Unterwegs nach Emmaus: Eine katechetische «Leerstelle»

3. Sonntag der Osterzeit: Lk 24,13–35

Der Gang der beiden Jünger nach Emmaus ist wohl eine der bekanntesten Ostererzählungen. Bei näherer Betrachtung lassen sich darin einige oft vernachlässigte Details entdecken. Die Emmaus-Geschichte ist die erste Erzählung von einer Begegnung mit dem Auferweckten im Lukasevangelium. Bei Lukas wird weder den Frauen noch den Zwölf, sondern zwei ansonsten unbekannten Jüngern, dem Kleopas und einer namenlosen Person (einer Jüngerin?), die erste Erscheinung des Auferweckten zuteil. Und dies nicht in Jerusalem oder in Galiläa wie in den anderen Evangelien, sondern in Judäa, auf dem Weg aus der Stadt heraus in einen zu den unbekannten Jüngern passenden unbekannten Ort. Dahinter stecken weniger historische Erinnerungen als die Absicht, die Begegnung mit dem Auferweckten auch für «Nebenpersonen» der Jesus-Messias-Bewegung zu eröffnen: Kleopas und der/die namenlose Jünger/-in eignen sich wegen ihrer Nicht- Prominenz besser als Identifikationsfiguren als die «grossen Drei» (die Frauen) oder die «grossen Zwölf/Elf» (die Apostel).

Vom Wort zum Brot: biblisch-liturgische Grundstruktur

Die Erzählung weist enge Parallelen zur Brotvermehrungs- und Abendmahlsüberlieferung auf. In den Worten, mit denen Lukas in 24,30 vom Lobpreis Jesu und vom Brotbrechen erzählt, klingen Lk 9,16 und Lk 22,19 an. Damit setzt Lukas Brotvermehrung, letztes Abendmahl und Emmausmahl in eine inhaltliche Beziehung zueinander: Wenn Christus Brot bricht, werden alle satt, Begegnungen verwandeln sich von Trauer in Hoffnung, und Jesus wird in seiner Lebendigkeit, letztlich: als Messias und Sohn Gottes erkannt. Diese Grundstruktur entspricht gesamtbiblischer Theologie. Im Hintergrund stehen sättigende, Not lindernde und Hoffnung stiftende Mähler wie das Manna in der Wüste (Ex 16f), die Brotvermehrung des Elischa (2 Kön 2,42–44) und das endzeitliche Festmahl auf dem Zion (Jes 25,6–9).

Die narrative Struktur der Emmaus-Erzählung entspricht aber auch der Abfolge von jüdischem und christlichem Wortgottesdienst (Toralesung, Wortfeier usw.) und Mahlfeier (Brotsegnung/-brechen, Agape, Eucharistie). Zunächst werden Leben und Erinnerungen miteinander geteilt: Kleopas und der namenlose Jünger «sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte» (Lk 24,14). In der Begegnung mit dem Auferweckten werden diese Fragen vertieft und mit den persönlichen Lebenserfahrungen verbunden. Den Höhepunkt bildet das Brotbrechen. Erst jetzt erkennen die beiden ihren Begleiter als den Auferweckten – was zugleich darauf hinweist, dass er ihnen nicht in seiner vertrauten menschlich-körperlichen Gestalt begegnet ist.

Eine religionspädagogische «Leerstelle»

Eine Schlüsselstelle ist Vers 27: «Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht.» Auffällig ist, dass Lukas zwar von der ganzen jüdischen heiligen Schrift1 spricht, aber keine einzige Schriftstelle zitiert, obwohl er das an vielen anderen Stellen seines Doppelwerkes ausführlich tut. Dies ist eine religionspädagogische «Leerstelle», die Leserinnen und Hörer damals und heute zu der Frage anregen will: Welche Schriftstellen könnte der – noch unerkannte – Begleiter der Jünger wohl anführen? Hier bestehen unzählige Ansatzpunkte für eine Interpretation des Lebens, des Sterbens und der Auferstehung Jesu im Lichte des Alten Testaments. Lukas wünscht sich offenbar, dass sich die Lesenden und Hörenden selber auf die Suche machen und so zu ihrer persönlichen Schrift- und Glaubenserkenntnis kommen.2

Lukas selber könnte an folgende Texte gedacht haben: Das vierte der sog. Gottesknechtslieder (Jes 52,13–53,12) ist ein Schlüsseltext, der den ersten Christinnen und Christen unschätzbare Dienste bei der persönlichen Bewältigung und theologischen Interpretation des Todes Jesu geleistet hat. Bei Jesaja ist von einem Knecht JHWHs die Rede, der nach unermesslichem Leiden und Tod doch noch Rettung und Licht erfährt und «viele Völker in Staunen» versetzt (Jes 52,15). Rückblickend wird sein Leiden deshalb als stellvertretendes, Heil bringendes Leiden erkannt. Auf wen das vierte Gottesknechtslied im historischen Kontext bei Deuterojesaja anspielt, ist unklar. Prophetische Texte waren seit jeher für spätere Aktualisierungen offen – so auch in der neutestamentlichen Christologie, die mit Hilfe solcher Texte die Schriftgemässheit gerade des Leidens Jesu erkennt (vgl. z. B. Jes 53,7f in Apg 8,32f). Änliches gilt für die Psalmen 22 und 69, die enge Berührungspunkte mit den Erzählungen von der Passion Jesu aufweisen.

Das Buch Jona trägt weitere Aspekte bei: Das «Zeichen des Jona» wird schon in Lk 11,29–32 erwähnt und steht für die wunderbare Errettung des Propheten aus dem Bauch des Fisches – was im frühen Christentum symbolisch mit der Auferweckung Jesu aus dem Tod in Verbindung gebracht und deshalb auch in der frühchristlichen Kunst zu einem weit verbreiteten Bildmotiv wurde.

Schliesslich verweist auch der «dritte Tag» (Lk 24,21) auf fast sprichwörtliche alttestamentliche Hoffnungen: Der dritte Tag steht für das rettend-offenbarende Eingreifen JHWHs (vgl. Gen 42,17f; Ex 19,11; Hos 6,2). Die Auferweckung Jesu am dritten Tag ist deshalb nicht nur eine Datumsangabe, sondern drückt auch ein Glaubensbekenntnis an den rettenden Gott Israels aus.

Verkündigung heute mit der Emmaus-Erzählung sollte darauf hinarbeiten, dass die Auferweckung Jesu in ihren tiefen theologischen Zusammenhängen mit dem Alten Testament entdeckt werden kann: Es ist der von Mose, Propheten und Schriften bezeugte Gott Israels, der Jesus über den Tod hinaus treu bleibt und auferweckt. Die Auferweckung Jesu ist etwas gänzlich Neues und zugleich etwas uralt Bekanntes: Denn niemand weiss besser als das Volk Israel, wie hartnäckig, kreativ und überraschend JHWH für das Leben einsteht.

 

 

 

1 Tora, Nebiim und Ketuvim.

2 Lukas hatte eine ähnliche «Leerstelle» gesetzt: Bei der sog. Antrittspredigt Jesu in Nazaret zitierte er «gegengleich» zur Emmaus-Erzählung die Schriftstelle, um dann aber nur den ersten Satz der Predigt Jesu folgen zu lassen (Lk 4,16–21). In der Emmaus-Erzählung macht er es umgekehrt und fasst die Erläuterungen Jesu inhaltlich zusammen («Musste nicht der Messias all das erleiden …?» (Lk 24,26), bleibt dann aber die schriftgelehrte Argumentation schuldig.


Detlef Hecking

Lic. theol. Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seit 2021 ergänzt er mit seiner bibelpastoralen Kompetenz das Team in der Abteilung Pastoral des Bistums Basel.