«Die Konsequenzen dieser Thesen sind gravierend»

Die Frage nach den literarischen Abhängigkeitsverhältnissen der kanonischen Evangelien ist in den letzten Jahren in Bewegung geraten. Die SKZ sprach mit Jan Heilmann über den Neuansatz des evangelischen Neutestamentlers Matthias Klinghardt.

Evv-Überlieferungsgeschichte. Vier-Evangelienbuch. Kanon. Ausgabe. Schluss (2021-02-02). (Copyright: Matthias Klinghardt)

 

SKZ: Matthias Klinghardt geht davon aus, dass es eine Sammlung von zehn Paulusbriefen und einem davor gesetzten Evangelium gab, das Marcion nutzte und dass von diesem Evangelium aus auch die anderen Evangelien entstanden sind. Welche Gründe sprechen für diese These?
Jan Heilmann*: Matthias Klinghardt begründet seine These in erster Linie mit Widersprüchen, die aus der Bewertung und Beschreibung des für Marcion bezeugten Evangeliums in der patristischen Literatur sichtbar werden. Seit der zweiten Auflage seines Buches bezeichnet er diesen Text übrigens mit dem Kürzel *Ev. Zahlreichen Kirchenvätern lag dieses Evangelium vor, und sie haben es mit dem kanonischen Lukasevangelium verglichen. Davon ausgehend warfen sie Marcion vor, dieser hätte das Lukasevangelium verstümmelt und verfälscht. Zugleich offenbart ihre Beschreibung dieses Evangeliums, dass Marcion bei seiner Redaktion sehr uneinheitlich und inkonsequent hätte vorgegangen sein müssen. Tertullian selbst reflektiert explizit die Inkonsistenzen zwischen dem vorliegenden Evangelientext und dem ihm unterstellten redaktionellen (Streichungs)Konzept: Marcion habe mit Absicht bestimmte Dinge, die seiner Theologie widersprechen, im Evangelium stehengelassen, um seine Streichungstätigkeit zu verschleiern.1 Der Verfälschungsvorwurf der Kirchenväter ist eindeutig mit einer Tendenz behaftet. Aus methodischen Gründen kann er daher nicht einfach unkritisch als wissenschaftliche Hypothese übernommen werden. Denn zusätzlich überliefert Tertullian auch die Position der Marcioniten, die ihrerseits einen Verfälschungsvorwurf gegen das Lukasevangelium vorgebracht haben. Aus der Sicht der antiken Zeugnisse steht Aussage gegen Aussage. Klinghardt macht nun eine wichtige Beobachtung an den Überschüssen und Unterschieden des kanonischen Lukasevangeliums im Vergleich zu *Ev. Die Textabschnitte und -veränderungen, die die Kirchenväter dem Streichungswillen Marcions zuordnen, weisen ein kohärentes redaktionelles Konzept auf. Daher geht er davon aus, dass *Ev nicht aus dem Lukasevangelium hervorgegangen ist, sondern umgekehrt dieses ältere Evangelium in einem redaktionellen Schritt zum Lukasevangelium erweitert wurde.

Das ist der Kern seiner These?
Man kann eigentlich nicht von einem Kern seiner These sprechen, vielmehr handelt es sich im Wesentlichen um zwei Problemkomplexe, die eng miteinander verknüpft sind. Die erste Frage betrifft die genannte Bearbeitungsrichtung zwischen *Ev und dem in den Handschriften überlieferten, kanonischen Lukasevangelium. Hier vertritt Klinghardt die These, dass das in den Handschriften überlieferte Lukasevangelium, das zum neutestamentlichen Kanon gehört, jünger ist als das für Marcion bezeugte Evangelium. *Ev wurde also in einem Überarbeitungsschritt zu dem uns bekannten, kanonischen Lukasevangelium. Aus dieser Umkehrung der Bearbeitungsrichtung folgt dann zwingend die zweite Frage nach der Bedeutung dieses älteren Evangeliums für das synoptische Problem bzw. die Entstehung der Evangelien insgesamt. Hier kommt Klinghardt zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem für Marcion bezeugten Evangelium um das älteste Evangelium handelt, von dem alle anderen kanonischen Evangelien literarisch abhängig sind.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Thesen für die Textgeschichte und Überlieferungsgeschichte der Evangelien?
Die Konsequenzen dieser Thesen sind gravierend: Geht man von der Priorität von *Ev nicht nur gegenüber dem Lukasevangelium, sondern auch gegenüber den anderen Evangelien aus, liegt damit eine Quelle für die synoptischen Evangelien vor, die sich deutlich sicherer rekonstruieren lässt als die aus der Zwei-Quellen-Theorie bekannte Quelle Q. Denn im Gegensatz zu Q, deren Existenz nicht durch externe Quellen verifiziert werden kann, hat es diesen Text nachweislich gegeben. Hinzu kommt, dass für Marcion ja nicht nur ein Evangelium bezeugt ist, sondern auch eine Sammlung von zehn Paulusbriefen. Nimmt man konsequenterweise auch hier an, dass Marcion die enthaltenen Paulusbriefe entgegen des Vorwurfs durch die Kirchenväter nicht verfälscht hat, liegen hier ältere Fassungen der Paulusbriefe vor, als sie uns in den Handschriften überliefert wurden.  

Wie kam Marcion zu dieser Schriftsammlung?
Dies ist eine Frage, die angesichts der mangelnden Quellenlage nicht eindeutig zu beantworten ist. Marcion könnte diese Schriften entweder in Rom schon vorgefunden haben oder mit diesen Texten in seiner Heimat in Kleinasien, vermutlich in der Provinz Bithynia et Pontus, in Kontakt gekommen sein. Von dort könnte er sie nach Rom mitgebracht haben. Die späteren Konflikte mit der römischen Gemeinde könnten dann dadurch ausgelöst worden sein, dass verschiedene Schriftgrundlagen zu divergierenden theologischen Sichtweisen führten. Einen Anhaltspunkt für diese These sieht Klinghardt darin, dass sich Formulierungen, die für «sein» Evangelium und «seine» (10) Paulusbriefe bezeugt sind, in den Handschriften der kanonischen Texte erhalten haben und mit guten Gründen jeweils als älteste Lesart interpretieren lassen.

Wie gross oder umfassend muss ich mir dieses *Ev vorstellen?
Es handelt sich um ein Evangelium, das so ähnlich aussieht wie das Lukasevangelium, aber nur etwa drei Viertel von dessen Text enthält. Es kommt aber z. B. ohne Geburtsgeschichten und ohne Täuferüberlieferung, Taufe, Stammbaum sowie Versuchung aus und beginnt mit einer Datierungsangabe und dem Wirken Jesu in Galiläa, und zwar mit dem Exorzismus in der Synagoge von Kapharnaum. Sicher bezeugt sind zahlreiche bekannte Erzählungen aus der synoptischen Tradition, z. B. grosse Teile der Feldrede, die Speisung der 5000, das Petrusbekenntnis und zwei Leidensankündigungen, die Verklärung Jesu, das Vaterunser, zahlreiche Gleichnisse und Heilungserzählungen, die Endzeitreden, die Passionserzählung mit Todesplan, Verrat des Judas, Vorbereitung und Durchführung des letzten Passahmahls, Verhör vor dem Hohen Rat, Prozess vor Pilatus, Kreuzigung, Tod und Begräbnis sowie dem leeren Grab.

Der deutsche, in London lehrende Religionshistoriker Markus Vinzent befasst sich auch intensiv mit der Bedeutung des Marcion für die Entstehung der Evangelien. Worin unterscheiden sich die Thesen von Vinzent und Klinghardt?
Matthias Klinghardt und Matthias Vinzent stimmen in dem Punkt überein, dass sie das Lukasevangelium für eine überarbeitete Fassung des für Marcion bezeugten Evangeliums halten. Mit dieser These, die auch schon im 19. Jh. vertreten wurde, stimmen übrigens auch Jason BeDuhn2 und Pier Angelo Gramaglia3 überein. Im Gegensatz zu Matthias Klinghardt geht Markus Vinzent aber davon aus, dass Marcion sein Evangelium nicht einfach nur übernommen hat, sondern er selbst der Verfasser des Evangeliums gewesen sei.4 Dieses habe er zusammen mit der von ihm zusammengestellten Sammlung von zehn Paulusbriefen und den sogenannten Antithesen, einem Buch dessen Inhalt wir nicht genau rekonstruieren können,5 herausgegeben. Damit verschiebt sich bei Vinzent die Datierung der Evangelienliteratur in die Mitte bzw. die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts. Klinghardt geht dagegen davon aus, dass «das älteste Evangelium» und die «vorkanonischen» Fassungen des Markus-, Matthäus-, und Johannesevangeliums irgendwann zwischen 90 und den 140er-Jahren entstanden sind.

Skizzieren Sie bitte kurz die literarische Entstehung und die literarischen Abhängigkeiten der einzelnen Evangelien nach der These von Matthias Klinghardt!
Von der Sache her handelt es sich bei Klinghardts Modell zur Erklärung der Evangelienentstehung um die Kombination einer Benutzungs- und einer Vorlagenhypothese. Das heisst, er geht davon aus, dass man das Verhältnis der Evangelien nicht unabhängig voneinander bzw. durch die Verwendung der gleichen schriftlichen oder mündlichen Tradition erklären kann. Die obenstehende Grafik sieht komplizierter aus, als sie in Wahrheit ist. Sie versucht einfach nur abzubilden, dass auf jeder der vier Entwicklungsstufen jeweils alle Prätexte verwendet und integriert werden. *Ev ist das älteste Evangelium, dieses nutzte der Verfasser des Markusevangeliums als Vorlage (1), der Verfasser des Matthäusevangeliums wiederum verwendete *Ev und Markus (2). Eine entscheidende Neuerung in Klinghardts Modell besteht darin, dass er, im Gegensatz zu den klassischen Entwürfen zum Synoptischen Problem, auch das Johannesevangelium integriert. Der Verfasser des vierten Evangeliums habe auf *Ev, Markus und Matthäus zurückgegriffen und, darauf basierend, in freiem literarischem Umgang seinen eigenen Evangelienentwurf gestaltet (3). Durch die Integration von Johannes gewinnt das Modell Klinghardts einen innovativen Erklärungswert für das kontrovers diskutierte Verhältnis zwischen Johannes und Lukas. Beide stehen bei Klinghardt nämlich in einem doppelt relationalen Abhängigkeitsverhältnis, woraus sich die Berührungspunkte zwischen den beiden Texten besser erklären lassen. Denn das Lukasevangelium sei in seiner kanonischen Form auch in Kenntnis des Johannesevangeliums entstanden (4). Wichtig ist nun aber zu betonen, dass die Entstehung von Markus, Matthäus und Johannes einen anderen Charakter haben als die Entstehung des kanonischen Lukasevangeliums. Bei den ersten dreien handelt es sich um einen weitgehend kreativen Schöpfungsakt eines literarischen Textes; das kanonische Lukasevangelium ist dagegen im Zuge einer redaktionellen Überarbeitung eines Textes entstanden, der in seinem Kern und Grundaufbau schon bestand und in dessen Zusammenhang auch andere Texte des Neuen Testaments redaktionell überarbeitet wurden.   

Wenn ich Klinghardt richtig verstanden habe, hat der Verfasser des Lukasevangeliums mit seinem Evangelium nicht nur ein weiteres Evangelium neben die anderen gestellt, sondern eine Evangeliensammlung geschaffen. Ist entsprechend hier die Endredaktion der Evangelien anzusetzen?
Genau. Klinghardts Beobachtungen an der Textüberlieferung des Neuen Testaments korrespondieren mit der These von David Trobisch, dass die Schriften des Neuen Testaments in einem einheitlichen Redaktionsschritt im 2. Jh. in Form von vier Teilsammlungen herausgegeben worden sind. D. h., in diesem Zuge wurde *Ev zum Lukasevangelium und letzteres über die Apostelgeschichte mit den Paulusbriefen und den Katholischen Briefen verzahnt. Überdies bekamen die anderen Evangelien ihre Verfasserzuschreibungen. Aus Klinghardts Sicht gibt es «unsere» (kanonischen) Evangelien nie einzeln, sondern immer nur im Kontext des gesamten Neuen Testaments.

Welches sind die zentralen Kritiken an der These von Klinghardt?
Die Thesen Klinghardts sind in Teilen der Forschung zunächst auf Zurückhaltung gestossen. Verständlicherweise v. a. bei Forscherinnen und Forschern, die selbst mit der Zwei-Quellen-Theorie arbeiten. Vereinzelte kritische Anfragen kamen aber auch aus der Textkritik. Kritisch angefragt wird, inwiefern die Überlieferungslage eine Rekonstruktion von *Ev zulässt, auf deren Basis so weitreichende Schlussfolgerungen gezogen werden. Ausserdem gibt es Bedenken von Seiten der Textkritik, den textkritischen Befund bei Rekonstruktionsentscheidungen, bei denen nicht auf die Kirchenväter zurückgegriffen werden kann, heranzuziehen. Hierzu verweise ich explizit auf die ausführliche Auseinandersetzung von Klinghardt mit seinen Kritikern im Nachwort der zweiten Auflage seines Buches.

Inwiefern verändert diese These auch unsere bisherige Sicht des historischen Jesus und des Urchristentums und seiner Entwicklung?
Da die These Klinghardts die Zwei-Quellen-Theorie grundsätzlich in frage stellt, verändert sich auch die Sicht auf den historischen Jesus. Denn im Rahmen seines Modells stehen nicht mehr zwei unabhängige Quellen (Mk und Q) zur Rekonstruktion zur Verfügung, sondern nur noch eine: *Ev. Ausserdem verweist das Modell in einem grösseren Forschungskontext auf die Notwendigkeit, noch besser zu verstehen, wie und in welcher Form Literatur im frühen Christentum produziert und in welchen Kontexten sie rezipiert wurde. Beides gilt aber in gewisser Weise auch schon für ältere synoptische Benutzungshypothesen.

Während meiner Studienzeit wurde in der Einführung ins Neue Testament die Zwei-Quellen-Theorie gelehrt. Wohin wird sich die Lehre in den nächsten Jahren entwickeln?
Diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich selbst bin sehr gespannt, wie sich die Diskussion und damit auch die Integration der Diskussion in die Lehre entwickeln werden. Die These Klinghardts hat in jedem Fall das Potenzial, ein noch Mitte des 20. Jh. als gelöst verstandenes Problem noch einmal in einem ganz neuen Licht zu betrachten und den Studierenden zahlreiche eigenständige Entdeckungen zu ermöglichen.

Interview: Maria Hässig

 

* PD Dr. Jan Heilmann (Jg. 1984) ist Neutestamentler und vertritt im Studienjahr 2020/21 den Lehrstuhl für Neues Testament II an der Universität München.

1 Vgl. Tert. Adv. Marc. 4,43,7.

2 Vgl. BeDuhn, J., The First New Testament. Marcion’s Scriptural Canon, Salem, Oregon 2013.

3 Vgl. Gramaglia, P. A., Marcione e il Vangelo (di Luca). Un confronto con Matthias Klinghardt, Turin 2017.

4 Vgl. Vinzent, M., Marcion and the Dating of the Synoptic Gospels (StPatr.S 2), Leuven 2014.

5 May, G., Markions Genesisauslegung und die ‚Antithesen‘, in: May, G., Markion. Gesammelte Aufsätze, hrsg. von K. Greschat und M. Meiser, Mainz 2005, 43–50.

Buchempfehlung: «Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien.» Von Matthias Klinghardt. Bd. 1: Untersuchung, Bd. 2: Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten, Tübingen 22020.

BONUS

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