Für eine Kultur der Begleitung

Die veränderte Tonlage, die Amoris Laetitia (AL) in die Pastoral einbringt, verweist auf einen Paradigmenwechsel. Papst Franziskus zeigt sich mehr als Prophet denn als Gesetzeslehrer.

Ohne Umschweife wird das Evangelium von Ehe und Familie (60; 76; 89) bestätigt, als Aufruf an alle Menschen guten Willens (63): Wir sind alle zur Freude der Liebe aufgefordert. Dieser Paradigmenwechsel, der die Offenbarung als eine Berufung begreift, führt zu einem vertrauensvollen und umfassenden Blick auf die Situation bei Paaren und Familien. Der neue Stil lädt dazu ein, den illusorischen Traum einer Norm aufzugeben, der eine Bewertung von Verhaltensweisen von aussen und ohne Nuancen erlauben würde (35–38).*

Erstrebenswerte gute Nachricht

Der positive Zugang ist konstitutiv für die Grundhaltung des «Aufnehmens» (accueil, Spanisch acogida), grundlegend für die drei Konzepte des Begleitens, Unterscheidens und Eingliederns, und begründet die Leben (er)zeugende Pastoral, wie sie Jesus in allen seinen Begegnungen gelebt hat. Es ist die Anerkennung des Wirkens des Geistes in allem, wie auch immer der Kontext sei, in welchem wir uns befinden (76–78). Die Rolle der Seelsorgenden ist dabei wie ein fotografisches «Ans-Licht-bringen» des Gnadenaktes, der uns vorausgeht, und der Werte, welche schon jene in sich tragen, denen wir begegnen. Wir sind eingeladen, die «gute Nachricht von der Familie» (36) erstrebenswert zu gestalten, indem wir auf die «Sehnsucht nach treuer Liebe und der Familie» setzen, welche lebendig bleibt.

Pastorale Doktrin

Hingabe und Barmherzigkeit. Diese Begriffe finden sich wie Leitmotive: die Gnade des liebenden dreieinigen Gottes, der sich schenkt (61–62) und die Barmherzigkeit, die Nähe einschliesst von allen, die sich auf Christus berufen. Das Prinzip Barmherzigkeit ist das «pulsierende Herz» der christlichen Lehre (309) als Prinzip der Compassion, das die «Logik des Evangeliums» mit der Lehre (297) und mit der «Logik der Pastoral» (307–312) verbindet. Wie es Kardinal Schönborn sagt: «Die Lehre ohne Pastoral ist nur eine ‹lärmende Pauke› (1 Kor 13, 1). Die Pastoral ohne Lehre ist nur ‹was die Menschen wollen› (Mt 16, 21). Die Lehre ist in erster Linie die Gute Nachricht: ‹Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben hat› (Joh 3,16). Es ist die Verkündigung der fundamentalen Wahrheit des Glaubens: Gott hat Barmherzigkeit geübt.»1

Göttliche Pädagogik. Statt unversöhnlicher Gegensätze geht es also darum, ohne irreale Idealisierung das herausfordernde Ideal vorzuschlagen und – auf die Gnade hin offen – zugleich «die mitfühlende Nähe zu den Schwachen» (35–38) zu leben.2 Es sind die beiden Facetten desselben Geheimnisses unverdienter Gnade, die göttliche Pädagogik der Gnade in unserem Leben (297).

Weder rigoros noch lax. Franziskus verwirft so zugleich die rigorose und laxe Haltung: sowohl eine rigide Pastoral, die vorgibt, alles durch allgemeine Normen zu regeln (AL 308), wie auch eine Pastoral der Konzession, die zur Meinung führte, die Kirche «vertrete eine Doppelmoral» (300).

Missionarische Umkehr. Wie diese Art von Dilemma überschreiten? Es braucht dazu eine lehrmässige und pastorale Umkehr, einen wirklichen «Aufbruch»3 zu Begegnungen, die es inmitten der «zahllosen Unterschiede der konkreten Situationen» (AL 300) erlauben, achtsam gegenüber dem Guten zu sein, «das der Heilige Geist inmitten der Schwachheit und Hinfälligkeit verbreitet» (308)4.

Es muss zur wirklichen Begegnung mit Personen kommen, welche je auf ihr eigenes Gewissen verwiesen sind (37). Im Übrigen stützt der Pontifex seine Reflexion auf die theologische Tradition, die in die gleiche Richtung geht. Thomas bestätigt, dass die Lehre, die als Norm betrachtet wird, angesichts der partikulären Situationen der Existenz ungenügend ist: «Je mehr man in die Details gelangt, umso mehr vervielfachen sich die Ausnahmen.»5

Von daher das «Gesetz der Gradualität» (293– 295), das der pastoralen Lehre vorausgeht und erlaubt, unter allen Umständen «das mögliche Gute» (308) zu suchen. So ist das Ehesakrament nicht eine Belohnung, sondern ein kostbares Zeichen der Liebe Gottes, immer unvollkommen verwirklicht: «Man sollte nicht zwei begrenzten Menschen die gewaltige Last aufladen, in vollkommener Weise die Vereinigung nachzubilden, die zwischen Christus und seiner Kirche besteht» (122).

Die Schrift als Reisegefährtin. Auf diesem Weg zeigt sich das Wort Gottes nicht wie eine Abfolge von abstrakten Thesen, sondern als «Reisegefährte», auch für Familien in der Krise oder in Not, und zeigt allen das Ziel des Weges (22). Darum sind verschiedene Kompetenzen zu kultivieren.

Sehen lernen

Eine kontemplative Pastoral. Im Sinne von Franziskus gilt es, zuerst in die Tiefe sehen zu lernen, um uns gegenseitig auf den Lebenswegen begleiten zu können. Denn «es ist eine tiefe geistliche Erfahrung, jeden geliebten Menschen mit den Augen Gottes zu betrachten und in ihm Christus zu erkennen» (323). Es bedeutet, hinter die Oberfläche der gelebten Erfahrung zu schauen, in Interaktion mit den Bereichen der Erziehung und Kultur, der Arbeit, der Wirtschaft und Politik, in Zusammenarbeit mit den Humanwissenschaften. «Wenn ich von nun an einer Person oder einem Paar begegne, ist die Frage nicht so sehr, ob ihre Situation ‹regulär› ist oder nicht, sondern ob ihr Weg im Wachsen ihrer Liebe begangen wird. Denn es gibt nichts Schlimmeres als den ‹geistlichen Rheumatismus› jener, die sich für ‹tip top in Ordnung› halten»6.

Auf allen Etappen. Es ist dieser kontemplative Blick, den Franziskus entlang der Haltungen aus dem Hohen Lied der Liebe bei Paulus (1 Kor 13) entwickelt, Perlen des Rosenkranzes vergleichbar (90–119). Die Jugendkatechese ebenso wie die ganze Familienpastoral sind eingeladen, diesen Blick auf die Freundschaft und die Liebe entlang ihrer Reifestufen zu kultivieren. Zum Beispiel bei der Ehevorbereitung, wo die Liebe durch die Gnade des Sakraments erhellt wird, was ebenso die Zärtlichkeit der Freundschaft wie die erotische Leidenschaft einschliesst (120); im Rahmen der erweiterten Familie, durch die Alltagsschwierigkeiten hindurch, um die Welt «häuslich und bewohnbar» zu gestalten (187–194) und endlich mit Blick auf den Wandel der Beziehung angesichts steigender Lebenswartung (163–164).

Ein differenzierter Blick. So lehrt uns der Papst, eine Art Phänomenlogie des Alltages erzählend, der bereits von der Gnade «bearbeitet» ist. Es ist richtig, dorthin zu gehen, wo die Leute sind, sie in einen differenzierten Blick zu nehmen (298) und die von den Familien bereits gelebten positiven Elemente wahrzunehmen, eingeschlossen jene, die das christliche Ideal nicht vollständig verkörpern. Und sie dazu zu führen, weiterzugehen.7 Tatsächlich ist die neu vorgeschlagene Haltung – weder rigoros noch zu lax zu sein – noch viel herausfordernder. Sie erfordert auch, nach Art eines «Fokus» das Auge unserer inneren Kamera anzupassen. Mit viel Beweglichkeit des Herzens und manchmal gar dem Verzicht auf unsere Massstäbe, kurz mit der dauernden Notwendigkeit, die via caritatis zu gehen.

Begleitung lernen

Gott begleitet uns. Eine weitere Schlüsselkompetenz, die von AL gepriesen wird: das Begleiten (lat. ad-cum-panis).8 Diese Haltung ist erforderlich, weil «Gottes Entgegenkommen den Weg der Menschen immer begleitet» (62).

Begleitung von allen und für alle. Weil die Eheleute nach lateinischer Tradition «Spender des Sakramentes» (75) sind, sind sie ebenso wirkliche «Diener der Erziehung» (85). Durch die Ehegnade werden sie selber «hauptsächliche Subjekte der Familienpastoral» (200). Zudem ist die ganze christliche Gemeinde zu dieser Begleitung beauftragt.9 Demnach müssen die Pastoralpläne aus der Familienpastoral eine fundamentale und allgemeine Sorge machen (200).

Eine fortschreitende Begleitung. Wie im pastoralen Blick, verändert sich die Begleitung von Paaren und Familien, dem folgend, was geistlich auf dem Spiel steht. Sie entfaltet sich so wie eine wirkliche Wegkatechese: die Zeit der Verlobung – die aufzuwerten ist; die Ehevorbereitung und ihre Einschreibung in den christlichen Initiationsweg (216); das Weiterverfolgen der ersten Jahre des Ehelebens besonders durch Heimgruppen wie die Équipes Notre-Dame; denn das Ehesakrament ist kein Ort der Ankunft, sondern des Starts (217–230). Es geht um die «Ehe als Weg der Reifung (…), wo jeder der Ehepartner ein Werkzeug Gottes ist, um den anderen wachsen zu lassen» (221); um die unvermeidlichen überwundenen Prüfungen (231–238) mit manchmal unerwarteter Rückkehr alter Verletzungen (239–240); um die Achtsamkeit gegenüber den Kindern, damit sie nicht Opfer der Schwierigkeiten werden (245–246), und schliesslich um die Erfahrung des Trauerns.

Bis ans Ende. Eine Begleitung auf Dauer erfordert Fingerspitzengefühl und Aufmerksamkeit in vielschichtigen Situationen, indem die Personen konstant auf ihr Gewissen verwiesen werden, welches «gebildet und von der verantwortlichen Urteilsfähigkeit des Hirten begleitet» wird (247–253).10 Die Begleitung muss bis ans Ende dauern und Hilfe sein zur Durchquerung von Krisen (griech. krinô, entscheidendes Urteil), weil jede von ihnen «eine gute Nachricht (birgt), die zu hören man lernen muss, indem man das Ohr des Herzens verfeinert.» (232).

Einige pastorale Implikationen

Was bereits existiert. Es ist unerlässlich, zunächst alles, was sich bereits tut, zu intensivieren: diözesane Projekte der Familienpastoral; Erwachsenenkatechese, um den Eltern ihren erzieherischen Dienst ausüben zu helfen; Unterstützung von Heimgruppen.

Hören und Begleiten in der Ausbildung der Seelsorgenden. Wenn das Hauptwort «differenzierte Begleitung» lautet, heisst dies in einer integrativen und bunten Kirche, dass die Grund- und Fortbildung der Seelsorgenden im Zuhören und pastoral-spirituellen Begleiten verstärkt wird. Und dies namentlich mit Übungen der Relecture (durch Verbatim) und der Supervision im Stil des Clinical Pastoral Training im Bereich der Spital- und Klinikseelsorge.11

Interdisziplinäre Zusammenarbeit. Es empfiehlt sich in diesem Rahmen, die notwendige Zusammenarbeit mit anderen Akteuren als den Theologen und den Seelsorgenden zu etablieren, ohne den wesentlichen Wert der spirituellen Leitung und der sakramentalen Versöhnung zu schmälern (201–204).

Stetigkeit im Zuhören. Dies kann ebenfalls zur Schaffung von permanenten Orten des Zuhörens, von kirchlicher und multidisziplinärer Eheberatung führen, wie es sie bereits gibt – um eine wirkliche Nähe im Geiste des Evangeliums zu begünstigen. Ebenso durch den Aufbau von Gruppen zur Begleitung und zum Austausch über das Wort Gottes für Homosexuelle, Geschiedene und wiederverheiratet Geschiedene.

Ein Prozess des Wachsens für alle

Amoris Laetitia präsentiert sich so als die Umsetzung des Zweiten Vatikanischen Konzils und seiner Aufmerksamkeit für unsere geschichtlichen Bedingungen im Bereich der Familienpastoral. Die Begriffe «Zeit, Weg, Wachstum, Reifung, Strecke, Prozess» kehren unaufhörlich wieder. Der Aufbau der Liebe ist eine Dynamik, die es fein und ausdauernd zu begleiten gilt (325). Von daher der Aufruf, welcher den Text beschliesst und uns dazu drängt, niemals die Hoffnung auf das Wirken der Gnade aufzugeben: «Alle sind wir aufgerufen, das Streben nach etwas, das über uns selbst und unsere Grenzen hinausgeht, lebendig zu erhalten. (…) Gehen wir voran als Familien, bleiben wir unterwegs! Was uns verheissen ist, ist immer noch mehr.» (325).

 

Übersetzung: Stephan Schmid-Keiser

 

* Die Zahlen in Klammern verweisen auf die Nummern in Amoris Laetitia.

1 C. Schönborn, Le regard du Bon Pasteur, Bex/Paris, Parole et Silence, 2016, p. 86. Siehe auch www.erzdioezese-wien.at/site/menschenorganisation/lebendigekirche/familie/bischofssynodezurfamilie/article/45706.html (7. 10. 2015)

2 AL 38 schliesst: «Viele haben nicht das Gefühl, dass die Botschaft der Kirche über Ehe und Familie immer ein deutlicher Abglanz der Predigt und des Verhaltens Jesu gewesen ist, der zwar ein anspruchsvolles Ideal vorgeschlagen, zugleich aber niemals die mitfühlende Nähe zu den Schwachen wie der Samariterin und der Ehebrecherin verloren hat.»

3 Vgl. Evangelii Gaudium (EG) 20–26.

4 Mit Hinweis auf EG 45.

5 Saint Thomas D’Aquin, Somme théologique, IIa–IIae, q. 94, art. 4, cité en AL 304.

6 P. Martin Pinet, «Cheminons, familles!». Famille chrétienne, n. 2029, p. 47.

7 Vgl. AL 294: «Doch all diese Situationen müssen in konstruktiver Weise angegangen werden, indem versucht wird, sie in Gelegenheiten für einen Weg hin zur Fülle der Ehe und der Familie im Licht des Evangeliums zu verwandeln. Es geht darum, sie mit Geduld und Feingefühl anzunehmen und zu begleiten.» Anm. 322: Relatio Synodi 2014, 43.

8 Versuchen, das Brot miteinander zu teilen.

9 AL 202, 206, 207.

10 Vgl. AL 303.

11 In der Romandie vgl. www.chuv.ch = Centre hospitalier universitaire vaudois (CHUV).

François-Xavier Amherdt

François-Xavier Amherdt

Pfarrer Franz-Xaver Amherdt ist Professor für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Universität Freiburg.