusgesicht mit seiner dunklen und hellen Seite. Dieses Bild geht auf die Idee eines norwegischen Pastors zurück, welcher sich darüber Gedanken machte, wie die Gemeinde einen übergriffigen Seelsorger erlebt. Ihm wurde klar, dass nur das Opfer die Verfehlungen «sehen» kann, während die Gemeinde blind bleibt. Die Aufforderung: «Schaut hin!» fordert nun alle auf, hinzusehen, und nicht zu schweigen. Und so mag es zunächst ein leiser Verdacht sein, womöglich sogar vom Opfer bestritten, welches seinen Peiniger zu schützen versucht, der sich dann erhärtet und zur Gewissheit wird.

Gewalt konfrontiert uns mit einer enormen hermeneutischen Schwierigkeit, wie sie mit diesem Janusbild ausgedrückt wird. Es ist wie ein Kippbild verwirrend. Wenn Täter allgemein akzeptierte Legitimationsstrategien für ihr Tun präsentieren können, wem wird dann eher geglaubt? Dem Opfer oder dem Täter? Opfer wissen um diese Problematik und hüten sich deshalb oft, deutlich zu werden. Die Institution schützt mit ihrer Vorgehensweise den Täter und lässt die Opfer alleine, siehe katholische Kirche, siehe Odenwaldschule. Nachfolgend illustriert die Grafik den modus operandi von tatbereiten Fachleuten, welche ihre Fantasien in zielgerichtete Handlungsimpulse umsetzen und dann in der Folge Grenzverletzungen verüben.

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Institutionen tendieren vielfach dazu, die Vorfälle zu vertuschen und ihre Mitverantwortung zu bestreiten. Gerade im Falle der Kirche hat sich diese Strategie nicht ausgezahlt. Papst Franziskus fordert deshalb eindringlich dazu auf, den Anliegen der Opfer Vorrang vor allen anderen Aspekten zu gewähren.6 Pater Klaus Mertes beschreibt in seiner Monografie, welche Beweggründe ihn dazu gebracht haben, den Schülern des Kollegs einen Brief zu schreiben. Ehemalige hatten ihm in einem Gespräch am 14. Januar 2010 mitgeteilt, was sie erlebt hatten. Wenige Tage später versandte er diesen Brief, der am 28. Januar in der Berliner Morgenpost veröffentlicht wurde. Der Vorfall zwang die deutsche Bundesregierung zum Handeln. Unter Federführung von drei Bundesministerien wurde ein runder Tisch zur Missbrauchsproblematik einberufen. Es wurde eine nationale Meldestelle geschaffen und in der Person von Christine Bergmann eine Missbrauchsbeauftragte ernannt. Zudem wurde ein Forschungsetat von über 30 Millionen Euro gesprochen, der später nochmals um 10 Millionen aufgestockt wurde, um die erforderlichen Entscheidungsgrundlagen zu erarbeiten.

Ausbildung der Fachleute

In den Expertenhearings des runden Tisches wurde grosses Gewicht auf die Ausbildung der Fachleute gelegt. Die grundlegende Bedeutung erkannten sowohl die Kirchen als auch die Politik. In mehreren Arbeitsgruppen erarbeitete der erweiterte runde Tisch Positionspapiere, wie diese Inhalte curricular umgesetzt werden sollen. Neben Faktenwissen und Handlungskompetenz sollte auch eine frühzeitige Vernetzung mit anderen involvierten Disziplinen sichergestellt werden, was interdisziplinäre Angebote bedingt. Unter Federführung von Bischof Stephan Ackermann trafen sich die katholischen Ausbil dungsverantwortlichen in Mainz, um die von der deutschen Bischofskonferenz vorgegebenen Leitlinien umzusetzen. Die Erzdiözese Freiburg überarbeitete das Curriculum der Priesterausbildung und ging mit einem Modellprojekt voran. An der Universität Ulm wurde in Zusammenarbeit mit dem Vatikan ein e-learning-Programm entwickelt. Die Ausbildung der Fachleute bildet eine wesentliche Voraussetzung in der Umsetzung der Schutzkonzepte.

Was tun mit fehlbaren Fachleuten?

Der Umgang mit professioneller Nähe und Distanz ist ein stetes Dilemma. Die zwischenmenschlichen Interaktionen können leicht zu Grenzüberschreitungen führen. Geschehen diese zum Wohl von Klienten, lassen sie sich fachlich begründen und können in die allgemeinen Standards integriert werden. Das sind beispielsweise Vorgehensweisen wie Hand halten oder Umarmungen. Gibt es fachliche Situationen, wo solche Gesten angebracht sind? Diese finden sich zweifellos, etwa gegenüber einer Person in tiefer Trauer mag ein Handhalten ein Zeichen von Anteilnahme sein. Fachleute müssen im täglichen Umgang mit derartigen Problemstellungen einen Diskurs darüber führen, welche Schritte angemessen sind, wo problematische Bereiche beginnen und wo definitive No-Go-Situationen auftreten. Dazu bedarf es einer kontinuierlichen Schulung und Auseinandersetzung.

Als vor Jahren an der Charité in Berlin die ersten Behandlungsprogramme für Personen mit pädosexuellen Neigungen angeboten wurde herrschte unter den Fachleuten grösste Skepsis. Niemand hatte eine Vorstellung davon, wie viele Personen einen derartiges Angebot in Anspruch nehmen würden. Heute weiss man, dass diese Programme einem grossen Bedürfnis entsprechen. Sie werden flächendeckend im deutschsprachigen Raum angeboten. Nach diesem Ansatz müssen nun in einem nächsten Schritt Angebote für Fachleute bereitgestellt werden. Allerdings breiter konzipiert, umfassen doch Grenzverletzungen ein weites Spektrum von fachlichem Fehlverhalten. Die Hilfestellung richtet sich an diejenigen Fachleute, die ihre Schwierigkeiten wahrnehmen und entsprechend ihrer Verantwortung sich zu einer nachhaltigen Auseinandersetzung entscheiden können.

Leider wird es auch Fachleute geben, welche diese Warnungen ignorieren und den ihnen anvertrauten Menschen Schaden zufügen. Für diese Gruppe von Fachleuten existieren Programme, die eine deliktorientierte und rückfallpräventive Behandlung in Kombination mit einer fachlichen Rehabilitation anbieten. Bei positivem Abschluss ist eine weitere Berufstätigkeit grundsätzlich möglich. Ein begleitetes Monitoring stellt sicher, dass über die weitere Dauer ihrer Tätigkeit ein individuelles Fallmanagement sichergestellt ist. Nicht Behandlungswillige oder Behandlungsunfähige müssen mit einem dauerhaften Berufsverbot belegt werden, welches ihnen untersagt, einer bezahlten oder ehrenamtlichen Tätigkeit mit abhängigen Personen nachzugehen. Um dies sicherzustellen, bedarf es öffentlich einsehbarer Register nach dem Modell des kanadischen Bundesstaates Ontario, welcher diese Vorgehensweise zusammen mit dem College of Surgeons and Physicians umgesetzt hat.7

Der Schutz potentieller Opfer muss Priorität erhalten. Güterabwägungen sind entsprechend vorzunehmen. Es sei an dieser Stelle erneut darauf hingewiesen, dass die Umsetzung von Schutzkonzepten gesetzgeberische Massnahmen erfordert, die im politischen Prozess entwickelt werden müssen.

Nestentschmutzung

Ein Polizeioffizier sagte zu mir: «If we do not adequately handle the victims of sexual abuse, they will become offenders later in their live».8 Es muss eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe mit höchster Priorität werden, wie wir mit Opfern sexualisierter Gewalt umgehen. Rund 25% aller Opfer werden zu Tätern; und untersucht man Täter, so zeigt sich, dass etwa zwei Drittel der männlichen Sexualdelinquenten selbst Übergriffe erlebt haben, bei den weiblichen Sexualdelinquenten sind es nahezu 100%.9 Ich möchte niemanden anklagen, sondern ich möchte mit meinen Ausführungen mithelfen, Lösungen zu finden. Ich vergleiche diese Vorgehensweise mit Semmelweis, dem Arzt, der um 1840 in Wiener Entbindungsstationen gewirkt hat. Er hatte festgestellt, dass bis zu einem Drittel aller Wöchnerinnen auf denjenigen Stationen, die von Ärzten betreut wurden, verstarben, während auf denjenigen Stationen, die ausschliesslich von Hebammen betreut wurden, 1 bis 2 Frauen auf 100 verstarben. Sein Vorschlag kann zusammengefasst mit Hygienemassnahmen umrissen werden, worauf sich die ärztliche Zunft angegriffen fühlte und deren Aufruhr in der Feststellung gipfelte: «A doctor’s hands are clean!»10 Was nicht sein darf, das ist nicht. Erst rund 10 bis 15 Jahre später entdeckten Pasteur und Koch, dass der Tod der Wöchnerinnen auf Kindsbettfieber zurückzuführen war, übertragen durch Bakterien, die an den Händen der Ärzte haften blieben. Eine simple Massnahme hätte damals viele Leben retten können, ein Vorgehen, das heute selbstverständlich ist. Semmelweis wollte kein Netzbeschmutzer sein oder die Reputation der Ärzte in Zweifel ziehen – im Gegenteil.

Schutzkonzepte sollen mithelfen, in kirchlichen Einrichtungen Menschen wirkungsvoll vor Grenzverletzungen zu schützen. Dies wird nur gelingen, wenn die skizzierten Massnahmen auch umgesetzt werden. Dazu bedarf es der Mithilfe aller kirchlichen Mitarbeitenden.

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Literatur

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1 Mertes 2013, 81

2 Mertes 2013, 33

3 Tschan 2014

4 Finkelhor et al. 1990

5 Bhabha 2011

6 Siehe Ausgabe des Spiegel vom 11. 4. 2014

7 Siehe: www.cpso.on.ca

8 David Harvey, Police Officer, Child Protection Unit, NZ Police, Papanui, Februar 2013

9 Hislop 2001

10 Tschan 2012

Werner Tschan

Dr. med. Werner Tschan ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und ist spezialisiert für Psychotraumatologie und sexuelle Gewalt.