«Der Messias kann jederzeit kommen»

Diese Glaubensüberzeugung ist vor allem in der jüdischen Orthodoxie sehr verbreitet und lebendig. Über die Messiashoffnung und die messianische Zeit sprach die SKZ mit Simon Erlanger.

Dr. Simon Erlanger ist Historiker und Journalist. Nach Studien in Basel und Jerusalem promovierte er an der Universität Basel. Er ist Lehr- und Forschungsbeauftragter für jüdische Studien und jüdische Geschichte am Institut für Jüdisch-Christliche Forschung der Universität Luzern.

 

SKZ: Alfred Bodenheimer veröffentlichte 2016 seinen dritten Rabbi -Klein- Krimi mit dem Titel «Der Messias kommt nicht».1  Im Frühling 2022 publizierten Walter Homolka, Juni Hoppe und Daniel Krochmalnik ein Buch mit demselben Titel.2 Herr Erlanger, inwieweit ist das Ausbleiben des Messias heute brisant im Judentum?

Simon Erlanger: Die Messiaserwartung ist im Judentum sehr zentral. Wir erwarten den Messias. Er kann jederzeit kommen. In dieser Erwartungshaltung und Ausrichtung leben wir. Die Glaubensüberzeugung, dass der Messias jederzeit kommen kann, ist sehr verbreitet, vor allem in der jüdischen Orthodoxie – beispielsweise in der chassidischen Bewegung. Chassidische Bewegungen sind messianisch orientiert. Sie zeichnen sich aus durch eine explizite, sehr lebendige, messianische Erwartungshaltung. Sie sind messianisch im klassischen Sinn, das heisst, sie hoffen auf einen Messias in der Geschichte, welcher die Welt erlöst. Diese Hoffnung ist bei vielen orthodoxen Bewegungen im Judentum sehr konkret. So betrachten Teile der Bewegung der Lubawitscher Chassidim ihren verstorbenen geistigen Führer Menachem Mendel Schneerson (1902–1994) als personifizierten Messias. Hingegen ist die Erwartung einer messianischen Person bei säkularisierten Jüdinnen und Juden in Europa und Nordamerika wenig ausgeprägt. Sie erwarten eine messianische Zeit.

Sie sprachen von der Erwartung einer messianischen Zeit. Was ist darunter zu verstehen?
Schon beim grossen mittelalterlichen jüdischen Philosophen, Rechtsgelehrten und Arzt Moses Maimonides (1135–1204) finden Sie erstmals die Rede vom Messianismus als einem historischen Prozess.3 Die messianische Zeit ist ein geschichtlicher Prozess der Erlösung. Dazu gehört für Maimonides die Herrschaft des göttlichen Gesetzes im wiedererrichteten Reich. In seinem Buch des Denkens heisst es: «Alle Gesetze treten wieder in Kraft, wie sie vordem waren, man bringt Opfer dar und übt Erlass- und Jobeljahre aus, ganz nach ihrem in der Tora ausgesprochenem Gebot» (Hilchot Melachim 11,1). Weiter sind Teil der messianischen Zeit der Wiederaufbau des Tempels und die Einsammlung des jüdischen Volkes aus der Diaspora. Für Maimonides ist mit der messianischen Zeit wesentlich der Messias verbunden. Er glaubte an den Messias und verpflichtete die Juden, an den Messias zu glauben. Er schrieb im ersten Glaubensartikel: «Jeder, der nicht auf ihn vertraut oder seine Ankunft nicht erwartet, verleugnet nicht bloss die übrigen Propheten, sondern die Tora und unseren Meister Mosche» (Hilchot Melachim 11,1). Den Gedanken der messianischen Zeit hat der Zionismus aufgegriffen.

Erläutern Sie uns, in welchem Zusammenhang der Zionismus und die Messiaserwartung stehen.
Das Zurückkehren ins hl. Land ist immer messianisch geprägt. Das Zurückfinden ins hl. Land gibt es nicht erst seit dem 19./20. Jahrhundert mit dem Zionismus. Es gab schon im 16. Jahrhundert Rückkehrbewegungen. Beispielsweise motivierte Dona Gracia Mendes, eine zum Christentum zwangskonvertierte und dann zum jüdischen Glauben zurückgekehrte Frau aus dem portugiesischen Hochadel, Juden nach ihrer Flucht vor der Inquisition, sich im hl. Land anzusiedeln. Ziel war ein autonomes jüdisches Staatswesen innerhalb des osmanischen Reiches. Sie schuf in Safed, im Norden Galiläas, ein jüdisches Gemeinwesen. Um 1550 lebten da annähernd 10'000 Jüdinnen und Juden. Neu war, dass sie mit der Rückkehr ins hl. Land angefangen haben, auch wenn der Messias noch nicht gekommen war. Nach den klassischen Messiasvorstellungen führt der Messias das verstreute Volk Israel nach Jerusalem zurück. Der politische Zionismus des 19./20. Jahrhunderts ist eine säkulare Bewegung. Er ist eine Antwort auf die gescheiterte jüdische Emanzipation in den Ländern Europas und die Judenverfolgungen in Osteuropa. Von 1881 bis 1924 flohen rund 2,5 Mio. Juden aus Osteuropa. Gleichzeitig spielt im Zionismus das messianische Element eine Rolle. Theodor Herzl (1860–1904) selbst wurde von vielen als Messias und auch als Prophet und Visionär inszeniert. So wurde er am Bahnhof von Wilna von den jüdischen Massen als Messias empfangen. Laut dem ersten Oberrabbiner des britischen Mandats Palästina, Taw Abraham Isaak Kook, (1865–1935) war Herzl gar der «Maschiach Ben Josef», das heisst ein Vorläufer des eigentlichen Messias. Der Messias selbst muss aus der davidischen Linie stammen. Der religiöse Zionismus wiederum ist eindeutig messianisch ausgerichtet. Entweder kommt der Messias als Person oder es kommt die messianische Zeit als historischer Prozess. Der Staat Israel gilt als «Atchalta di Ge’ula», als erster Schritt zur messianischen Erlösung.

Über die Abstammungslinie hinaus, woran können Menschen den Messias erkennen?
Der Messias ist ein weltlicher und religiöser Herrscher. Er ist der gerechte König. Er eröffnet eine Periode von Frieden und Gerechtigkeit auf dieser Welt. Schwerter werden zu Pflugscharen umgeschmiedet, um ein Wort aus Jes 2,4 zu brauchen. Der Messias sammelt das in der Diaspora verstreute Volk Israel und führt es zurück ins hl. Land. Der Messias bringt Erlösung. Man erkennt jedoch den Messias erst nachher, dass er es gewesen ist. Es gab in der jüdischen Geschichte durch alle Jahrhunderte sogenannte falsche Messiasse. Es beginnt mit Theudas, der zur selben Zeit wie Jesus von Nazareth lebte. Auch Jesus wird vom Judentum nicht als Messias anerkannt. Simon bar Kochba – Sohn des Sterns – galt auch als Messias. Nach der katastrophalen Niederlage im zweiten jüdisch-römischen Krieg wurde er in der rabbinischen Literatur umbenannt zu Simon Bar Koseba – Lügensohn. Es folgte eine Reihe weiterer Messiasse. Die Erwartung eines Messias ist sehr hoch, ihn zu erkennen äusserst schwierig. Nach der klassischen Legende kommt der Messias vom Ölberg und geht durch das Tor auf den Tempelberg. Hier wird er sich offenbaren. Muslimische Herrscher sollen im 16. Jahrhundert – lange vor dem Nahostkonflikt – präventiv das Tor zum Tempelberg zugemauert und davor einen Friedhof angelegt haben. Letzteres deshalb, weil sie davon ausgingen, dass der Messias ein Priester sei. Als Priester darf er den Friedhof nicht betreten, und wenn doch, wird er unrein und kann daher nicht sein Amt als Messias antreten. Sie haben ein doppeltes Hindernis für das Kommen des Messias gebaut. Wichtig scheint mir, dass wir zwischen dem Kommen des Messias und der Endzeit unterscheiden. Das ist nicht dasselbe. In der Endzeit wird die leibliche Auferstehung stattfinden. Gott wird sein Reich aufrichten. Die mit dem Kommen des Messias anbrechende Zeit der Erlösung findet in unserer Welt statt, die auch nach seinem Erscheinen weitergeht. Aus jüdischer Sicht liegt das Grundproblem des Christentums genau darin, dass die reale Welt auch nach dem Kommen des Messias immer noch unerlöst ist.

Inwieweit gibt es innerjüdische Kritik am religiösen Zionismus?
Ultraorthodoxe Juden üben Kritik am klassischen Zionismus, dass er nicht auf das Kommen des Messias wartet. Gleichzeitig kehren sie in grosser Zahl ins Land Israel zurück. De facto vollziehen sie den ersten Schritt der Erlösung – die Rückkehr nach Zion. Theoretisch warten sie auf die Person des Messias. Säkulare Israelis wiederum distanzieren sich von der messianischen Überhöhung des Staates und seiner Institutionen. Viele säkulare Juden haben aber aus dem Messianismus das absolute Commitment für eine Welt des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit übernommen. Damit stimmen sie hinwiederum mit den Vorstellungen der religiös Praktizierenden überein. Insgesamt jedoch ist der Messianismus – wie schon der berühmte Historiker und Erforscher jüdischer Mystik Gerachom Scholem feststellte – sehr zentral, ob als Erwartung einer Person oder als Erwartung der messianischen Zeit. Essenzielles Element dabei ist das Einsammeln des verstreuten Volkes und die Rückkehr auf Zion. Und aus der Sicht der religiösen Zionisten hat dieser Prozess tatsächlich schon begonnen. Gott führt sein Volk zurück ins hl. Land. Fast die Hälfte aller Jüdinnen und Juden weltweit lebt heute in Israel. Das war seit der Zeit des ersten Tempels nicht mehr der Fall. In Nordafrika und im Orient gibt es nur noch wenige und kleine jüdische Gemeinwesen und auch Europa leert sich.

Ich will den Blick noch kurz auf die Liturgie richten. Wie kommt die Messiaserwartung im Gottesdienst zur Sprache?
Seit dem 16. Jahrhundert beten wir am Freitagabend das traditionelle Schabbatlied «Lecha Doi». Es besingt den Empfang des Schabbats, der Braut Schabbat. Im Lief heisst es: «Erwache, erhebe Dich aus dem Staub, trage die Kleider Deiner Herrlichkeit.» Das ist eine messianische Stelle. Das Gebet wurde vom Kabbalisten Rabbi Schlomo Ha-Levi Alkabetz in Safed (1505–1576) geschrieben. Seine Popularität verdankt das Lied der messianischen Erwartung im Kontext des Wirkens von Dona Gracia. Es gehört heute zu den wichtigsten Gebeten in der Synagoge.

Welche Impulse gibt der Messianismus der Welt über das Judentum hinaus?
Die Idee einer gerechten, harmonischen und friedlichen Welt, im Einklang mit Mensch und Natur.

Interview: Maria Hässig

 

1 Bodenheimer, Alfred, Der Messias kommt nicht. Rabbi Kleins dritter Fall, München 2016.

2 Homolka, Walter / Hoppe, Juni / Krochmalnik, Daniel, Der Messias kommt nicht. Abschied vom jüdischen Erlöser, Freiburg i. Br. 2022.

3 Zur Position Maimonides ausführlich auch unter Ebd., 132–158.