Der moderne Rechtsstaat und das religiöse Bekenntnis (I)

Immer wieder kommt es zu Konflikten, wo sich der moderne Rechtsstaat mit religiösen Bekenntnissen und Einstellungen konfrontiert sieht: Ganzkörperverhüllung, Schwimmunterricht, Mohammed- Karikaturen, Sterbehilfe, Abtreibung, Pränatale Diagnostik und viele andere Stichworte verweisen auf Reibungsflächen. Noch aktueller werden diese Themen durch Ängste, welche durch die massiven Flüchtlingsströme in der europäischen Bevölkerung ausgelöst werden. Darum richtete Anton Rotzetter OFMCap (gest. 1. März 2016) seinen Blick auf zwei Bücher, die in der Diskussion um das Verhältnis von Staat und Religion von grundlegender Bedeutung sind.1

Zwei Stiftungen und eine Dissertation

Das eine Buch ist das Ergebnis zweier Veranstaltungen, welche die «Progress Foundation» und die «Stiftung Schweiz der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste» im Jahre 2014 in Schwarzenberg (Vorarlberg) und Zürich gemeinsam durchführten, und zeigt ihre Ziele. Die Stiftung «Progress» hat sich den Fortschritt auf die Fahne geschrieben und will der «Weiterentwicklung und Verbreitung freiheitlicher Ideen» dienen, geprägt von den «Prinzipien Wettbewerb, Privateigentum, Selbstverantwortung und Verantwortung».2 Während hier der Liberalismus die Feder führt, sind es bei der «Akademie» das humanistische Gedankengut und die Toleranz. Unter diesen Vorzeichen steht diese Publikation, die den Dokumentationsband herausgegeben haben. Vorangestellt ist ihm die Abdankungsrede für Dr. Marcel Studer, dem «Motor dieser Kooperation».

Das Buch dokumentiert die Referate von José Casanova, Harold James, Adrian Holderegger, Friedrich Wilhelm Graf, Wolfgang Schüssel, Necla Kelek, Jürg Baumgartner, Roland Vaubel, Michael Zöller, Gérard Bökenkamp, Marco Jorio und Brigitte Tag, ergänzt mit weiteren grundlegenden Fremdtexten.

Das andere Buch ist die «leicht überarbeitete Fassung» der Dissertation von Jonas Pavelka aus dem Jahre 2014.3 Sie behandelt das Spannungsfeld «Bürger und Christ», wie es auf eindrückliche Weise vom Staatsrechtler, Rechtsphilosoph und ehemaligen Richter des deutschen Bundesverfassungsgerichtes gesehen wird. Beide Bücher aus dem gleichen Jahr stellen den Diskussionsstand zu wesentlichen Aspekten des Rechtstaates und partiellen Auffassungen und Verhaltensweisen der Bürger dar. Einige Erkenntnisse sollen hervorgehoben werden.

Der säkulare Staat

Dass der heutige Staat «säkular» sein muss, ist als Konsens festzuhalten. Was bedeutet dieser schillernde Begriff? Der amerikanische Soziologieprofessor José Casanova gibt dazu eine Antwort4 und formuliert Grundsätze des «neuen globalen säkularen Zeitalters»:

1. Religionsfreiheit als unabdingbares persönliches Recht, aber auch als Pflicht, «die Wahrheit zu suchen, nach Glück zu streben und dem Gewissen zu folgen».

2. Die Pflicht des Staates, «im Namen der Religionsgleichheit gegenüber allen Religionen eine gewisse neutrale Distanz zu wahren (...) und religiöse Minderheiten vor der diskriminierenden Herrschaft der Mehrheit zu schützen». Er darf aber Religion in keiner Weise negativ beurteilen oder gar reglementieren.

3. Die Pflicht des Staates, die Vielfalt der Religionen als ein Gut zu betrachten. Er muss sich vom Prinzip leiten lassen, «alle Religionsgemeinschaften zu gegenseitiger Achtung und Anerkennung – und letztlich zum interreligiösen Dialog» aufzufordern. Für die Religionsgemeinschaften bedeutet eine solche Auffassung ein radikales Umdenken als ständiger Lernprozess, mit anderen religiösen Ideen zu koexistieren und ins Gespräch zu kommen. Casanovas Konzeption wird vom kanadischen Philosophen Charles Taylor bestätigt.5 Was jener mit einer «gewissen neutralen Distanz» bezeichnete, nimmt bei diesem die Gestalt einer «prinzipiengeleiteten Distanz» an, ein Begriff, der auf den indischen Politiktheoretiker Rajeev Bhargava zurückgeht. Im Übrigen überträgt Taylor die Ideale der Französischen Revolution auf die Religionsgemeinschaften, die in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zusammenleben müssen. Dabei sind diese Begriffe in ihrer konkreten Ausdeutung entwicklungsbedürftig und anpassungsfähig. Religionsgemeinschaften müssen sich deshalb einem demokratischen Prozess unterziehen, warum es auch Entwicklungsphasen in der Herausbildung eines modernen säkularen Staates gibt. Die Fixierung auf das Thema «Trennung von Kirche und Staat» ist als Fetischierung zu beklagen. Die offizielle Sprache des Staates wie Gesetze, Botschaften, Parlamentsprotokolle dürfen zwar keine spezifisch religiöse Ausdrucksweise aufweisen. «Der Staat darf weder christlich noch muslimisch noch jüdisch sein; aber ebenso wenig darf er marxistisch, kantianisch oder utilitaristisch sein».6 Das heisst aber nicht, dass unterhalb dieser Ebene nicht auch religiös vielfältig argumentiert werden darf. Die ge nannte Fetischierung zeigt sich oft in einer grundsätzlich feindlichen Haltung gegenüber Religionen ganz allgemein und gegenüber der christlichen Tradition im Besonderen oder in einem konfusen oder ausdrücklichen Empfinden, dass diese eine Bedrohung darstellen.

Interessant ist die These des Mannheimer Professors für Politische Ökonomie, Roland Vaubel, dass es gerade der säkulare Staat ist, der zur Existenz der religiösen Vielfalt führt.7 Der so ermöglichte Wettbewerb der Religionen und Konfessionen ist nach Michael Zöllner der Grund, warum diese eine Chance haben, sich zu profilieren und ihre Identität zeitgemäss und zukunftsorientiert zu finden. Er belegt diese Ansicht auf der Grundlage US-amerikanischer Erfahrungen.8 Einen anderen Seitenblick wagt der Potsdamer Historiker Gérard Bökenkam. Er zeigt das Dilemma auf, das in islamischen Staaten zwischen religiösen, oft fundamentalistischen und säkularen bzw. ökonomischen Konzeptionen besteht.9 Entweder sie folgen ökonomischen Zielen und unterhöhlen so fundamentalistische Auffassungen, oder sie orientieren sich an diesen und enden im Elend. Den Weg der Schweiz vom Staatskirchentum zur Partnerschaft von Kirche und Staat beschreibt auf eindrucksvolle Weise der Historiker Marco Jorio.10

Das Recht der Religion

Bereits die genannten Grundsätze des säkularen Staates gehen vom Recht und von der Pflicht der Bürger aus, nach Wahrheit zu suchen und nach Glück zu streben. Darin ist auch das Recht der Religion innerhalb des Staates begründet. Nach Taylor wird Religion oft als «mangelhafte Form der Vernunft» hingestellt. Auch die Vertreter der Säkularität müssen einen Lernprozess durchmachen. Selbst Persönlichkeiten, die der Religion eine gewisse positive Bedeutung zumessen, wie Rawls und Habermas11, meinen, dass die «blosse Vernunft» gegenüber der Erkenntnisweise der Religion zu bevorzugen sei. Dem hält Taylor entgegen: «All ihren Unterschieden zum Trotz scheinen sie beide der nichtreligiös geplagten Vernunft (der «blossen Vernunft») einen besonderen Rang einzuräumen, als wäre a) diese Vernunft imstande, gewisse moralisch-politische Fragen in einer Weise zu entscheiden, die jeden ehrlichen, klar denkenden Menschen mit Fug und Recht zufriedenstellen kann, und als müssten b) religiös fundierte Einsichten stets zweifelhaft bleiben und könnten letztlich nur Menschen überzeugen, die sich bereits die entsprechenden Dogmen zu eigen gemacht haben».12

So kann man mit «blosser Vernunft» Positionen behaupten wollen, die andere nicht zu überzeugen vermögen. Anderseits können geoffenbarte Überzeugungen eine gewisse allgemeine Plausibilität erreichen. Damit zeigt sich die Argumentation, die von einer angeblich autonomen Vernunft ausgeht, als «Aufklärungsmythos»13. So zentral und von bleibender Bedeutung die «Aufklärung» ist, es gibt auch eine Überhöhung der «blossen Vernunft», die glaubt, alles wäre mit einer allgemeinen Sprache einsichtig aufzuweisen und religiösen Positionen würde die Vernünftigkeit fehlen. Beides entspricht nicht der Wahrheit und geht von der Annahme aus, dass die Vernunft eine autonome Grösse ist. Dem ist aber nicht so. Auch die Vernunft ist eingebettet in Denkvoraussetzungen und Traditionen.

Jürgen Habermas, dessen Position eben kritisiert wurde, geht von einem lang andauernden historischen Prozess aus, der in der Übersetzung «sakraler» Inhalte in die säkulare Sprache besteht. Da man nicht weiss, ob dieser Prozess schon an sein Ende gekommen ist, «muss der liberale Staat den säkularen Bürgern nicht nur zumuten, religiöse Mitbürger, die ihnen in der politischen Öffentlichkeit begegnen, als Personen ernst zu nehmen. Er darf von ihnen sogar erwarten, dass sie nicht ausschliessen, in den artikulierten Inhalten religiöser Stellungnahmen und Äusserungen gegebenenfalls eigene verdrängte Intuitionen wiederzuerkennen – also potenzielle Wahrheitsgehalte, die sich in eine öffentliche, religiös ungebundene Argumentation einbringen lassen.»14

Der britische Historiker Harold James beantwortet die Frage «Braucht Europa Gott?» positiv.15 Er ist der Meinung, dass der «Säkularisierungsprozess» nicht nur die Religion untergräbt, sondern auch die eigenen Grundlagen zerstört. «Die politische Ordnung gerät dann in eine Krise, wenn sie ihre Aura des Heiligen verliert».16 Der Staat kann die transzendente Verankerung nicht aus sich heraus herstellen. Der Vollzug der Transzendenz in Kult, Caritas und verantworteter Konkurrenz ist notwendig.

Die Zürcher Professorin und Juristin Brigitte Tag lotet die Herausforderungen aus, denen der säkulare Rechtsstaat gegenübersteht, wenn die verschiedenen Aspekte der Religionsfreiheit realisiert werden sollen.17 Es gilt nicht nur den Frieden innerhalb der Weltanschauungen und Religionen, sondern auch die freie Religionsausübung selbst zu gewährleisten. Dabei stellen sich verschiedene Probleme ein, die rechtlich zu regeln sind: Beschneidung, Genitalverstümmelung, Schächten, Monogamie/ Polygamie und vieles andere sind delikate Bereiche, deren juristische Regelung eine grosse Herausforderung darstellt.

 

1 Gerhard Schwarz / Beat Sitter-Liver / Adrian Holderegger / Brigitte Tag, Religion, Liberalität und Rechtsstaat, Verlag Neue Zürcher Zeitung 2015. Vermerke beziehen sich vorwiegend auf dieses Buch.

2 ebd. 245

3 Jonas Pavelka, Bürger und Christ. Politische Ethik und christliches Menschenbild bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, Academic Press Fribourg/Herder Freiburg im Br. 2015, Studien zur Theologischen Ethik 143.

4 ebd. 19–25

5 ebd. 27–45

6 ebd. 39

7 ebd.163–182

8 ebd. 171–182

9 ebd. 183–185

10 ebd. 189–200

11 ebd. 47–52

12 ebd. 40

13 ebd. 41

14 ebd. 52

15 ebd. 55–64

16 ebd. 58

17 ebd. 211–223

Anton Rotzetter

Anton Rotzetter

Anton Rotzetter OFMCap (* 3. Januar 1939 in Basel; † 1. März 2016 in Fribourg) war ein Schweizer Kapuziner und Buchautor. Rotzetter war ein weithin bekannter Fachmann für franziskanisch und biblisch geprägte Spiritualität. Er forschte wissenschaftlich zu Franz von Assisi. Er hat über 70 Bücher verfasst und war in zahlreiche redaktionelle sowie schriftstellerische Tätigkeiten in verschiedenen Zeitschriften eingebunden. Er lebte zuletzt im Kapuzinerkloster Fribourg in der Schweiz.