Relevant für die Weitergabe des Glaubens

Das Bild der «Schmerzensmutter» Maria gibt vielen angesichts eigener Not Hoffnung auf Heil und Erlösung, ohne dabei Leid, Ungerechtigkeit und Tod in dieser Welt zu negieren. Maria wird zum Vorbild im Glauben.

Pietà aus dem Süddeutschen, datiert 1763, unbekannter Künstler. (Bild: pixelio.com)

 

 

Maria, die junge Frau aus Nazareth, von der wir in historisch-kritischer Perspektive wenig wissen, von der aber eines der bedeutendsten Gebete der Geschichte christlichen Glaubens überliefert ist, das «Magnifikat» (Lk 1,46–55), ist von Beginn der christlichen Theologie und Frömmigkeit zu einem zentralen Bild des Glaubens und der Kirche geworden, ein «Bild», an dem Menschen ihren eigenen Glauben bilden konnten.

Die zwei neueren Mariendogmen

Das machen die beiden mariologischen Entscheidungen der Moderne deutlich, auch wenn der Zugang zu ihnen für viele Menschen heute nur schwer möglich scheint: 1854 promulgiert Pius IX. in seiner Bulle «Ineffabilis Deus» das Dogma von der ohne Erbsünde Empfangenen, der «immaculata conceptio», wie es der Volksmund formuliert, und Pius XII. erlässt 1950 in der Apostolischen Konstitution «Munificentissimus Deus» das Dogma von der Aufnahme Marias in den Himmel. Gott ist Mensch geworden, damit wir Kinder Gottes werden, um unseres Heilwerdens, unserer Erlösung und Befreiung willen. Gott hat sich «klein» gemacht, damit der Mensch «gross» wird.

Maria ist in diesem Sinn «Vorbild», von Anfang an ist sie von Gott gewollt und von ihm her «heil», das steht hinter dem Volksglauben und der dogmatischen Festlegung der Bewahrung Marias von der sog. «Erbschuld». Übersetzt in eine freiheitstheologische Perspektive: Der Blick auf Maria macht deutlich, dass es keine gottgewollte Notwendigkeit der Verstrickung in die Geschichten von Schuld und Sünde gibt. Es gibt eine «Unversehrtheit» von Gott her, die am Menschen aufgehen kann; dafür steht Maria, dafür steht das Dogma der Bewahrung Marias von der «Erbschuld». Die Verstrickungen in das Böse, in Schuld und Sünde, das Dunkle und der Tod haben auch nicht das letzte Wort; das steht hinter der dogmatischen Entscheidung von 1950: Maria wird «in den Himmel aufgenommen», das ist ein Hoffnungsbild der Zukunft, das an das Paradiesbild der ersten guten Schöpfung anknüpft. So sind die beiden Dogmen des 2. Jahrtausends Imaginationen und Symbolisierungen der Hoffnung, die aus dem Glauben an Gott, den Schöpfer und Herrn der Geschichte und Richter über alle Zukunft erwächst. Gott eröffnet dem Menschen in seiner Offenbarung in Jesus Christus Hoffnung, Sinn und Orientierung; er schenkt in Jesus Christus ein Bild vom ganzen, heilen Menschsein, das an Maria, der grossen Glaubenden, abzulesen ist. Dabei ist dies nicht das «Traumbild» einer «heilen Welt», sondern das Bild einer Frau, der ein «Schwert durch das Herz fährt» (Lk 2,35), die – so das Motiv der apokalyptischen Frau (Offb 12,1–6) – die Gewalt der Welt in ihrem Körper erfährt, deren Kind vom Drachen verschlungen werden soll, die dann in der Wüste lebt, indem sie Leben bereitet für einen anderen, Jesus Christus, in dessen Dienst sie steht.

Maria, das machen diese beiden Dogmen deutlich, ist Bild und Typus des von Gott gut erschaffenen und erlösten Menschen. Beide dogmatischen Aussagen gehören zusammen, sie stellen den Weg des Menschen in Gottes Geschichte hinein und stellen die Fragmente und Splitter menschlichen Lebens in einen grösseren Zusammenhang; der Raum Gottes lässt einen Lebenszusammenhang sehen, durch alle Schuld und Sünde hindurch, aus dem Vertrauen in das heilende, befreiende und erlösende Handeln Gottes, wie es sich in Jesus Christus ereignet hat und Hoffnung ist für alle, die ihr Leben in diesen weiten Gottesraum stellen. Von Gott her ist alle Sündenmacht der Geschichte durchbrochen.

Maria an der Seite der Menschen

In der Geschichte christlichen Glaubens ist das Bild der «Schmerzensmutter» von besonderer Relevanz geworden, ein Bild, das im Moment des abgrundtiefen Schmerzes auf eine Hoffnung hin öffnet, ohne dabei das Böse oder den Schmerz zu relativieren. Dieses Bild führt hinein in die Tiefe des christlichen Glaubens, in das, was Heil und Befreiung bedeuten; es hat in den unterschiedlichen Prozessen der Inkulturation christlichen Glaubens in allen Weltkontexten eine eigene Gestalt angenommen. Frauen in Lateinamerika, wie die «Madres del Dolor», Frauen in einem der Armenviertel von Buenos Aires, stellen uns so ihr Bild der «Schmerzensmutter» vor Augen. Ihre Geschichten sind geprägt von der Trauer um ihre ums Leben gekommenen Kinder, durch Drogen oder verschiedenste Formen von Gewalt. Dazu gehören Frauen, in Bürgerkriegszeiten vertrieben oder aus Armut und Not aufgebrochen, Migrantinnen, die Gewalt an ihrem eigenen Körper erfahren haben und die sich miteinander verbinden und ihrem Schmerz einen Ausdruck geben. In Argentinien, Peru, Mexiko oder vielen anderen Ländern der Welt sind es die Mütter, die um ihre verschwundenen Töchter trauern, verschleppt, zur Prostitution gezwungen, und die den auch heute weiter ausgreifenden «feminicidio» anklagen.

Eine Szene aus der Feier der Karfreitagsliturgie in der Capilla San Cayetano in der Diözese Merlo Moreno am nordöstlichen Rand von Buenos Aires hat sich in meiner Erinnerung eingegraben: Wir, eine Gruppe deutscher Theologinnen, hatten am Kreuzweg teilgenommen, der, einem Passionsspiel ähnlich, von Jugendlichen aus der Gemeinde vorbereitet wurde. Im Moment der Kreuzverehrung ist eine alte Frau, klein, schmächtig, zerbrechlich, in die Rolle der Maria geschlüpft; sie steht am Kreuz und sie nimmt das Kreuz mit dem Christuskorpus in Empfang, an dem die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Liturgie in Form eines Wortes oder eines Bildes das geheftet haben, was ihr Kreuz ist: Arbeitslosigkeit, Einsamkeit, sexuelle Gewalt, Missbrauch, fehlende Teilhabe, fehlende Bildungsmöglichkeiten usw. Maria nimmt das in Empfang, was die hier versammelten Schmerzensfrauen und Schmerzensmänner, die Schmerzenskinder und selbst die Schmerzensgäste aus dem fernen Norden mitbringen; sie beweint es und trägt es dann zu Grabe. In diesem Bild der «Schmerzensmutter» bündelt sich der Schmerz, das Leid angesichts von Gewalt und Not, angesichts von Abgründen des Bösen, die sich in der Geschichte gesammelt haben und weiter sammeln und die keine Theodizee «wegerklären» kann.

Maria, die Mutter, steht an der Seite des Sohnes in dem Moment, in dem alles «aus» zu sein scheint, und sie hält dann den Leichnam in ihren Armen. Ihr selbst geht ein «Schwert» durch das Herz (Lk 2,35), sie ist selbst von diesem Schmerz des Sohnes ganz getroffen. Passion und Com-Passion berühren sich hier, in aller Vulnerabilität verdichten sie sich zum tiefsten Ausdruck der Würde des Menschen. In der Volksreligiosität und ihren unterschiedlichen Formen – den bildlichen Umsetzungen, den Passionsspielen und ihren Inszenierungen, in Gedichten und Musik – hat sich hier ein Typus, ein Sinnbild, ausgeprägt, in dem Menschen – über die Jahrhunderte verbunden – christlichem Glauben und seiner Erlösungsdimension gerade angesichts aller Abgründe des Bösen einen Ausdruck gegeben haben.
 
Darum bleibt die Orientierung an den Bildern, mit denen Maria verbunden wird, von Relevanz für die Weitergabe des Glaubens heute. Maria ist «Typus des Glaubens» und «Typus der Kirche», wie bereits die Kirchenväter formuliert haben, diese Marienbilder ermöglichen den Suchenden unserer Zeit ein neues Sich-Vertiefen in den Glaubensweg und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte, ein Wachsen und Reifen und ein Sich-herausfordern-Lassen durch Gottes Wort, ein Sich-Bereiten für einen Ruf und ein neues Hören auf Gottes Wort. Maria hat darauf mit ihrem Gebet geantwortet hat: «Meine Seele preist die Grösse des Herrn.»

Margit Eckholt

 

Weiteführende Literatur

  • Eckholt, Margit, Frau aus dem Volk. Mit Maria Räume des Glaubens öffnen, Innsbruck 2015. Neue Zugänge zu Maria aus lateinamerikanischer Perspektive:
  • Bacher, Carolina, Spirituelle Sinngebungen und Praktiken im Wirken des Vereins «Madres del Dolor», in: Eckholt, Margit / Silber, Stefan (Hg.), Glauben in Mega-Citys. Transformationsprozesse in lateinamerikanischen Grossstädten und ihre Auswirkungen auf die Pastoral, Ostfildern 2014, 354–374.
  • Vélez Caro, Olga Consuelo, Stadt und Frau. Setzen auf Evangelisierung, in: ebd., 142–158.
  • Marialogia. Un caleidoscopio y variadas figuras, hg. von Virginia R. Azcuy, Córdoba 2022.

Margit Eckholt

Prof. Dr. Dr. h. c. Margit Eckholt (Jg. 1960) studierte katholische Theologie, Philosophie und Romanistik in Tübingen und Poitiers. Seit September 2009 ist sie Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Universität Osnabrück. Sie ist Leiterin des Stipendienwerkes Lateinamerika-Deutschland. Die Theologische Fakultät der Universität Luzern verlieh ihr 2019 den Ehrendoktortitel.