Verschiedene Hypothesen unter der Lupe

Die Zwei-Quellen-Theorie als beste Lösung für das synoptische Problem steht auf dem Prüfstand. Zur Diskussion stehen weitere Modelle. Wie plausibel erklären diese die Entstehung der Evangelien?

Die Grafiken bilden die Evangelienentstehung nach der Zwei-Quellen-Hypothese und der «Mark-without Q»-Hypothese ab. (Grafik: Hildegard Scherer / Brunner Medien AG)

 

Wer die Evangelien nach Mt, Mk und Lk* nebeneinanderstellt, kann feststellen, dass ihr griechischer Wortlaut teils auffällig stark übereinstimmt. Gleichzeitig sind Texte in der gleichen Reihenfolge angeordnet, und beides wesentlich stärker als im Vergleich mit dem Johannesevangelium. Dennoch bieten die Evangelien auch Unterschiede in Wortlaut, Reihenfolge und vor allem Inhalten.

Die Forschung hat verschiedene Thesen hervorgebracht, woher diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede der synoptischen Evangelien rühren könnten.1 Zwar gibt es Spärliches dazu in den Quellen der Alten Kirche, doch wie belastbar sind diese Informationen? Und vor allem: Welche Lösungen sind am plausibelsten, wenn man die Texte selbst auswertet?

Fragen an die Zwei-Quellen-Theorie

Ein Lösungsvorschlag galt in den deutschsprachigen Lehrbüchern der letzten Jahrzehnte meist als «allgemein anerkannt» und als «beste Lösung», um die Facetten des Textbefundes am schlüssigsten zu erklären.2 Bekannt wurde dieser Lösungsvorschlag als «Zwei-Quellen-Theorie»: Mk, das kürzeste Evangelium, sei zuerst entstanden. Mt und Lk hätten das Mk jeweils unabhängig voneinander als Quelle benutzt (erste Quelle) und ausserdem noch weitere eigene Traditionen («Sondergut»). Mt und Lk zeigen aber auch starke Gemeinsamkeiten bei gleichzeitigen Unterschieden in Stoffen, die nicht aus dem Mk stammen. In diesen Stoffen, v. a. Sprüche von Jesus oder Redestoff, lasse sich ein gewisses Eigenprofil erkennen, sie schienen untereinander vernetzt zu sein. Dies sei auf eine zweite Quelle (genannt «Q» oder «Spruchquelle») neben Mk zurückzuführen, die Mt und Lk ebenfalls unabhängig voneinander benutzten.

Für dieses Modell sprechen eine ganze Reihe von Textbeobachtungen. Doch hat es auch Probleme: Anders als beim Mk liegt kein Manuskript von dieser vermeintlichen zweiten Quelle Q vor. Sie wird auch in anderen antiken Schriften nicht als solche erwähnt. Oder: Auch im Mk-Stoff stimmen Mt und Lk bisweilen gegen Mk überein. Wie ist das zu erklären, wenn beide das Mk unabhängig voneinander verwendeten? Sind spätere Abschriften die Ursache, zufällige identische Stilverbesserungen, oder hatten die späteren Evangelisten eine Version des Mk vor sich, welche die Zeit nicht überdauert hat?

Neben den Optimismus, mit der Zwei-Quellen-Theorie die Lösung des synoptischen Problems greifbar zu machen, treten Stimmen, die zur Vorsicht mahnen. Beispielsweise lässt sich der wirkliche Umfang dieser rekonstruierten Quelle nicht bestimmen. Lk und Mt haben wahrscheinlich nicht alles aus ihr übernommen, oder nur eines der beiden Evangelien enthält den Stoff, das andere nicht. Ebenso gibt es Texte, die sehr stark übereinstimmen, und andere, die nur lose verbunden sind. Gehörten sie zur gleichen Quelle?

Aussagen, in Q wäre das eine oder andere theologische Thema wie die Kreuzigung Jesu oder die Auferweckung nicht enthalten und daher sei die Theologie speziell, sind daher problematisch. Es lässt sich nicht überprüfen, ob entsprechende Texte vielleicht von Lk und Mt ausgelassen wurden. Die Gegenprobe wurde in der Forschung schon eröffnet: Wer versucht, das Mk als die erste gemeinsame Quelle nur aus Lk und Mt zu rekonstruieren, kommt u. U. zu anderen Ergebnissen als diejenigen, die das vorliegende Mk direkt befragen.

Zudem ist auch die Frage nach dem Wortlaut der Quelle Q besonders dort strittig, wo Lk und Mt trotz einiger Übereinstimmung doch bei Wörtern oder Satzteilen voneinander abweichen. Die bisherigen Rekonstruktionen wogen ab, ob der lk- oder der mt-Wortlaut wohl der Quelle entspricht. Doch was, wenn beide ihre Vorlage verändert haben? So entstehen Forderungen, auf eine wörtliche Textrekonstruktion zu verzichten und sich nur auf allgemeine Inhalte zu beziehen. Doch wieviel Wortlaut braucht es, um solche Inhalte im Text zu erkennen?

Beim synoptischen Problem lässt sich schwer anders als mit bestimmten Annahmen arbeiten. Doch ist Vorsicht angezeigt, die Annahmen nicht zu hoch aufeinanderzubauen. Die Frage, wie tragfähig Erkenntnisse über die vermeintliche Quelle Q sind, begleitet die exegetische Forschung allemal. Der Aussagewert ist am höchsten, wenn die wörtlichen Übereinstimmungen im Q-Stoff zwar ausgewertet, aber als unvollständiges «critical minimum» betrachtet werden, das auf seine Grundstrukturen hin untersucht werden kann.

«Mark without Q»-Hypothese im Gespräch

Wer heute mit der Zwei-Quellen-Hypothese arbeitet, muss diese Wahl vielleicht dringender begründen als noch vor einigen Jahrzehnten. Zudem gilt es, nach Pro- und Contra-Argumenten zu suchen, die über die längst ausgetauschten hinausgehen.

Während die exegetischen Lehrbücher bisher die Alternativen zur Zwei-Quellen-Hypothese ggf. kurz behandelten, braucht es hier inzwischen mehr Raum. So ist Auseinandersetzung geboten mit einem Modell, das eine gewichtige Grundannahme der Zwei-Quellen-Hypothese teilt, dass nämlich Mk das älteste Evangelium sei und Mt und Lk es benutzt hätten. Auf dieser Grundlage denkt die «Mark without Q»-Hypothese (nach einem wichtigen Vertreter auch Farrer-Hypothese genannt) weiter. Doch vermeidet sie es, auf die nur rekonstruierte Quelle Q zurückzugreifen. Nach dem «Mark without Q»-Modell hätte Lk nämlich Mt gekannt und den gemeinsamen Stoff, der über Mk hinausgeht, direkt von dort übernommen – nicht aus einer zweiten Quelle. Doch weshalb verteilt sich bei Lk dann z. B. der Stoff der Bergpredigt in seinem Evangelium, wo er bei Mt en bloc steht? Oder warum übernimmt das Lk nicht wesentliche Änderungen des Mt gegenüber dessen Mk-Vorlage? Der «Mark without Q»-Hypothese zufolge hätte Lk das Gerüst des Mk übernommen. Die Überhänge des Mt gegenüber Mk seien identifiziert und dann in seinem Evangelium neu platziert worden. Nun braucht es zwar keine hypothetische Quelle Q mehr, doch stellen sich auch bei diesem Modell Fragen: Ist es plausibel, dass ein Autor des Lk aus Mt den Stoff herausgefiltert hat, der nicht in Mk steht, und dafür eigens neue Zusammenhänge gesucht hat? Oder: Woher stammen die Inhalte, die Mt über Mk hinaus in das Evangelium aufnimmt?

Auch wenn die «Mark without Q»-Hypothese im Moment prominent platziert ist, kann das Modell der gegenseitigen Benutzung der Evangelien noch in anderen Reihenfolgen durchgespielt werden. Mk sei das früheste Evangelium, Lk hätte es benutzt und Mt dann beide Evangelien vor sich gehabt. Oder: Mt sei das erste, Lk hätte es benutzt und dann hätte Mk aus beiden gekürzt.

Weiteres Modell: Mündliche Tradierung

Neben solchen sog. «Benutzungshypothesen», die von schriftlichen Dokumenten ausgehen, wird auch ein anderes Modell intensiver beforscht, das die mündliche Überlieferung stark gewichtet. Dafür werden Erkenntnisse aus der Gedächtnispsychologie und der Oral Poetry herangezogen. Nach A. Baum3  z. B. erscheint es damit vorstellbar, Textmengen wie die der Evangelien vom mündlichen Vortrag aus auswendig zu lernen, zu behalten und wiederzugeben. Die für solche mündliche Weitergabe typischen Variationen im Text könnten den synoptischen Befund erklären. Für Baum scheint es deswegen plausibel, dass Mk, Mt und Lk jeweils Zugang zu einem mündlichen Urevangelium hatten, und dass Mt und Lk auch den darüber hinausgehenden gemeinsamen Stoff aus einer mündlichen Quelle geschöpft hätten. Abgesehen vom Überlieferungsmedium deckt sich dies mit dem Zwei-Quellen-Modell. Doch setzt dieses Modell voraus, dass das Urevangelium bzw. die Redetradition bis zur Niederschrift in den Evangelien in einer bis in den Wortlaut hinein festen griechischen Übersetzung stabil weitergegeben worden seien. Wieso hätte man so Wichtiges aber nicht aufschreiben sollen?

Was nachvollziehbarer und plausibler ist

Der Durchgang durch die Lösungsversuche für die synoptische Frage zeigt: Die Entscheidungen beruhen auf Abwägung. Theoretisch möglich ist sehr vieles, denn auch die Trägergruppen bzw. Autorinnen und Autoren der Evangelien sind freie und kreative Menschen. Sie geben keine Rechenschaft, wie oder warum sie so oder anders auswählen oder formulieren. So bleibt nur die Einschätzung, was angesichts des gesamten Textbefundes nachvollziehbar erscheint. Und so kommt es auch zu Lösungsvorschlägen, die über die Benutzungs- und Traditionshypothesen hinausgehen. Dabei steht es im jeweiligen Ermessen, was man sich so oder anders besser erklären könnte.

Ob ein synoptischer Lösungsvorschlag an Fahrt gewinnt, hängt auch davon ab, wie stark er auffällt, ob er z. B. in Lehrbüchern oder Fachliteratur diskutiert wird. Darüber entscheiden Autorinnen und Autoren sowie Herausgeberinnen und Herausgeber mit, die u. U. selbst eine Präferenz haben. Ein Modell kann sich nur dann behaupten, wenn eine Vielzahl von Personen es als plausibel und gut begründet einschätzt. Doch kann sich aus der breiten Anerkennung auch eine Eigendynamik entwickeln: weil von der Mehrzahl der Forschenden anerkannt, sei die These gut. Diese Begründungsstruktur ist problematisch, denn sie erzeugt Anpassungsdruck. Gerade angesichts der sozialen Medien sind solche Mehrheitsverhältnisse zudem nicht nachvollziehbar, und sie können aus unterschiedlichsten Gründen kippen.4 Deshalb können nur die umfassend am Text aufgezeigten Begründungen überzeugen oder auch nicht. Allerdings ist es auch zumindest ernstzunehmen, wenn sich Forscherinnen und Forscher aus sachlichen Gründen nicht in grösserer Zahl oder nicht über die jeweilige wissenschaftliche Schule hinaus auf einen Vorschlag einlassen. Gerade im Bereich der synoptischen Frage ist bei alledem die Reflexion angezeigt, unter welchen theologischen, kulturellen oder persönlichen Umständen die Modelle gebraucht werden und welchen Interessen sie entgegenkommen.5

Fragen liesse sich schliesslich noch ganz grundsätzlich: Wozu diese ganze Hypothesenbildung mit ihren minutiösen Textstudien? Sollte man nicht den Patt festhalten, dass für eine klare Lösung nicht ausreichend Daten vorhanden sind? Genügt es nicht, die kanonischen Texte in ihrer Vielfalt wahrzunehmen? Ist die synoptische Frage erst einmal im Raum, wird sie schon allein aus wissenschaftlichem Interesse weiter bestehen. Theologisch ist es angemessen, sich möglichst gute Rechenschaft über so wichtige Quellen wie die Evangelien zu geben. Auch für die Frage, wie sich die Jesustraditionen bis hin zu den Evangelien entwickelt haben, ist ein solcher Befund notwendig. Doch besteht auch die Möglichkeit, sich der Hypothesen möglichst zu enthalten und nur mit den Endtexten der Evangelien zu arbeiten. Allein im Vergleich schärft sich deren Profil, auch wenn nicht zwingend eine Abhängigkeit behauptet wird. Das ist die sichere Seite, und sie sorgt für wertvolle Erkenntnisse. Dennoch, auch das Rätselhafte hat seinen Reiz und die historische Frage lässt sich nicht umgehen. Nur muss deutlich bleiben, was sich mit welcher (Un-)sicherheit feststellen lässt.

Hildegard Scherer

 

 

* Im Text werden die gängigen Abkürzungen für die Evangelien bzw. ihre Autoren gebraucht: Mk für Markus; Mt für Matthäus, Lk für Lukas und Joh für Johannes.

1 Vgl. mit ausführlichen Literaturangaben Scherer, H., Königsvolk und Gotteskinder. Der Entwurf der sozialen Welt im Material der Traditio duplex (BBB 180), Göttingen 2016, 19–104.

2 Zu den deutschsprachigen Lehrbüchern vgl. Scherer, H., Learning Lessons on Q. The 2DH and Q in Academic Teaching, in: Tiwald, M. (Hg.), The Q Hypothesis Unveiled. Theological, Sociological, and Hermeneutical Issues behind the Sayings Source (BWANT 225), Stuttgart 2020, 254–273.

3 Zum Folgenden vgl. Baum, A. D., Einleitung in das Neue Testament. Evangelien und Apostelgeschichte, Gießen 2017, 549–647.

4 Vgl. Scherer, Lessons 268f.

5 Vgl. dazu aktuell den in Anm. 2 genannten Sammelband.

 

 

 


Hildegard Scherer

Prof. Dr. Hildegard Scherer (Jg. 1975) lehrt Neutestamentliche Wissenschaften an der Theologischen Hochschule Chur.