Unterscheiden

Eine Pastoral, die nicht fein zu unterscheiden weiss, ist eine zum Scheitern verurteilte Pastoral. Die Notwendigkeit einer Unterscheidung, die der göttlichen offenbarten Wahrheit treu bleibt, bildet den tragenden Gedanken von Amoris Laetitia, nicht bloss des achten Kapitels.

Um Menschen in ihren konkreten Lebensschwierigkeiten wirklich in die Pastoral einzubeziehen, können die Seelsorgenden nicht einfach risikolos Glaubenssätze verkünden. Sie müssen sich selber einbeziehen lassen in das Ringen der Menschen um ein vor Gott verantwortbares Handeln und bereit sein, ebenso viel zu riskieren wie die begleitete Person. Papst Franziskus spricht in seinem Antwortbrief an die Bischöfe der Region Buenos Aires vom 5. September 20161 von einer Pastoral «cuerpo a cuerpo», was man als «Nahkampf-Pastoral» bezeichnen könnte, wörtlich «Körper an Körper».

Es geht um gemeinsames Ringen

Der Papst unterscheidet zwischen solchen, die ohne persönliches Risiko von der Kanzel herab Wahrheiten verkünden, und solchen, die die Wege der Menschen inmitten ihrer Schwachheit und Hinfälligkeit zu begleiten wagen und dabei die Gefahr nicht scheuen, «sich mit dem Schlamm der Strasse zu beschmutzen». Jesus «hofft», so erklärt er, «dass wir darauf verzichten, unsere persönlichen oder gemeinschaftlichen Zuflüchte zu suchen, die uns erlauben, gegenüber dem Kern des menschlichen Leids auf Distanz zu bleiben, damit wir dann akzeptieren, mit dem konkreten Leben der anderen ernsthaft in Berührung zu kommen und die Kraft der Zartheit kennenlernen. Wenn wir das tun, wird das Leben für uns wunderbar komplex».2 In keinem Augenblick stellt Papst Franziskus in Frage, dass es Handlungen gibt, die in sich und immer schlecht (intrinsice malae) sind, ungeachtet der damit verbundenen Absichten und Umstände. Doch er gibt zu bedenken, dass ein Mensch, der eine solche in sich schlechte Tat begeht, in seiner Freiheit oder Zurechnungsfähigkeit oder in seinem Gewissensurteil so sehr eingeschränkt sein kann, dass kein schwerwiegender Bruch mit Gott stattfindet.

In einer Aussprache anlässlich der Generalversammlung der Union der Generaloberen vom 25. November 2016 in Rom sagte Papst Franziskus: «Die Ausbildung und Begleitung auf dem Weg zum Priestertum benötigt Unterscheidung. Zurzeit ist dies eines der grössten Probleme, die wir in der Priesterausbildung haben. In der Bildung sind wir an Formeln gewohnt, an Schwarzes und Weisses, aber nicht an die Grautöne des Lebens. Und das, was zählt, ist das Leben, nicht die Formeln. Wir müssen in der Unterscheidung wachsen. Die Schwarzweiss- Logik kann in der kasuistischen Abstraktion enden. Unterscheiden hingegen bedeutet, im Grau des Lebens gemäss dem Willen Gottes voranzugehen. Und den Willen Gottes sucht man gemäss der wahren Lehre des Evangeliums und nicht in der Starrheit einer abstrakten Doktrin.»3

Ein Passus aus dem zweiten Kapitel nimmt zweifelsohne eine zentrale Stellung im ganzen Dokument ein: «Wir tun uns ebenfalls schwer, dem Gewissen der Gläubigen Raum zu geben, die oftmals inmitten ihrer Begrenzungen, so gut es ihnen möglich ist, dem Evangelium entsprechen und ihr persönliches Unterscheidungsvermögen angesichts von Situationen entwickeln, in denen alle Schemata auseinanderbrechen. Wir sind berufen, die Gewissen zu bilden, nicht aber dazu, den Anspruch zu erheben, sie zu ersetzen».4 Es ist kein Weg, den Menschen unverdauliche Glaubenswahrheiten einzutrichtern, sondern sie freiheitsfördernd so zu begleiten, dass sie sich nach und nach der Wahrheit öffnen und sie verinnerlichen. Das persönliche Unterscheidungsvermögen ist und bleibt unersetzbar.

Wenn die Seelsorgenden mit komplexen, unvollkommenen und zerbrechlichen Situationen konfrontiert werden, ist die Unterscheidung vital und hat erste Priorität. Denn dort sind alle vorfabrizierten und standardisierten Kriterien unbrauchbar und unwirksam: «Aufgrund der Bedingtheiten oder mildernder Faktoren ist es möglich, dass man mitten in einer objektiven Situation der Sünde – die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist – in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt».5

Unterschiedliche Schlussfolgerungen bei Johannes Paul II. und Franziskus

Um keine Trübung des von Christus dargestellten Bildes der Treue und eine Verwirrung bezüglich der Unauflöslichkeit zu riskieren, hat Johannes Paul II. in Familiaris consortio 84 nur die Möglichkeit der sexuellen Enthaltsamkeit eingeräumt und verfügt, dass die anderen wiederverheirateten Geschiedenen nicht zu den Sakramenten zugelassen werden dürfen. Papst Franziskus hat hier anders entschieden. Er schliesst nicht aus, dass andere wiederverheiratete Geschiedene, auf Grund ihrer sehr besonderen Umstände und nach eingehender pastoral begleiteter Unterscheidung, sich entscheiden können, die Sakramente zu empfangen. Zwei Jahre nach Familiaris consortio trat im November 1983 der CIC in Kraft. Er regelt in Canon 915, wann jemand zur Kommunion nicht zugelassen werden kann. Es ist verständlich, dass die späteren Dokumente des Apostolischen Stuhls, gestützt auf Familiaris consortio, diesen Canon auf die wiederverheirateten Geschiedenen angewandt haben.

Diese Ordnung hat Papst Franziskus mit Amoris laetitia geändert. Da die einzelnen, persönlichen Situationen sehr komplex und sehr verschieden sind und ein Mensch «mitten in einer objektiven Situation der Sünde – die nicht subjektiv schuldhaft ist oder es zumindest nicht völlig ist – in der Gnade Gottes leben kann»,6 ist der höchste Gesetzgeber der Kirche der Überzeugung, dass in diesem Bereich keine allgemeingültigen Normen möglich sind. Daraus folgt, dass c. 915 nicht mehr auf die wiederverheirateten Geschiedenen anwendbar ist. Es geht hier nicht mehr um Zulassung oder Nichtzulassung seitens der kirchlichen Amtsträger, sondern um eine ernste Entscheidung der Betroffenen selber. Und dafür brauchen sie eine äusserst differenzierte Begleitung seitens der Seelsorgenden.

Das Schreiben der Bischöfe der Region Buenos Aires

Die Anwendungshilfe7 für Amoris Laetitia von den Bischöfen der Region Buenos Aires hat ein besonderes Gewicht, denn Papst Franziskus kommentierte sie postwendend so: «Das Schreiben ist sehr gut und erklärt genau den Sinn des VIII. Kapitels von Amoris Laetitia. Es gibt keine andere Interpretation. Ich bin sicher, dass dieses Schreiben viel Gutes bewirken wird.»8 Das Schreiben kann in zehn Punkten zusammengefasst werden:

1. Eigentliches Thema ist nicht eine eventuelle Erlaubnis für den Sakramentenempfang, sondern der pastorale Weg der Unterscheidung, der zugleich ein Weg des Gewissens und ein Weg des begleitenden Seelsorgers ist.

2. Die Hauptaufgabe der Begleitung besteht darin, die persönliche Begegnung mit dem lebendigen Christus zu erneuern und zu fördern.

3. Es geht um die Ausübung der pastoralen Liebe.

4. Der Unterscheidungsweg ist ergebnisoffen. Er muss nicht zwingend in den Empfang der Sakramente münden.

5. Wenn es die Umstände erlauben (z. B. wenn sich beide Betroffenen auf einem Glaubensweg befinden), kann man ein Leben in Enthaltsamkeit vorschlagen. Amoris Laetitia ignoriert aber die Schwierigkeiten einer solchen Lösung nicht und hält auch denjenigen die Tür zur Beichte offen, die es nicht schaffen, diesen Vorsatz einzuhalten.

6. Dazu gibt es noch komplexere Situationen, namentlich dort, wo einerseits die Voraussetzungen für ein Ehenichtigkeitsverfahren nicht vorhanden sind und andererseits die sexuelle Enthaltsamkeit nicht möglich ist. Selbst hier ist gemäss Amoris Laetitia nicht nur ein Unterscheidungsweg möglich, sondern auch die Möglichkeit des Empfangs der Eucharistie und der Versöhnung, falls sich herausstellt, dass Verantwortlichkeit und Schuldhaftigkeit vermindert sind. Dies gilt besonders dann, wenn ein Betroffener überzeugt ist, dass er sich sonst eines neuen Vergehens schuldig machen würde, etwa dass er den Kindern aus der neuen Verbindung schaden würde. Die Sakramente helfen ihm in dieser Situation, mit der Kraft der Gnade weiter zu reifen und innerlich zu wachsen.

7. Es muss andererseits vermieden werden, dass diese Möglichkeit als uneingeschränkter Zugang zu den Sakramenten missverstanden wird, so als ob jede Situation diese Möglichkeit rechtfertigen würde.

8. Es muss eine ganz ernste Gewissenserforschung vor Gott erfolgen, und das Ärgernis muss vermieden werden.

9. Gefordert ist weiter Diskretion, um Konflikte zu vermeiden, aber auch eine Begleitung der kirchlichen Gemeinschaft, damit sie selber zu einer differenzierten Beurteilung fähig wird.

Wer nicht unterscheidet, scheitert

Der zehnte und letzte Punkt des Schreibens verdient gesondert behandelt zu werden: «Die Unterscheidung muss immer weitergehen: ‹Sie ist dynamisch und muss stets für neue Phasen des Wachstums und für neue Entscheidungen offenbleiben, die es erlauben, das Ideal auf vollkommenere Weise zu verwirklichen› (303). Es geht um ‹das Gesetz der Gradualität› (295), im Vertrauen auf die Hilfe der Gnade.»9

Wie bereits betont, geht es bei der erforderlichen Unterscheidung darum, die konkreten Situationen und persönlichen Umstände adäquat zu berücksichtigen. Diese verändern sich, in keinem Moment der Lebensgeschichte bleiben sie fixiert. Das kann auch heissen, dass die gläubige Person anfänglich vor Gott überzeugt ist, dass sie die Sakramente als Gnadenmittel empfangen darf und soll, diese Überzeugung aber später in Frage stellt, auf Grund einer vertieften Gewissenserforschung oder der Veränderung der Umstände. In einer «Körper-an-Körper-Pastoral» muss auch der Seelsorger sich selbst diese Frage stellen, um wirklich verantwortungsvoll zu begleiten. Papst Franziskus hat klargemacht, dass pastorale Liebe etwas anderes ist als bequemer oder furchtsamer Relativismus.10

Umsetzung von Amoris Laetitia in der Schweiz

Nüchtern betrachtet muss man eingestehen, dass in Sachen Sakramentenempfang von wiederverheirateten Geschiedenen nicht immer eine feine theologisch-professionelle Unterscheidung vorgenommen worden ist. Einige Seelsorgende haben ohne grosse Differenzierung die Zulassung kategorisch verweigert. Viele andere wiederum haben die Gläubigen einfach beruhigt und gesagt, sie könnten bedenkenlos die Sakramente empfangen. In beiden Fällen hat man sich als Seelsorger dispensiert von jenem Ringen, jenem pastoralen «Nahkampf», und erst recht von einem andauernden Ringen vor Gott. Amoris Laetitia hat ein neues Zeitalter eröffnet und ist in diesem Sinne revolutionär. Ab sofort kann man sich nicht mehr mit einer billigen Lösung begnügen. Es ist die Zeit der Unterscheidung. Sie fordert uns alle heraus, und wie!

In seinem Antwortschreiben an die Bischöfe von Buenos Aires brachte der Papst die Dringlichkeit der Ausbildung der Priester betreffend die Unterscheidungsfähigkeit zur Sprache: «Annehmen, begleiten, unterscheiden, integrieren. Die Unterscheidung ist von diesen vier pastoralen Haltungen diejenige, die am wenigstens gepflegt und praktiziert wird. Ich erachte es als dringend, in den Seminaren und im Presbyterium alle persönlich und gemeinschaftlich in der Unterscheidung auszubilden.»11 Im Dezember 2016 wurde in Rom die neue Ratio fundamentalis institutionis sacerdotalis veröffentlicht. Die Schweizer Bischofskonferenz ist jetzt vor die Aufgabe gestellt, auf dieser Basis eine neue nationale Studienordnung zu erlassen, die die angehenden Seelsorgenden zu Experten in der Unterscheidung heranbildet. Die neue Ratio fundamentalis hat diesen Anspruch ausdrücklich formuliert: «Das voranschreitende innere Wachstum auf dem Weg der Ausbildung muss nämlich hauptsächlich darauf abzielen, den künftigen Priester zu einem ‹Mann der Unterscheidung› zu machen, der fähig ist, die Wirklichkeit des menschlichen Lebens im Lichte des Geistes zu interpretieren und so dem göttlichen Willen gemäss zu wählen, zu entscheiden und zu handeln.» (RF 43).

1 Vgl. www.infocatolica.com/?t=ic&cod=27337

2 AL 308.

3 Vgl. www.corriere.it/cronache/17_febbraio_08/papa-francesco-si-c-corruzione-vaticano-ma-non-perdo-serenita-938f52d2-ee18-11e6-a862-71d7d0cd9644.shtml

4 AL 37.

5 AL 305.

6 AL 305.

7 Vgl. www.infocatolica.com/?t=ic&cod=27336

8 Vgl. www.infocatolica.com/?t=ic&cod=27337

9 Vgl. www.infocatolica.com/?t=ic&cod=27336

10 Vgl. AL 307.

11 Vgl. www.infocatolica.com/?t=ic&cod=27337

Joseph M. Bonnemain (Bild: kipa-apic.ch)

Joseph M. Bonnemain

Kanonikus Msgr. Dr. med., Dr. iur. can. Joseph M. Bonnemain ist Bischofsvikar und Offizial der Diözese Chur sowie Domkantor in Chur.