Business ist nicht die Lösung für Armut

«Armut: Business ist die Lösung.» So titelte Prof. Dr. Martin Rhonheimer seinen in der NZZ vom 5. 4. 2016 publizierten Artikel und schrieb von einem «blinden Fleck» der katholischen Soziallehre in Bezug auf «die Arbeit des Unternehmers». Daniel Saudek hat am 20. 4. 2016 in derselben Zeitung unter dem Titel «Kein Markt ohne Menschenrechte» widersprochen. Franz-Xaver Kaufmann konnte gleichenorts am 29. 4. 2016 aus sozialethischer und soziologischer Sicht Stellung nehmen, dies jedoch stark gekürzt. In der integralen Fassung seines Beitrages deckt Kaufmann eine bei Rhonheimer als katholischem Sozialethiker bedenkliche ideologische Voreingenommenheit oder Unkenntnis hinsichtlich Marktwirtschaft und Kapitalismus auf. Kaufmann bietet eine kompakte Darstellung der Entwicklung der Idee der sozialen Marktwirtschaft und der unterschiedlichen Wirtschaftstheorien und liefert entscheidende, zu oft vernachlässigte soziologische Einsichten.

Als nach Kriegsende der damalige deutsche Wirtschaftsminister Ludwig Erhard seiner Wirtschaftsreform den Namen «soziale Marktwirtschaft» verpasste, konnte er mit Recht behaupten, das Soziale an der Sozialen Marktwirtschaft sei, dass sie die Wirtschaft stärker als dirigistische Wirtschaftssysteme zum Wachsen bringe und «Wohlstand für alle» schaffe. Diese Auffassung liegt auch dem Artikel von Professor Martin Rhonheimer zu Grunde, der als katholischer Theologe und Sozialethiker seinen Fachkollegen eine einseitige Parteinahme für die «soziale Gerechtigkeit» und die Unterschätzung der Unternehmer-Funktion vorwirft.

Sozialethik – Kind ihrer Zeit

Als aussenstehender, aber mit den Verhältnissen in der deutschen Sozialethik einigermassen vertrauter katholischer Sozialwissenschaftler möchte ich auf eine Spaltung innerhalb der Disziplin der Sozialethiker aufmerksam machen, die man – grob gesagt – auf die Leitfiguren des Jesuiten Oswald von Nell- Breuning einerseits und des späteren Kardinals Joseph Höffner andererseits zurückführen kann. Die Polarität beider Richtungen ähnelt derjenigen von Kapital und Arbeit, und dementsprechend stand Höffner dem Bund Katholischer Unternehmer, Nell- Breuning den Gewerkschaften nahe. So unterscheiden sich auch heute die sozialethischen Positionen in einer stärkeren Betonung der einen oder anderen Seite, ohne aber in der Regel die Bedeutung der zweiten Seite zu negieren. Auch die Sozialethik bleibt Kind ihrer Zeit und verwoben in gesellschaftliche Verhältnisse, so gerne sie sich über diese erheben würde. Die Mittel zu dieser Emanzipation sind seit dem 19. Jahrhundert die Verdrängung der Geschichtlichkeit und die Berufung auf als ewig behauptete Prinzipien und Wahrheiten.

Unkenntnis oder ideologische Voreingenommenheit?

Der Beitrag von Martin Rhonheimer besetzt in diesen Auseinandersetzungen die Position des Rechtsaussen. Denn er betont nicht nur die Rechte und kollektive Nützlichkeit des Unternehmertums, sondern unterschlägt die dazu polare Problematik der sozialen Gerechtigkeit überhaupt. Er negiert die reale Spannung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen, deren Behauptung er als «letztlich marxistisch» qualifiziert, was ihm anscheinend genügt, um ihr jeden Wahrheitsgehalt abzusprechen. Dabei hat Karl Marx das Wesen des Kapitalismus tiefer erfasst, als all seine Zeitgenossen, weil er ihn nicht – wie Rhonheimer – einfach mit Marktwirtschaft identifizierte, sondern die «Bewegungsgesetze des Kapitals» analysierte und insbesondere die dem Kapitalismus immanente Tendenz zur «Konzentration der Kapitale», also eine Tendenz zur Reduktion der Konkurrenz bis hin zur Monopolbildung. Die dem zugrunde liegende Dynamik wurde sodann von Joseph A. Schumpeter in seiner «Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung» vertieft analysiert. Auch der Ordo-Liberalismus sah die Problematik der Oligopol- und Monopolbildung und suchte sie durch eine staatliche Wettbewerbspolitik zu überwinden. Der Kapitalismus – sich selbst überlassen – tendiert zur Aufhebung der Konkurrenz und damit des Nutzen stiftenden Prinzips der Marktwirtschaft. Deshalb zeugt Rhonheimers Identifizierung von Marktwirtschaft und Kapitalismus entweder von Unkenntnis oder ideologischer Voreingenommenheit.

Die Rolle des Staates

Allerdings ist unter katholischen Sozialethikern Unkenntnis soziologischer Gesellschaftstheorie verbreitet. Sie denken Gesellschaft primär als Einheit, nicht als Komplex differenzierter Teilsysteme. Die Differenzierung zwischen Staat, bürgerlicher Gesellschaft und Familie mit ihren je unterschiedlichen normativen Prinzipien als Merkmal moderner Sozialverhältnisse stammt bereits von Hegel. Auf Hegel aufbauend hat sodann Lorenz von Stein in den 1840er-Jahren und unter dem Eindruck der bis zum Bürgerkrieg führenden Klassenkonflikte in Frankreich ein Argument entwickelt, das heute grundlegend für das Verständnis des Sozialstaats geworden ist: Kapital und Arbeit sind zwar aufeinander angewiesen, aber sie finden nicht ohne Hilfe des Staates zu einem produktiven Kompromiss. Bei Stein ist noch vom «Königtum sozialer Reform» die Rede, dessen hoheitliches Wirken einerseits für das Kapital die Garantie des Privateigentums, andererseits für die Arbeiter Schutz und Förderung verspricht. Damit war die Richtung für produktive Kompromisse vorgegeben, wie sie zwischen den Spitzenverbänden von Unternehmern und Gewerkschaften unter Beteiligung des Staates zuerst in Dänemark (1899), dann in zahlreichen europäischen Staaten mit unterschiedlicher Haltbarkeitsdauer geschlossen wurden. In der Schweiz bilden die Grundsätze des Friedensabkommens in der Metall- und Uhrenindustrie von 1937 (mit nur indirekter Staatsgarantie) bis heute die Grundlage der Sozialpartnerschaft.

Markt und Staat

Von all dem ist bei Rhonheimer nicht die Rede. Vielmehr geisselt er «den modernen Sozial- und Verschuldensstaat mit seiner enormen Steuerbelastung und den ökonomischen Fehlanreizen». Dass es da Exzesse geben kann, ist ebenso wenig zu bestreiten wie die Korruption von Seiten der Wirtschaft. Der Denkfehler bei Rhonheimer – wie übrigens bei vielen Liberalen – besteht in der Absolutsetzung des Markt- bzw. Konkurrenzmechanismus als Problemlöser, dem allerdings «von links» eine nicht minder einseitige Staatsgläubigkeit gegenüber steht. Die Sozialethik könnte von der Soziologie (und übrigens auch vom Verfassungsrecht!) lernen, dass moderne Gesellschaften auf heterogenen normativen Prinzipien beruhen, deren Geltungsbereich teilsystemisch begrenzt wird, die sich in ihrer Wirkungsweise ergänzen. Auseinandersetzungen, vor allem in Überlappungsbereichen, sind da vorprogrammiert, aber es handelt sich um Auseinandersetzungen innerhalb eines allen gemeinsamen Verfassungsrahmens.

Bekämpfung der Armut

Völlig verfehlt ist schliesslich die Vorstellung, Armut lasse sich in entwickelten Volkswirtschaften mittels «Business» und nicht mittels Regulierung beseitigen, wie Rhonheimer den «Finanzchef» des Vatikans, den australischen Kardinal Pell, zustimmend zitiert. «Business» vermag zwar die wirtschaftlichen Kräfte und damit tendenziell Wohlstand zu entwickeln, wodurch die primäre Armut der vor- und frühindustriellen Zeit reduziert wird. Die Industrialisierung und Tertiarisierung der Wirtschaft bringen jedoch eine systemimmanente sekundäre Armut der Nicht- Beschäftigungsfähigen hervor, die sich nicht durch Wirtschaftswachstum allein, sondern nur durch Hilfe und Umverteilung bekämpfen lässt. Das hat übrigens als erster der Schweizer Nationalökonom Sismondi (1819) gegen die Lehren des wirtschaftlichen Liberalismus eingewandt: In der Produktions-und in der Verteilungssphäre können nicht die gleichen Regeln gelten.

Ist gute Wirtschaftspolitik auch die beste Sozialpolitik?

Zurück zu Erhard. In der Nachkriegssituation eines zerrütteten Staatswesens, einer weithin zerstörten wirtschaftlichen Infrastruktur, aber mit einer Menge hoch qualifizierter Arbeitskräfte, deren Zahl sich durch Flucht und Vertreibung laufend vergrösserte, war der Glaube an die Kräfte des freien Wirtschaftens als universellem Problemlöser plausibel und im so genannten Wirtschaftswunder auch erfolgreich. Für Erhard blieb eine gute Wirtschaftspolitik die beste Sozialpolitik, während sein Staatssekretär Alfred Müller-Armack, der Schöpfer des Begriffs Soziale Marktwirtschaft, bereits kritisch notierte: «Wir wissen heute, dass die Marktwirtschaft besonderen Anforderungen nach sozialem Ausgleich und sozialer Sicherheit nicht hinlänglich genügt, und müssen uns um den Einbau entsprechender Stabilisatoren kümmern.»

Es bleibt gefährlich, aus allgemeinen Prinzipien politische Schlussfolgerungen abzuleiten, ohne die Kontexte in Raum und Zeit ausdrücklich zu berücksichtigen.

 

Franz-Xaver Kaufmann

Franz-Xaver Kaufmann

Prof. Dr. oec. Dr. h. c. mult. Franz-Xaver Kaufmann lehrte von 1969 bis 1997 Sozialpolitik und Soziologie an der Universität Bielefeld. Der gebürtige Zürcher lebt heute in Bonn.