Neue Herausforderungen seit der Wende

Die Situation der Kirchen in den Ländern Ostmittel- und Osteuropas und ihr Verhältnis zum Staat sind ohne einen Blick in ihre jeweilige Geschichte nicht zu verstehen. Rudolf Prokschi bietet dazu einen Überblick.

Die unscheinbare Kirche Sweta Petka im mittelalterlichen Zentrum von Sofia wurde einst unter osmanischer Fremdherrschaft errichtet. (Bild: Wikipedia)

 

Der Fall der Berliner Mauer und die damit verbundenen politischen Umwälzungen in den Ländern des sogenannten Ostblocks haben sich wesentlich auf die Kirchen und ihr Auftreten im öffentlichen Raum ausgewirkt. Waren sie doch während der kommunistischen Herrschaft – wenn auch unterschiedlich – in ihren Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt und durften im gesellschaftspolitischen Diskurs kaum ihre Stimme erheben. Von der ursprünglichen Zielvorstellung Lenins, alle Religionen im Laufe einer kurzen Zeitspanne durch entsprechende Unterdrückungsmassnahmen gänzlich von der Bildfläche verschwinden zu lassen, waren die kommunistischen Machthaber in Russland – allen voran Stalin – spätestens während des Zweiten Weltkriegs abgekommen. Gerade weil die verbliebenen orthodoxen Amtsträger es waren, die in einer äusserst schwierigen Situation im «grossen vaterländischen Krieg» zur moralischen Mobilisierung aller Kräfte in der Verteidigung der Heimat aufriefen und selbst finanzielle Mittel für die Aufrüstung aufbrachten. Doch trotz einiger Zugeständnisse der orthodoxen Kirche gegenüber (Möglichkeit der Wahl eines neuen Patriarchen von Moskau, Wiedereröffnung von geistlichen Bildungsstätten) blieben die Handlungsmöglichkeiten der Kirchen stark eingeschränkt. Unter dem späteren Generalsekretär Nikita Chruschtschow verschlechterte sich die Lage für die Religionsgemeinschaften massiv, weil er viele kirchliche Gebäude beschlagnahmen liess, um sie entweder umzufunktionieren oder sie einfach abzureissen. Ausserdem wurde vor allem die Atheismus-Propaganda wieder neu angeheizt und der Kampf gegen die Kirchen unvermindert fortgesetzt. Diese Generallinie in der Religionspolitik war – wenn auch sehr unterschiedlich ausgeprägt – in den Ländern des Ostblocks vorherrschend.

Der Beitrag soll einen kompakten Überblick über die geschichtliche Entwicklung der Kirchen in Ostmittel- und Osteuropa nach dem Mauerfall geben, wobei der Fokus auf dem Verhältnis von Kirche und Staat liegen soll. Dabei scheint es mir wichtig, kurz die Stellung der Kirchen im jeweiligen Land vor der kommunistischen Machtergreifung in den Blick zu nehmen, um die spätere Entwicklung besser verstehen zu können.

Polen

Bewusst möchte ich mit Polen beginnen, weil gerade dieses Land m. E. einen Sonderfall darstellt, der kaum mit den anderen Ländern Ostmittel- und Osteuropas vergleichbar ist. Nicht nur, dass Polen schon vor der kommunistischen Machtergreifung eine starke katholische Bevölkerung hatte; auch während des Kommunismus konnte der Staat in keiner Phase die Aktivitäten der Kirche aus der Öffentlichkeit hinausdrängen, weil es insbesondere unter der Arbeiterschaft, die traditionell die Kernschicht des kommunistischen Systems stellte, eine unglaublich grosse Schar von Menschen gab, die sich öffentlich und aktiv zum katholischen Glauben bekannten. Bei aller atheistischen Religionspolitik im kommunistischen Polen konnte die katholische Kirche aufgrund ihrer beeindruckenden Anzahl von bekennenden Mitgliedern ihre Stellung im öffentlichen Leben – wenn auch innerhalb gewisser Grenzen – bewahren. Die Wahl des Krakauer Erzbischofs, Kardinal Karol Wojtyla, zum Papst in Rom war ein Ereignis, mit dem vermutlich kaum jemand in Polen gerechnet hatte und von dem sicher auch die politischen Machtträger überrascht waren. Nicht selten werden die Pastoralbesuche von Papst Johannes Paul II von Experten als wichtige Ereignisse angesehen, die zweifelsohne den Prozess der Auflösung des kommunistischen Systems wesentlich beschleunigten. Seit der Wende hat die katholische Kirche mit einem Säkularisierungsprozess in Polen zu kämpfen. Die staatlichen Organe sind nicht mehr der Widerpart und so setzt eine gewisse Liberalisierung ein: die grosse Zahl an Priester- und Ordensberufungen geht merklich zurück, der Anspruch der Kirche, aktiv in der Politik einzugreifen, wird von der Mehrheit der Polinnen und Polen abgelehnt.1

Rumänien

Rumänien wurde nach der Zusammenführung des alten «Regats» (Moldawien und Walachei) mit Siebenbürgen, der Bukowina und Bessarabien nach dem Ersten Weltkrieg zu «Grossrumänien», ein Königreich mit einer starken orthodoxen Bevölkerung, wobei aufgrund der Union von Siebenbürgen (1700) die Griechisch-Katholische Kirche in ihren angestammten Gebieten einen ansehnlichen Platz hatte. Darüber hinaus war auch die römisch-katholische und die evangelische Kirche lutherischer Prägung präsent. Nach der kommunistischen Machtergreifung wurde nach dem Vorbild der Westukraine die mit Rom unierte Kirche zwangsaufgelöst (1948) und ihre Kirchen und Besitztümer in die orthodoxe Mehrheitskirche integriert. Die Rumänische Orthodoxe Kirche konnte sich während des Ceausescu-Regimes eine Sonderstellung unter den Glaubensgemeinschaften bewahren, die ihr einen gewissen Handlungsspielraum sicherte. Nach der Wende und dem Eintritt Rumäniens in die Europäische Union ist das Land mit vielen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen konfrontiert. Durch die grosse Abwanderung von Fachkräften ins westliche Ausland bleiben im Land oft nur die ältere Generation und die Kinder zurück, was viele Schwierigkeiten nach sich zieht. Die Kirchen bemühen sich tatkräftig für die Menschen vor Ort, weil die Politik weitgehend versagt.

Bulgarien

Während der kommunistischen Herrschaft in Bulgarien wurde die staatliche Einmischung in innere Angelegenheiten der Kirchen legalisiert und damit eine rücksichtslose Kirchenverfolgung ausgelöst: Bischöfe und Priester wurden eingekerkert, Institutionen und Einrichtungen der Kirchen aufgelöst und Kircheneigentum verstaatlicht. Nach der Wende 1989 war zunächst von einem Kurswechsel in der staatlichen Kirchenpolitik wenig zu spüren. Erst langsam entwickelte sich die neu gewonnene Freiheit in allen Lebensbereichen. Der innerorthodoxe Streit um die Person des Patriarchen, der von einer Gruppe von Bischöfen wegen seiner Nähe zum kommunistischen Regime abgelehnt wurde, spaltete und lähmte durch Jahre hindurch die Bulgarische Orthodoxe Kirche, wobei der Staat in diesem Konflikt keine glückliche Rolle spielte. Aktuell haben sich die Beziehungen zwischen dem Staat und den Kirchen weitgehend normalisiert. Die bulgarische Kirche lehnt die ökumenische Annäherung ab und hat sich aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf zurückgezogen.

Tschechoslowakei und DDR

In der kommunistischen Periode zählten die staatlichen Massnahmen gegen die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Tschechoslowakei zu den schärfsten und konsequentesten. Insbesondere im ehemaligen Böhmen, wo es – bedingt durch die frühere Nähe der Kirche zu den herrschenden Habsburgern – in der Bevölkerung eine grosse Distanz zur katholischen Kirche gab. Anders war es in Mähren und vor allem in der Slowakei, wo sich im Untergrund ein gewisser Volkskatholizismus erhalten konnte, der nach der Wende und der anschliessenden Staatentrennung wieder auflebte. Böhmen und das ehemalige Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik zählen zu den Gebieten Europas, in denen der Anteil der Getauften insgesamt bei etwa 20 Prozent liegt. Das Verhältnis der katholischen Kirche zu der Regierung in Prag ist gekennzeichnet vom noch nicht bereinigten Konflikt über die Rückgabe des Kirchenbesitzes.2 In der ehemaligen DDR kämpfen die Kirchen gegen den weitverbreiteten Agnostizismus. Die ehemalige protestantische Volkskirche ist weitgehend verschwunden. Interessant ist, dass sich in manchen Gegenden die sogenannte Jugendweihe (ein säkulares Ritual anlässlich des Erwachsenwerdens) aus der Zeit des Kommunismus erhalten hat.

Rudolf Prokschi

 

1 Einen ausführlichen Beitrag zur Situation der römisch-katholischen Kirche in Polen bietet der Artikel «Der kirchliche Einfluss ist gross» in dieser Nummer.

2 Einen Einblick in die Situation der evangelischen Kirche in Tschechien bietet das Interview «Die Kirchen sind immer mehr auf sich selber gestellt» in dieser Nummer.

 

 


Rudolf Prokschi

Prof. i. R. Dr. Rudolf Prokschi (Jg. 1953) war von 1998 bis 2003 Lehrstuhl- bzw. Fachvertreter für Ostkirchengeschichte und Ökumenische Theologie an der Universität Würzburg. Von 2004 bis 2018 lehrte er als Universitätsprofessor für Patrologie und Ostkirchenkunde an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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