Umstrittene neue autokephale Kirche

Seit Jahrhunderten ist die Ukraine Grenzland zwischen Ost und West und war im Laufe ihrer Geschichte wechselnden historischen Einflüssen ausgesetzt. Das spiegelt sich in der religiösen Landkarte wider.

In der Ukraine lassen sich alle grossen christlichen Konfessionen sowie Muslime und Juden im Land antreffen. Die Christianisierung erfolgte gegen Ende des 10. Jahrhunderts aus Byzanz, weswegen die Orthodoxie auch heute noch die grösste Konfession darstellt. Nach dem Untergang des ersten Herrschaftsgebildes, der Kiewer Rus, gerieten die westlichen Landesteile ab dem 14. Jahrhundert unter polnisch-litauische Oberhoheit, während im Osten der Einfluss des Moskowiter Reichs wuchs. 1686 einigten sich das Zarenreich und Polen-Litauen auf eine Zweiteilung der heutigen ukrainischen Gebiete: die rechtsufrige Ukraine, westlich des Stroms Dnipro, gehörte zu Polen-Litauen; die linksufrige Ukraine dagegen zu Moskau. Dies hatte auch Einfluss auf die kirchliche Jurisdiktion: Sie wurde vom Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel auf das Moskauer Patriarchat übertragen. Noch komplexer wurde die religiöse Landkarte 1595/96 durch die Union von Brest, mit der ein Teil der orthodoxen Bevölkerung in Polen-Litauen sich unter Beibehaltung des östlichen Ritus der Oberhoheit des Papstes unterstellte.

Nach dem Ersten Weltkrieg gab es den ersten Versuch einer ukrainischen Staatsbildung, der jedoch nur von kurzer Dauer war. Damit einhergehend gab es auch Bestrebungen, eine eigene, von Moskau unabhängige – autokephale – Kirche zu gründen. Doch diese Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UAOK), die zunächst von den Bolschewisten toleriert worden war, konnte ab den 1930er-Jahren und endgültig ab 1945 nur noch im Exil wirken. Auch die anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften litten unter der antireligiösen sowjetischen Kirchenpolitik. So wurde die Griechisch-Katholische Kirche 1946 mit der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) zwangsvereinigt.

Ein neuer kirchlicher Pluralismus

Mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 veränderte sich nicht nur die politische Situation dramatisch, sondern auch die religiöse Landschaft. Bereits 1989 wurde die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGKK) wieder legalisiert, worauf viele orthodoxe Gemeinden in der Westukraine wieder zur Union übertraten. Aus der Emigration kehrte die UAOK zurück. Die ROK stand so vor einer doppelten Herausforderung: Nicht nur bedeutete der Übertritt vieler Gemeinden zur UGKK einen empfindlichen Aderlass, mit dem Auftreten der UAOK stellte sich auch wieder die Frage nach einer «nationalen» orthodoxen Kirche in der Ukraine. Die Kirchenleitung in Moskau reagierte darauf, indem sie der ukrainischen Orthodoxie 1990 eine Selbstverwaltung verlieh. Die Kirche hiess nun Ukrainische Orthodoxe Kirche (–Moskauer Patriarchat, UOK–MP). Die verliehenen Autonomierechte genügten einem Teil der orthodoxen Gläubigen und Bischöfe, die sich eine eigenständige orthodoxe Kirche erhofft hatten, jedoch nicht, so dass sie 1992 eine vom Moskauer Patriarchat unabhängige Kirche gründeten: die Ukrainische Orthodoxe Kirche–Kiewer Patriarchat (UOK–KP). Von den anderen orthodoxen Landeskirchen wurde jedoch nur die UOK–MP als rechtmässig anerkannt, dagegen galten die UAOK und die UOK–KP als nicht kanonisch. Die 1990er-Jahre waren so einerseits von Eigentumskonflikten zwischen den vier Kirchen der östlichen Tradition überschattet, andererseits entwickelte sich in politischer wie religiöser Hinsicht die Ukraine viel pluralistischer als Russland oder Belarus.

Die Proteste auf dem Majdan in Kiew 2013/14 sowie die anschliessende Annexion der Krim durch Russland und der bis heute andauernde Krieg im Donbass stellten auch für die Kirchen eine Zäsur dar. Vielfach solidarisierten sich kirchliche Vertreter mit den Protestierenden und standen ihnen als Seelsorger auf dem Majdan zur Seite. Die Kirchen fanden auch zu einem neuen ökumenischen Miteinander, so kritisierte der Allukrainische Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften mehrfach die eskalierende Gewalt und rief zu einem Dialog zwischen der Staatsmacht und den Demonstrierenden auf. Die «Revolution der Würde» führte zu einer intensiveren theologischen Reflexion über die Rolle der Kirche(n) in der Gesellschaft, so wurde auch von einer «Theologie des Majdan» gesprochen.

Der Konflikt mit Russland und der Krieg im Osten der Ukraine liessen allerdings bald wieder die Bruchlinien insbesondere zwischen den drei orthodoxen Kirchen aufscheinen. Staatliche Vertreter erwarteten von den Kirchen eine eindeutige Verurteilung der russischen Aggression und kirchliche Unterstützung beim Abwehrkampf. Während UOK–KP und UAOK den Staat bei diesem Anliegen unterstützen, äusserte sich die UOK–MP eher zurückhaltend. Zudem gab es einzelne Priester der UOK–MP, die offen die Position der Separatisten im Osten des Landes unterstützten. Dies brachte die UOK–MP in Verruf, eine «fünfte Kolonne» Moskaus in der Ukraine zu sein (obwohl binnenkirchlich eine Vielzahl an Positionen feststellbar ist), und liess gesamtgesellschaftlich den Wunsch nach einer geeinten autokephalen ukrainischen orthodoxen Kirche wachsen.

Eine unabhängige orthodoxe Kirche?

Vor diesem Hintergrund wandten sich im Frühling 2018 der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko und das Parlament mit der Bitte um Verleihung der Autokephalie an das Ökumenische Patriarchat. Unterstützt wurden sie dabei von der UOK–KP und der UAOK, während die UOK–MP vor einer Einmischung der Politik in kirchliche Angelegenheiten warnte. Poroschenko war keineswegs der erste ukrainische Präsident, der sich um eine unabhängige ukrainische Kirche bemühte, doch ging Konstantinopel nun erstmals auf die Bitte aus Kiew ein. In der Vergangenheit hatte es immer die Position vertreten, dass die einzige legitime orthodoxe Kirche in der Ukraine die UOK–MP sei und die beiden anderen orthodoxen Kirchen schismatisch seien. Zur Kursänderung dürfte auch die Verärgerung Konstantinopels über das Fernbleiben der ROK beim Panorthodoxen Konzil auf Kreta 2016 beigetragen haben.

Nach einem erfolglosen Gespräch zwischen Patriarch Bartholomaios und dem russischen Patriarchen Kirill Ende August 2018 erklärte das Ökumenische Patriarchat Anfang Oktober, die beiden Oberhäupter der beiden nicht kanonischen Kirchen wieder in ihren hierarchischen Stand einzusetzen und die kirchliche Gemeinschaft mit ihren Gläubigen wieder herzustellen. Die ROK reagierte auf diesen Schritt mit dem einseitigen Abbruch der eucharistischen Gemeinschaft mit Konstantinopel. Die weiteren Etappen auf dem Weg zur Gründung einer neuen autokephalen Kirche waren das sogenannte Vereinigungskonzil zwischen der UOK–KP und der UAOK am 15. Dezember, aus der die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) hervorging. Der neuen Kirche schlossen sich jedoch nur zwei Bischöfe der UOK–MP an. Am 6. Januar 2019 verlieh der Ökumenische Patriarch im Beisein von Präsident Poroschenko der OKU die Autokephalie.

Das Ökumenische Patriarchat begründete sein Eingreifen in der Ukraine u. a. mit der pastoralen Sorge um die Gläubigen, der Heilung eines Schismas, und erklärte, dass es 1686 keineswegs endgültig auf die Ukraine als ihr kanonisches Territorium verzichtet habe. Die ROK bzw. die UOK–MP sowie die meisten anderen orthodoxen Landeskirchen – ausser dem Patriarchat von Alexandria und der Kirche von Griechenland – erkennen bis heute den Entscheid Konstantinopels nicht an. Um die Autokephalie-Erklärung hat sich eine intensive innerorthodoxe Auseinandersetzung entwickelt, die komplexe ekklesiologische, kirchenrechtliche, pastorale und historische Aspekte umfasst. Zudem hat sich die ROK aus allen panorthodoxen Gremien zurückgezogen, so dass auch der ökumenische Dialog mit der Gesamtorthodoxie auf Eis liegt.

Mit der Abwahl von Poroschenko im April 2019, der sich stark für die Autokephalie eingesetzt hatte, ist eine nachlassende politische Einflussnahme auf die kirchliche Situation feststellbar. Für die innere Entwicklung der OKU wie der UOK–MP kann dies nur von Vorteil sein, denn beide Kirchen sind nun aufgerufen, auf die dringenden gesellschaftlichen Probleme der Ukraine Antworten zu finden. So werden auf absehbare Zeit zwei orthodoxe Kirchen in der Ukraine nebeneinander existieren.

Stefan Kube


Stefan Kube

Stefan Kube (Jg. 1978) studierte Katholische Theologie und Geschichte in Münster und Sarajevo. Seit 2009 ist er Chefredaktor der Zeitschrift «Religion & Gesellschaft in Ost und West», Zürich.

 

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