Das Kunstmuseum Luzern zeigt aktuell die erste Retrospektive des weltberühmten Künstlers David Hockney1 in der Schweiz. Die Werkgruppe «Moving Focus» gibt der Ausstellung ihren Namen. Der Künstler beschäftigt sich in seinem Werk immer wieder damit, wie sich mehrere Perspektiven in einem Werk vereinen lassen. Nach Hockney entspricht die Multiperspektive unserer tatsächlichen Wahrnehmung, die von verschiedenen Blickwinkeln, aber auch von Emotionen und Gefühlen geprägt ist. Mich fasziniert es, wie Hockney uns durch sein Werk eindrücklich auffordert und ermutigt, gedanklich beweglich zu bleiben und unsere Wahrnehmung bewusst zu reflektieren.
«Moving Focus» zieht sich durch sein gesamtes Leben und Werk. Der 85-jährige Hockney hat sich künstlerisch immer wieder neu erfunden und ist sich dabei anhaltend treu geblieben. Was mich an David Hockney ebenfalls stark beeindruckt, ist seine Freude am Leben und an der Schönheit der Welt. Er ist ein optimistischer Künstler, der sich mitten in globalen Krisen neugierig dem Frühling zuwendet und eine Zuversicht ausstrahlt.
Wie gelingt es uns Menschen in der sich stets verändernden und bedrohten Welt, fähig zu bleiben, wechselnde Perspektiven einzunehmen und in neuen Begebenheiten mögliche Chancen zu erkennen?
Als Christinnen und Christen auf dem synodalen Weg sind wir herausgefordert, in Bewegung zu bleiben, einen anderen Blick zu wagen und verschiedene Perspektiven einzunehmen. Es gilt «Synodalität», das Prinzip des «gemeinsamen Gehens», weiterzuentwickeln, hoffnungsvoll zu erproben, einzuüben und zu leben. «Synodalität» ist zugleich eine geistliche Haltung und eine Praxis von Teilhabe.
Vielleicht kann uns dabei die Philosophie der Aufmerksamkeit von Simone Weil (1909−1943) Hinweis sein. «Jedes Wesen ist ein stummer Schrei danach, anders gelesen zu werden.» Dieser Satz stammt von dieser französischen Philosophin, die in ihrem kurzen Leben radikal nach Wahrheit suchte und sozialpolitisches Aufsehen erregte.
Sie hat in ihren Schriften den Begriff und die Praxis der Aufmerksamkeit, «Attention», dargelegt. Eng dazu gehört die Haltung des Wartens, der «Attente». Im Wesentlichen geht es dabei um einen passiven Akt, der keineswegs Gleichgültigkeit bedeutet. Es ist eine Haltung des Geistes, die nicht nimmt und nicht will, sondern in Erwartung und Offenheit annimmt. Simone Weil fordert diese Haltung der «liebenden Aufmerksamkeit» in Freundschaft und Mitmenschlichkeit, in Schule und Studium, in Gebet und Politik. «Warten ist handelnde Passivität des Denkens. Warten ist Verwandeln von Zeit in Ewigkeit», so schreibt die Philosophin.
So bedeutet Menschsein wohl in weiten Teilen, Wirklichkeiten immer wieder anders wahrzunehmen und Wahrheit zu suchen, nicht um sie zu finden, sondern um sie zu erwarten. Diese Form der «liebenden Aufmerksamkeit» kann uns helfen, innezuhalten, und uns einladen, zu verweilen. «Denn», so der Theologe und Poet Andreas Knapp, «die Sichtweise des Glaubens reicht über das Nebelfeld des Verstandes hinaus, bis in die innersten Weltenräume, wo Gott leise wohnt.»
Brigitte Glur-Schüpfer