Vertiefung des christlichen Glaubens – Veränderung kirchlicher Strukturen

Zur SKZ 16/2019 «Der Weg der Synodalität».

Vertiefung des christlichen Glaubens – Veränderung kirchlicher Strukturen 

Die Ausgabe der 16/2019 der Schweizerischen Kirchenzeitung «Der Weg der Synodalität» befasste sich eingehend mit Strukturen und Prozessen einer zukünftig stärkeren synodalen Kirche. Mit dem Ausruf «Papst Franziskus, erneuern wir gemeinsam unsere Kirche!» erschien vor mehreren Wochen ein in mehreren Schweizer Zeitungen publizierter Brief, unterzeichnet von Franziska Driessen-Reding, damals noch Präsidentin des Zürcher Synodalrates, und von Josef Annen, Generalvikar des Bistums Chur für die Kantone Zürich und Glarus. Der Ton des Briefes lässt an Dringlichkeit nichts zu wünschen übrig. So heisst es denn am Schluss des Briefes sehr deutlich: „Papst Franziskus, die Zeit des Zuwartens ist abgelaufen. Gemeinsam müssen wir handeln."

Der Brief zeugt von der grossen Sorge der Autorin und des Autors um das Leben und Überleben der römisch-katholischen Kirche nicht nur hier in der Schweiz. Er geht aus von den in den letzten Jahren aufgetauchten sexuellen Missbrauchsfällen und ihrer Vertuschung in zahlreichen Ländern durch die kirchlichen Instanzen und ruft dann auf zu einem lebensnahen Umgang mit der Sexualität, zur Gewaltenteilung und Mitverantwortung aller in der Kirche, zu mehr Mut und Kreativität.

Ich nehme an, dass ein ganz grosser Teil der Gläubigen des Bistums Chur und der übrigen Schweizer Bistümer diesen Brief mit grosser Dankbarkeit zur Kenntnis genommen haben. Als Seelsorger des Bistums Chur, der seine Tätigkeit zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils aufgenommen hat, gehöre auch ich zu diesen dankbaren Lesern des Briefes. Endlich wird hier einmal nicht bloss von Privatleuten in Leserbriefen, sondern von offizieller Stelle zu einer grundlegenden Reform aufgerufen, auf die viele von uns Gläubigen und Seelsorgern seit Jahrzehnten gewartet haben. Man wird an die Zeit vor der Reformation erinnert, in der dieser Ruf nach Reformen ebenso dringlich erging, und von den Verantwortlichen in Rom nicht beachtet wurde, was in der Folge zur Kirchenspaltung führte. Hoffen wir, dass der Ruf diesmal gehört und nicht verschlafen wird!

Selbstverständlich möchte ich hier nicht alle einzelnen Bereiche aufführen, die nach einer Reform rufen. Vielmehr möchte ich grundsätzlich sagen, dass wir Reformen im Leben unserer Pfarreien brauchen, im Leben der Diözesen, im Leben der Gesamtkirche und auch im Leben der einzelnen Gläubigen.

Die Erneuerung muss grundsätzlich auf zwei verschiedenen Ebenen geschehen: einerseits in der Vertiefung des christlichen Glaubens im Leben des einzelnen  Gläubigen und anderseits in der grundlegenden Veränderung der kirchlichen Strukturen in den Bistümern und in der Gesamtkirche. Ich meine damit, dass es einerseits um eine Vertiefung des religiösen Lebens, eine Vertiefung unseres Glaubens gehen muss. Dann braucht es aber ebenso dringlich eine Reform der Strukturen, und hier werde ich für eine Kollegialität oder Synodalität auf allen Ebenen der Kirche plädieren, was konsequenterweise auch heisst: weg von jenem überspitzten Zentralismus, den uns erst das Erste Vatikanische Konzil bescherte, hin zu mehr Regionalisierung, wie es das Zweite Vatikanische Konzil mindestens ins Auge fasste, wenn es von einer Aufwertung des Bischofsamtes sprach.

Entsprechend möchte ich Verschiedenes anmahnen: Das gläubige Leben des Einzelnen nährt sich in erster Linie vom täglichen Gebet, vom Gebet in der Familie, von der Schriftlesung und von der Teilnahme an den Gottesdiensten der Gemeinde, in der er oder sie lebt. Glauben heisst nicht in erster Linie, eine bestimmte Anzahl von Dogmen, welche die Theologen im Laufe der Kirchengeschichte zur Verdeutlichung biblischer Befunde aufgestellt haben, anzunehmen, „für wahr zu halten“, sondern glauben heisst: Sich für Gott und sein Wirken immer wieder neu zu öffnen und aus dieser persönlichen Begegnung mit Gott die Konsequenzen zu ziehen für ein Leben, dass im Geiste Jesu da ist für die Mitmenschen in Nah und Fern. Im Gegensatz zu den antiken und archaischen Religionen ist dieser Glaube zutiefst eine ganz persönliche Entscheidung. Die Teilnahme am Leben einer Gemeinde, an ihrem Gottesdienst und an weiteren Veranstaltungen wird mir dabei eine wertvolle Hilfe sein. Soviel zur inneren Erneuerung der Kirche.

Über ihre äussere oder strukturelle Äusserung wurde schon sehr viel geschrieben und gesprochen. Ich meine, der Hauptpunkt wäre der generelle Abschied von allen Strukturen der Macht, seien sie gesamtkirchlich, diözesan oder auch gemeindlich. Alle, die in der Kirche einen Dienst ausüben, müssten sich immer wieder an das Wort Jesu erinnern, das wir bei Mt 24, 25-27: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Grossen ihre Macht gegen sie einsetzen. Unter euch soll es nicht so sein, sondern: Wer unter euch gross sein will, soll euer Diener sein, und wer unter euch der Erste sein will, sei euer Knecht!“

Die Kirche – ich spreche hier von der römisch-katholischen Kirche – müsste sich, den heutigen gesellschaftlichen Tendenzen entsprechend, auf allen Ebenen ihrer synodalen Strukturen neu bewusst werden. Die Exegese und die Kirchengeschichte haben uns ja längst darüber belehrt, dass Jesus von Nazareth, auf den sich alle christlichen Kirchen berufen, keine Kirche mit bestimmten Strukturen ins Leben gerufen hat. Er hat durch seine Worte und sein Handeln eine Bewegung ausgelöst, hat Jüngerinnen und Jünger um sich versammelt, die nach Ostern und Pfingsten seine Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft weiter trugen. Zuerst entstanden in Palästina, dann im übrigen Mittelmehrraum auf diese Weise Hausgemeinden und Stadtgemeinden, in denen die Christinnen und Christen versuchten, ihr Leben im Anschluss an die Botschaft Jesu zu gestalten, oft im Gegensatz zu den Anhängern der damals noch weit in der Überzahl befindlichen antiken Bevölkerung. Diese oft noch zahlenmässig kleinen christlichen Zellen wurden von einem Einzelnen (episkopos) oder von Mehreren (Presbyteroi) geleitet, denen mit der Zeit noch weitere Dienste zu Seite standen.

Also synodale, zur Mitverantwortung aufrufende Strukturen auf allen Ebenen der Kirche, radikale Abkehr von den monarchischen Strukturen, welche die Kirche seit dem unglücklichen Ersten Vatikanischen Konzil der heutigen Welt und den heutigen Menschen immer mehr entfremdet haben. Die Pfarreiseelsorger und Pfarreiseelsorgerinnen müssen ihre Pfarreien zusammen mit den Pfarreiräten leiten, die Bischöfe zusammen mit den Priesterräten und Seelsorgeräten und ev. weiteren Räten, der Bischof von Rom zusammen mit den Präsidenten der verschiedenen Bischofskonferenzen. Auf die gleiche synodale Art hat auch die Wahl der Verantwortlichen auf allen Stufen der Kirche zu geschehen.

Aus diesen synodalen Strukturen ergibt sich von selbst, dass die Kirche eine viel mehr in den einzelnen Regionen verankerte Gemeinschaft wird, da werden nicht mehr von einer Zentrale aus Befehle und Gesetze erlassen, sondern die verschiedenen Bischofskonferenzen der einzelnen Sprachregionen erhalten endlich die Verantwortung und die Kompetenzen, welche es ihnen gestattet, ihren Diözesen nach den Bedürfnissen ihrer Gläubigen zu dienen.

Auf doppelter Ebene also müsste die Kirche erneuert werden, auf der inneren geistigen und auf der äusseren organisatorischen oder strukturellen. Was ich hier, kurz zusammengefasst, geäussert habe, das haben kompetentere Leute schon längst ausführlicher in Wort und Schrift geäussert. Aber, und damit kehre ich zum eingangs erwähnten Schreiben zurück: die Zeit des Nachdenkens und Überlegens ist jetzt vorbei, jetzt muss gehandelt werden! Aber wie Frau Faber in ihrem Beitrag in der SKZ schreibt, liegt hier der neuralgische Punkt.

Sozusagen als Anhang möchte ich noch etwas anfügen, was mir wichtig scheint. Die Kirche in unseren Breitengraden erscheint den Menschen vorwiegend als Gottesdienst-Organisation, als Organisation, die Gottesdienste anbietet. Das ist eine starke Verengung, wenn wir die christlichen Gemeinden des Anfangs betrachten und wenn wir unseren Blick weiten hin zu Ländern, wo die Gemeinden weit mehr sind als das Genannte. Ursprünglich sollte eine christliche Gemeinde ja eine Lebensgemeinschaft sein, eine Gemeinschaft, in der man miteinander das Leben teilt und versucht, es gemäss dem Leben des Jesus von Nazareth zu gestalten. In Zeiten der Kirchengeschichte, in denen dieser ursprüngliche Entwurf immer mehr abhanden kam, haben die Orden wenigstens dieses Ideal des gemeinsamen Lebens zu verwirklichen versucht. Selbstverständlich ist es mir bewusst, dass man geschichtliche Realitäten nicht einfach über Jahrhunderte hinweg kopieren kann, man müsste sich also überlegen, wie eine solche pfarreiliche Lebensgemeinschaft in unseren Breitengraden aussehen könnte. Das Ideal des Ursprungs müssten wir jedoch im Auge behalten!

Albert Mantel, Pfarrer i.R., Winterthur